Alexander Kluge im Museum Folkwang: Mitspinnen, so gelenkig es eben geht
Chronist und Collagist Alexander Kluge hat seine erste Ausstellung und stellt dabei kühne Verbindungen zwischen historischen Ereignissen her.
Wie ein Dirigent steht Alexander Kluge inmitten des von ihm selbst entworfenen „Pluriversiums“, lenkt mit Händen und Worten die Aufmerksamkeit: „Sehen Sie hier: Tiere im Bombenkrieg. Und da drüben: ein angefahrener Elefant. Hier: Berichte zum G20-Gipfel – Afrika kommt nicht vor. Dort: Trump trifft Araber – über den Bildern liegt übrigens Anselm Kiefers Elefantenhaut.“ Und sein Publikum fragt sich gegenüber der Flut der fünffachen Projektion von Bild- und Toncollagen: Wären wir ohne die vertraute Stimme hier nicht völlig aufgeschmissen?
Der Chronist und Collagist Alexander Kluge, berühmt als Autorenfilmer und Fernsehmacher, versteht sich selbst in erster Linie als Schriftsteller und Erzähler. Nun hat er im Essener Museum Folkwang seine erste Ausstellung kuratiert. Mit 85 Jahren hat er sich also noch einmal einem neuen Medium zugewandt, um sein Gesamtkunstwerk fortzuführen.
Dieses Gesamtkunstwerk ist in alle Richtungen offen, so wie seine Interviews im eigenen Fernsehkanal dctp bei Ablauf der Sendezeit nicht zu einem Ende kommen, zu einer abschließenden Pointe, Moral oder Conclusio.
Alexander Kluge setzt der Geschichte der Mächtigen die Geschichten der Menschen und ihrer Gefühle entgegen, das ist seine Form, Adornos und Horkheimers „Kritische Theorie“ in die Gegenwart fortzuspinnen. Und der Besucher der Ausstellung, der muss mitspinnen, mitspielen, den Geist so gelenkig machen wie es eben geht.
Die Klugheit der Fußsohle
„Ausstellungen sind ideale Werkstätten für Neues“, findet Alexander Kluge. Nach der Einladung durch das Museum – „denn man bewirbt sich nicht selbst um eine Ausstellung“ – musste er selbst erst einmal Grundlagenforschung über das neue Medium betreiben: „Ich dachte, ich kann alles ausstellen, was ich schön finde. Das war ein Irrtum.“ Seine fertigen Bücher, Filme, Fernsehinterviews machten in diesem Kontext keinen Sinn mehr. „Die Menschen laufen in großer Freiheit umher.“ Also dachte er sich eine Philosophie der Klugheit der Fußsohle und produzierte alles neu.
Die Ausstellung „Pluriversium“ ist bis zum 7. Januar 2018 im Museum Folkwang Essen zu sehen
Herausgekommen sind sechs multimediale Rauminstallationen, die staunen machen – wenn man bereit ist, sich einzulassen. Der Eingang ist ein Sternenhimmel, an dem Begriffe prangen, mit denen Kluge seit Jahrzehnten jongliert. „Aber der Raum dient auch der Abrüstung der Angst vor diesen Begriffen“, sagt er. Der Blick des Besuchers schweift nach oben links. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen Hasen“, steht da.
Die Worte eines Astrophysikers im Ohr, der Kluge fasziniert hat, weil er so selbstverständlich über die komplexen Zusammenhänge der Heisenberg’schen Unschärferelation spricht, schwebt der Besucher an zwei Zeichnungen von Paul Klee vorbei: „Angelus Novus“ hat Walter Benjamin die Erzählung des Engels der Geschichte angeheftet, der in die Vergangenheit blickt und ihre Trümmer nicht zusammenfügen kann, weil ein Sturm vom Paradiese her weht. Ihm zur Seite steht „Stachel, der Clown“, die Trümmer ebenfalls vor Augen. Er ist bereit, dem Kollegen von Fall zu Fall Hacke und Spaten zu leihen.
Auch, wenn dies auf den ersten Blick so wirken mag, hat man es hier nicht mit einem Sammelsurium von Merkwürdigkeiten eines Messie-Intellektuellen zu tun. Alle Gegenstände und Bilder sind Spezialfälle und umkreisen Alexander Kluges Themen. „Menschen haben zweierlei Eigentum: ihre Lebenszeit, ihren Eigensinn“, heißt es in seinem schriftstellerischen Hauptwerk, der „Chronik der Gefühle“ – und damit sind zwei Hauptthemen benannt.
Lebenszeit: Im ersten Film der Ausstellung folgt auf die Chronik von 4,5 Milliarden Jahren, in der die Kontinente im Zeitraffer auseinanderdriften, die Chronik der Sekunde, in der Kluges Vater geblendet vom Licht der Straßenlaterne auf dem nassen Pflaster ausrutschte und sich dabei einen Oberschenkelhalsbruch zuzog.
Alexander Kluge
Eigensinn: eine Zweite-Weltkrieg-Bombe als Leihgabe in der Mitte des Raums. In Kluges eigenem Denken und Erinnern steht sie für einen Tag im April 1945, als er mit seiner Schwester im Keller saß und Ohnmacht erfahren hat: „Die Lösung dieser Situation lag in der Vergangenheit. Man hätte sich 1929 organisieren können gegen Hitler. In Mecklenburg und Sachsen lagen seine Wahlergebnisse unterhalb denen der AfD heute.“
Kluge zieht aus dem Stream der Gegenwart, was ihm wichtig scheint; Bilder und Geschichten, von denen aus es ihm möglich scheint, Linien in Vergangenheit und Zukunft zu ziehen – mit dem Ziel einer besseren Gesellschaft. „Das Bild des Kindes, das tot an der Ägäis liegt, das berührt uns, das muss die Kunst bewahren gegen den ständigen Wechsel der Aktualität.“
Alles kreist um die Bombe
Der Lebenszeit, die der Besucher in diese Ausstellung investieren kann, sind keine Grenzen gesetzt. In den Raum „Arbeitszimmer“ hat er doch noch alle seine Bücher und weiterführende Literatur geschummelt, an eine Pinnwand Gedanken zur Fortführung von Walter Benjamins „Passagenwerk“ geheftet. Der Raum „Archiv“ wird beherrscht von Thomas Demands Fotografie „Backyard“. Sie zeigt einen Hinterhof, in dem Kirschblüten blühen, die den Frühling symbolisieren, die Hochzeit. Aber es ist der Hinterhof, in dem der Attentäter des Boston-Marathons festgenommen wurde. Fernsehbilder an der nächsten Wand zeigen die Explosionen.
Das Präfix „Pluri“ im Ausstellungstitel „Pluriversum“ täusche, sagt Alexander Kluge. Es gehe um einen einzigen Kern: „Nämlich um die Frage, wie antworten wir auf die Bombe. Unsere Welt ist gewissermaßen die Zeitbombe.“
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