Afghan*innen in der Türkei: Flucht in die Perspektivlosigkeit
Zehntausende Geflüchtete aus Afghanistan leben in der Türkei. Aktuell blüht das Schleppergeschäft wieder. Viele landen in der Illegalität.
Viele der Afghan*innen in der Türkei sind nicht erst nach der Machtübernahme der Taliban im August, sondern schon vor Jahren vor den Islamisten geflohen. Aman kam vor drei Jahren ins Land. Nach UN-Angaben sind knapp 130.000 Afghan*innen in der Türkei registriert, doch die Zahl derer, die sich illegal aufhalten, dürfte weitaus höher sein. Die türkische Regierung spricht von etwa 500.000 Afghan*innen im Land.
Obwohl sie in der Türkei Geflüchtete dritter Klasse sind, zwingt die Armut viele, im Land zu bleiben. Registrieren lassen können sich die Afghan*innen zwar, doch ist dies nicht einfach: „Kayseri zum Beispiel hat die Registrierungsbüros geschlossen, nachdem Kabul eingenommen wurde“, sagt Ali Hekmat von der NGO Afghan Refugees Solidarity Association. In Ankara, Istanbul, Izmir und Antalya könnten sich Flüchtlinge schon seit Jahren nicht mehr registrieren lassen. Diejenigen, die es dennoch schaffen, bekommen lediglich eine Aufenthaltsgenehmigung. Arbeiten dürfen sie, anders als die Syrer*innen, nicht.
Wie Aman sind auch Usman und seine Freunde Yasin und Enyat schwarz in der Istanbuler Kleidungsindustrie untergekommen. Auch sie treffen wir in dem kleinen Stadtpark, einer Mischung aus Beton, Spielplatz und ausgetrockneten Rasenflächen. Die drei sind neu in der Metropole am Bosporus. Kurz vor der Eroberung Kabuls sind sie vor den Taliban geflohen.
In Usmans Heimatstadt nahe der pakistanischen Grenze hatten die Taliban da schon längst die Kontrolle übernommen. Zu Fuß durchquerten die drei Freunde den Iran und schafften es nach mehr als 30 Tagen über die Grenze in die türkische Provinz Van. Über 1.000 US-Dollar zahlten sie pro Kopf für den beschwerlichen Weg, den sie mit Hilfe eines Schmugglers zurücklegten.
Die Türkei baut eine Mauer
Seit dem Machtwechsel in Kabul blüht das Geschäft der Schlepper. „Allein innerhalb Afghanistans haben sich die Preise für Busse an die iranische Grenze fast verdoppelt“, erklärt der türkische Migrationsforscher Hidayet Sıddıkoğlu, der in Kabul zu afghanischen Binnenvertriebenen forscht. Während Tausende Menschen täglich versuchen, in die Türkei zu gelangen, rüstet das türkische Militär auf. Mit Drohnen, Stacheldraht, Grenztürmen und einer sich noch im Bau befindlichen Grenzmauer zum Iran versucht Ankara sich abzuschotten.
„Wir werden unsere Arbeiten intensivieren und klarmachen, dass unsere Grenzen unüberwindbar sind“, gab der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar kürzlich in einem Interview zu verstehen. Die Bauarbeiten laufen auf Hochtouren. Insgesamt sollen 295 Kilometer Mauer gebaut werden. Laut dem britischen Guardian sollen für den Schutz der östlichen Grenze auch EU-Gelder zur Verfügung gestellt werden. So wurde auch bereits der Bau einer Mauer an der türkischen Grenze zu Syrien mitfinanziert.
„Die Menschen legen ihr Leben in die Hände von Schleppern und haben keine Angst vor irgendeiner Mauer“, sagt Migrationsforscher Sıddıkoğlu, „der Mauerbau wird die Migration verstärken, weil die Menschen aufbrechen werden, bevor die Grenze komplett geschlossen ist.“
Nachdem Usman, Yasin und Enyat es über die gut gesicherte Grenze geschafft hatten, nahmen sie von der Provinz Van aus den Landweg. Wie die meisten durchquerten sie die karge Region schnell weiter Richtung Westtürkei. Dort ist unter anderem die Aussicht auf Arbeit in einer der Großstädte besser.
Als wir Usman, Yasin und Enyat das erste Mal treffen, verlassen sie gerade einen Barbershop. Die jungen Männer leben wie Aman, der für einen Hungerlohn Hosen kaputt macht, im Stadtteil Küçükköy, der bekannt ist für seinen Arbeiterstrich. Auch alle anderen Afghanen, die wir im nahegelegenen Park treffen, arbeiten schwarz in der Kleidungsindustrie. Dort finden sie schnell einen Job. „Die erste Phase der Flucht endet in der Türkei, die Menschen bleiben hier und arbeiten, verdienen etwas Geld und ziehen weiter“, erklärt Sıddıkoğlu.
Eine langfristige Perspektive aber bietet die Türkei für sie nicht. Afghan*innen werden ausgebeutet, bekommen einen Bruchteil des Gehalts eines türkischen Arbeiters. Die türkische Wirtschaft befindet sich schon seit Jahren in einer Krise. Die Inflationsrate lag im September bei fast 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Die Preise für Grundnahrungsmittel steigen, was vor allem die Mittellosen trifft.
Er verdiene 30 Lira pro Tag, umgerechnet 2,70 Euro, erzählt der 17-jährige Enyat. Sechs Tage die Woche arbeite er in der Kleiderfabrik. Die Nachtschichten gehen von zwanzig Uhr bis drei Uhr morgens. Das Geld reicht gerade für das Nötigste. Mit elf anderen Afghanen teilt er sich eine kleine Wohnung.
Aman erzählt, er schicke den Großteil seines Gehalts zu seiner Familie nach Afghanistan. Von dem was übrig bleibt, zahle er seine Miete. Schlussendlich habe er am Tag 2,30 Euro um zu überleben. „Wenn davon noch etwas übrig ist, spare ich es für den Schmuggler in die EU.“ Auch er will auf Dauer nicht in der Türkei bleiben.
Er habe zuletzt versucht vor einem Jahr weiterzukommen, sagt Aman. „Ich war kurz vor Thessaloniki. Die griechische Küstenwache hat unser Boot auf dem offenen Meer zurückgedrängt.“ Laut Menschenrechtsorganisationen sind diese illegalen Pushbacks kein Einzelfall. Sie verstoßen gegen die EU-Grundrechts-Charta und die Genfer Flüchtlingskonvention.
Zurück auf dem türkischen Festland schaffte es Aman, der Polizei zu entkommen. Die 2.000 Dollar, die er dem Schlepper für die Überfahrt nach Griechenland gezahlt hatte, waren weg – wie auch Amans Hoffnung. Er landete wieder in Istanbul, wieder in derselben Kleiderfabrik, wieder schmirgelte er in Zwölfstundenschichten.
Fluchtursache Armut
Alle jungen Männer, die wir in Küçükköy treffen, erzählen, sie seien nicht nur vor den Taliban geflohen, sondern auch wegen der Perspektivlosigkeit und Armut in Afghanistan. „Selbst diejenigen, die ihren Abschluss an berühmten Universitäten wie der American University in Kabul machten, fanden keine Jobs“, sagt Sıddıkoğlu, „aber sie hatten jedenfalls die Hoffnung darauf. Diese haben die Taliban nun auch zerstört.“
In der Türkei sind sie nun zwar sicher vor den Taliban, doch auch hier leben sie in Furcht. „Wenn ich die Polizei auf meinem Weg zur Fabrik sehe, mache ich einen Umweg“, erzählt Usman. „Ich habe immer Angst, festgenommen zu werden.“ Er trifft sich oft nach Einbruch der Dunkelheit mit seinen afghanischen Freunden in dem Stadtpark. Alle, die hier gestrandet sind, versuchen, im Verborgenen zu leben.
Obwohl er erst kurz in der Türkei ist, kennt Usman bereits Afghanen, die im Gefängnis gelandet sind. Die türkische Regierung will die illegal im Land lebenden Afghan*innen erst einsperren und dann zurück nach Afghanistan schicken, doch mit der Machtübernahme der Taliban konnten die Abschiebeflüge nicht mehr in Kabul landen.
Greift türkisches Militär Geflüchtete in den Grenzregionen auf, werden sie oft direkt in den Iran zurückgedrängt. „Wer entdeckt wird, wird festgenommen und in ein Abschiebelager gesteckt. Dort müssen die Menschen ihre biometrischen Daten abgeben. Danach werden sie in Gruppen nachts in den Iran zurückgedrängt“, berichtet Ali Hekmat. Damit wird den Schutzsuchenden ihr Recht auf Asyl verwehrt.
Human Rights Watch bestätigte diese illegalen Pushbacks in einem Mitte Oktober veröffentlichten Bericht. Zudem hätten türkische Soldaten an der iranischen Grenze afghanische Geflüchtete schwer misshandelt. Die Menschenrechtsorganisation fordert von den EU-Staaten, der Türkei den Status des sicheren Drittstaats für Afghan*innen abzuerkennen.
Mit den Festnahmen und Zurückweisungen will die Regierung in Ankara klarmachen, dass Geflüchtete in der Türkei nicht mehr willkommen sind. Zu den Menschen aus Afghanistan kommen mehrere Millionen Geflüchtete aus Syrien. Im Jahr 2019 lebten nach Expertenangaben 3,6 Millionen Syrer*innen im Land, wobei unklar ist, wie viele mittlerweile zurückgekehrt sind.
Kurz nach der Eroberung Kabuls treffen wir Aman erneut. Dieses Mal allerdings per Videocall, wir wollen über die neue Situation reden. „Ich hätte nie gedacht, dass die Taliban Kabul einnehmen würden“, konstatiert er. Als Aman 2018 floh, hatten diese gerade sein Dorf in der Provinz Nangarhar übernommen. Er habe Angst gehabt, nach Schulende von den Taliban rekrutiert zu werden und mit Waffen gegen die Regierung kämpfen zu müssen.
Diesem Schicksal ist er entflohen. Auch der Armut in Nangarhar, der zweitärmsten Provinz Afghanistans, ist er entkommen. Doch nach drei Jahren als illegaler Arbeiter in der Türkei bleiben seine Zukunftswünsche unerfüllt – in Sicherheit leben, heiraten, ab und zu Cricket spielen und wieder mit der Familie zusammenleben.
Mitarbeit: Mohammed Naeem Faizie
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland