Afghanistan nach dem Abzug: Es droht eine Hungersnot
In dem Land herrscht wirtschaftliches Chaos. Wem die Taliban nicht Grund genug waren, den könnte bald Armut und Nahrungsmangel in die Flucht treiben.
F ür ihre Wirtschaftspolitik sind die Taliban, die seit zwei Monaten Afghanistan beherrschen, nicht bekannt. Ob sie jenseits übertriebener Hoffnungen auf Rohstoffdeals mit China und Finanzhilfen aus den Golfstaaten überhaupt eine wirtschaftliche Strategie haben, ist fraglich.
Fairerweise muss erwähnt werden, dass es auch der westlichen Intervention trotz Milliardeninvestitionen und einem Heer teurer Expert*innen in 20 Jahren nicht gelungen ist, eine nachhaltige Wirtschaft aufzubauen, die über den Opiumanbau hinausgeht. Nach dem Abzug der letzten westlichen Soldaten*innen, Berater*innen und Entwicklungshelfer*innen droht jetzt eine humanitäre Katastrophe und der Zusammenbruch des Staatsapparats, der immerhin teilweise funktioniert hat.
Noch steckt das Land im Übergang zwischen der zu 75 Prozent aus dem Ausland finanzierten alten Regierung und dem Regime der Taliban. Deren mangelnde Regierungsfähigkeit, eine außergewöhnliche Dürre, der massenhafte Verlust lokaler Expert*innen, Washingtons Blockade von 9 Milliarden Dollar Währungsreserven sowie das Einfrieren internationaler Hilfen haben zum Kollaps des Finanzsystems geführt. Normales Wirtschaften ist unmöglich geworden, und es droht laut UNO eine Hungersnot.
Wer noch unter den Taliban ausgeharrt hat, dürfte spätestens jetzt Fluchtgedanken entwickeln. Dabei herrscht international Afghanistanmüdigkeit. Warum sollen den bisher schon am Hindukusch versenkten Milliarden weitere Gelder hinterhergeworfen werden? Doch abgesehen davon, dass westliche Länder für die Misere in Afghanistan mitverantwortlich sind, muss den Menschen natürlich allein aus humanitären Gründen geholfen werden. Das nicht zu tun, hieße sie für das Regime der Taliban zu bestrafen.
Eigennützige Finanzhilfe
Allerdings könnten die Taliban die Hilfe für eigene Zwecke instrumentalisieren. Die Kunst wird sein, das eine zu tun und das andere zu verhindern. Dabei ist die von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen diese Woche zum G20-Sondergipfel angekündigte Hilfe von 1 Milliarde Euro durchaus auch eigennützig. Die EU-Kommission zieht ihre Lehren aus dem Jahr 2015.
Damals hatte unzureichende Hilfe für syrische Bürgerkriegsopfer dazu geführt, dass sich viele Flüchtlinge aufmachten, um via Türkei Europa zu erreichen. Die zugesagte Hilfe soll jetzt also mit verhindern, dass Afghanen*innen ihr Land und ihre Region verlassen. Nach der ersten Taliban-Herrschaft 2001 lebten 4,5 Millionen afghanische Flüchtlinge im Ausland, meist in Pakistan und Iran. Afghanistans Bevölkerung zählte damals 22 Millionen.
Derzeit leben 2 bis 3 Millionen Afghanen*innen im Ausland, die Bevölkerung zählt heute 38 Millionen. Die rund 100.000 Afghanen und Afghaninnen, die seit der Einnahme Kabuls am 15. August ins Ausland flohen, dürften nur Vorgeschmack dessen sein, was passiert, wenn die Taliban die Krise nicht in den Griff bekommen. Und Pakistan, Iran, die Nachbarn in Zentralasien bis hin zur Türkei haben bereits erklärt, dass sie keine größere Zahl afghanischer Flüchtlinge aufnehmen.
Ein Massenexodus wäre zwar ein Gesichtsverlust für die Taliban. Doch dürften Flüchtlinge ihr wirksamster Hebel gegenüber westlichen Staaten sein. Zwar werden die EU die Taliban wohl kaum dafür bezahlen und ausbilden wollen, Menschen an der Flucht nach Europa zu hindern, wie einst mit Milizen in Libyen. Die nennt die EU beschönigend libysche „Küstenwache“. Doch Europa ist an einem gewissen Gelingen der Wirtschaftspolitik der Taliban interessiert und wird auf manche ihrer Forderungen eingehen müssen.
Taliban-Außenminister Amir Chan Muttaki warnte bereits vor weiteren internationalen Sanktionen. Eine Schwächung der Regierung in Kabul liege „in niemandes Interesse“. Denn die Konsequenzen für die Situation der Flüchtlinge wären laut Muttaki weltweit spürbar. Wie es schon Erdoğan und Lukaschenko praktiziert haben, könnten auch die Taliban versucht sein, Europa mit Flüchtlingen unter Druck zu setzen.
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