Aktivist über ägyptische Armee: "Militär muss Ausland nicht fürchten"
Gezielt wurden auf dem Tahrir-Platz Soldaten eingesetzt und Frauen angegriffen, sagt der Aktivist Tarek Mustafa. Die Revolutionsbewegung ist in der Bevölkerung isoliert.
taz: Herr Mustafa, Sie waren die letzten zwei Tage bei den Kämpfen auf dem Kairoer Tahrirplatz dabei. Hat Sie überrascht, was geschehen ist?
Tarek Mustafa: Nein, es war vorhersehbar, dass dies früher oder später passieren wird und dass das Militär offen gegen die Revolutionsbewegung vorgehen wird. Aber das Ausmaß an Gewalt, das ich in den letzten zwei Tagen erlebt habe, von Gewalt, die nicht mehr abebbt, sondern immer brutaler wird - das habe ich nicht erwartet. Die Kämpfe gingen am Sonntag, den dritten Tag, ohne Unterbrechung weiter.
Es war dieses Mal nicht die Polizei, die gegen Protestierende geschickt wurde - die Soldaten haben selbst angegriffen.
Das war nicht das Einzige, was neu war an den Angriffen seit Freitag. Schockierend war auch, dass ganz gezielt, ganz offen, ohne jeden Skrupel Frauen angegriffen wurden, dass die Armee alle möglichen Arten von genderbasierter Gewalt angewandt hat. Das zeigt, in welchem Ausmaß das Militär Frauen verachtet.
Es zeigt aber auch, dass die Armee keine Angst mehr zu haben scheint: weder vor Reaktionen aus dem Ausland noch vor einem empörten Aufschrei in Ägypten selbst.
Das Militär braucht keine Reaktionen aus dem Ausland zu fürchten. Im Gegenteil, die Generäle haben jetzt eher grünes Licht bekommen, dass sie mit der Bewegung tun können, was sie wollen. Die USA unterstützen das Militär. Und im Land selbst? Da weiß das Militär, dass es die öffentliche Meinung hinter sich hat.
23, ist ein ägyptischer Aktivist aus Kairo. Er war schon vor der Revolution im Januar politisch aktiv und hat auch die letzten Tage auf dem Tahrirplatz miterlebt. Er arbeitet zu Genderthemen und Menschenrechten und nennt sich selbst einen "feministischen Menschenrechtsaktivisten".
Bekommt die breite Masse der Bevölkerung nicht mit, was passiert? Oder glauben sie der Propaganda im Staatsfernsehen?
Letzteres. Ich glaube, viele wissen, was vor sich geht. Aber sie glauben dem Staatsfernsehen, das gegen uns hetzt. Oder sagen wir lieber, sie haben sich entschieden, das zu glauben. Weil es einfacher für sie ist, das zu glauben, was sie in ihren gewohnten sicheren Bahnen belässt.
Die Revolutionsbewegung ist also isoliert?
Ja, das würde ich so sagen. Ihr fehlt der Rückhalt der breiten Bevölkerung, von der immer noch große Teile an das Militär glauben. Sie denken, die Revolution ist vorbei. Für die sind wir Agenten, die aus dem Ausland bezahlt und gesteuert werden, die das Land zerstören wollen.
Wird die Repression gegen die Revolutionsbewegung nachlassen, wenn eine neue Regierung gewählt ist?
Nein, ich glaube, es wird eher schlimmer werden. Die Regierung hat prinzipiell nichts zu sagen, nicht jetzt und nicht nach den Wahlen. Alle Entscheidungen werden vom Militärrat getroffen. Aber die Leute, die im Parlament und in der Regierung sitzen werden, sind gegen uns und gegen das, was wir jetzt tun. Alle, die der wirklichen Revolutionsbewegung, der Bewegung auf der Straße nahestehen, haben sich aus den Wahlen längst zurückgezogen.
Ist die Situation fast ein Jahr nach der Revolution noch so schlimm wie vorher?
Die Situation ist nicht die gleiche, etwas hat sich schon verändert. Für mich kann ich nur sagen: Die Revolution hat uns geweckt, hat uns Raum gegeben, eine Chance, aus unseren gewohnten Blasen, Denkmustern und Sicherheiten auszubrechen. Wir haben begonnen, unseren eigenen Kampf zu kämpfen. Und das ist es wert, immer noch.
Ist die Revolution, was die Politik angeht, gescheitert?
Die Militarisierung Ägyptens im letzten Jahr, das ist schlimm. Aber die Revolution ist noch nicht vorbei, daher lässt sich noch nicht sagen, ob sie gewonnen hat oder gescheitert ist. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, wir stehen erst am Anfang. Und wir brauchen euch, wir brauchen die Unterstützung jedes einzelnen Menschen auf der Welt, der gegen das ist, was jetzt in Ägypten passiert. Die Stimme der Revolution soll überall da draußen zu hören sein, überall.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen