Ärztin über Geschlechtskrankheiten: „Es geht nicht um Moral“

Wir sollten mehr über sexuell übertragbare Infektionen sprechen, findet Ellen Støkken Dahl. Trotz Aufklärung: Nicht alle können über Sex sprechen.

historische Aufnahme, Syphilis-Flecken auf der der Stirn eines jungen Mannes

Porträt eines Syphillis-Patienten aus dem 19. Jahrhundert Foto: Science Photo Library/AKG

taz: Frau Støkken Dahl, die Patient_innen, die die imaginäre Arztpraxis Ihres Buchs aufsuchen, haben eine Gemeinsamkeit: Scham. Warum schämen sich Menschen mehr dafür, wenn sie sexuell übertragbare Infektionen (STI) bekommen als für andere Krankheiten?

Ellen Støkken Dahl: Es liegt in der Natur davon, wie wir STI bekommen. Denn wir schämen uns dafür, Sex zu haben, selbst wenn Sex etwas ist, das wir alle tun und sogar mögen. Wenn man eine Erkältung bekommt, denkt man nicht so viel darüber nach, woher diese Erkältung kommt oder wer die Schuld für sie trägt. Doch bei STI geben sich Menschen meistens selbst die Schuld, weil man ihnen beigebracht hat, nicht ständig die Part­ne­r_in­nen zu wechseln und mit vielen verschiedenen Menschen Sex zu haben. Wenn sie es trotzdem tun, haben sie selbst die Verantwortung dafür zu tragen.

ist Ärztin und berät junge Menschen, Geflüchtete und Sexarbeiter_innen in Fragen der sexuellen Gesundheit. Ihr Roman „Juckt’s? Sexuell übertragbare Krankheiten und warum wir dringend offener über sie sprechen sollten“ erschien 2023 im März Verlag.

Ist unsere Gesellschaft nicht schon aufgeklärter?

Leider können wir immer noch nur dann offen über Sex sprechen und stolz auf unsere Körper sein, wenn es um positive Themen und Aktivitäten geht. Sobald wir über die negativen Seiten sexueller Aktivitäten sprechen, tritt Scham in den Vordergrund. Eine Konsequenz davon ist, dass manche Menschen keine Kondome verwenden. Denn wenn man ein Kondom herausholt, ist das eine Erinnerung daran, dass es etwas Negatives an Sex – nämlich STI – gibt.

Inwiefern?

Beim Sex möchten man nicht die Aufmerksamkeit auf sich selbst als mögliche Quelle einer Krankheit für eine andere Person lenken. Man möchten diese Scham auch nicht seinem Partner zuweisen.

Im Buch erwähnen Sie Henrik Ibsens „Gespenster“, in dem der Protagonist an Syphilis leidet. Damals glaubte man, man könne Syphilis vom Vater erben. Welche Rolle spielen Mythen wie diese?

STI waren zu der Zeit noch ein Mysterium, also mussten die Menschen Geschichten erfinden, um sie sich erklären zu können. Diese Geschichten werden normalerweise verwendet, um jemanden die Schuld zuzuweisen, sehr ähnlich, wie wir es bei Covid gesehen haben. Im Buch erkläre ich zum Beispiel auch, wie verschiedene Nationen Syphilis unterschiedlich nannten: die französische Krankheit, die italienische Krankheit, die türkische Krankheit, die deutsche Krankheit. Jeder wollte von der Schuld befreit sein, der ursprüngliche Träger zu sein.

Kann man diese Denkweise wieder verlernen?

Sicher. Aber dafür müssen wir Gespräche über Verantwortung, Positivität und Liebe zu unseren Partner_innen führen, und nicht nur über Einschränkungen. Die Menschen müssen verstehen, dass es größtenteils mit Glück und Pech zu tun hat, ob man eine STI bekommt, und nichts mit einem selbst als Individuum. Das ist die Grundlage für all meine Bücher: Sie sollen bezwecken, dass sich Menschen weniger stigmatisiert und sich in ihren Körpern ‚em­powered‘ fühlen. Erst dann können sie gute Entscheidungen treffen. Derzeit sehen wir einen sehr besorgniserregenden Anstieg der Gonorrhoe-Fälle. Es verbreitet sich schnell, daher müssen wir genau jetzt diese positiven Gespräche über Schutz führen.

Warum gibt es mehr Gonorrhoe-Fälle?

Ein Grund dafür könnte sein, wie die Menschen Sex haben und dass sie öfter die Partner_innen wechseln. Unterschiedliche Gruppen von Menschen, die früher getrennt Sex hatten, vermischen sich jetzt. Vielleicht ist es ein Zeichen für eine modernere Sichtweise unter jungen Menschen, dass Geschlecht und Identität bei der Wahl der Sexual­part­ner_innen keine Grenzen mehr darstellen.

Dank Fortschritten in der Medizin wird jemand, der eine STI bekommt, höchstwahrscheinlich unversehrt davonkommen. Erhöht das die Risikobereitschaft?

In Norwegen war die Krankheit, die heterosexuelle Menschen lange Zeit am meisten beunruhigt hat, Chlamydien. Sie ist sehr einfach zu behandeln und kostenlos zu testen. Die Krankheit ist hier vollkommen normalisiert, und die Konsequenzen sind normalerweise nicht gravierend. Es sei denn, man hat Pech. Wir haben auch sehr gute HIV-Behandlungen, was bedeutet, dass Menschen Sex haben können, ohne das Risiko einzugehen, die Krankheit zu verbreiten oder zu bekommen. Die Tatsache, dass wir mehr Kontrolle über Krankheiten wie HIV oder Chlamydien bekommen, führt dazu, dass Menschen auf Kondome verzichten, was wiederum zu Anstiegen bei Krankheiten wie Gonorrhoe führen wird, die leichter zu übertragen sind.

Gonorrhoe kann zu Problemen bei der Schwangerschaft, Unfruchtbarkeit und sogar zu Erblindung führen. Wie gut lässt sich die Krankheit behandeln?

Sie ist nicht so leicht zu behandeln. Gonorrhoe wurde im Laufe der Zeit nämlich gegen viele Klassen von Antibiotika resistent. Wir sehen jetzt mehrfach resistente Stämme. Syphilis oder Gonorrhoe klingen nach Krankheiten, die weit in unserer Vergangenheit liegen. Ich glaube nicht unbedingt, dass die Menschen wissen, dass sie unter uns und gefährlich sind.

Das klingt alles sehr ernst. Ihr Buch wirkt zuweilen sehr humorvoll. Warum?

Informationen sind eine Sache. Die Art und Weise, wie man den Menschen die Informationen gibt, ist eine andere. Ernsthaftes kann und sollte leicht und humorvoll besprochen werden, damit die Informa­tio­nen zugänglicher sind. Wenn ich Patient_innen in meinem Büro habe, die besorgt oder beschämt sind, kann ich, je nachdem, wie ich mit ihnen spreche, eine echte Veränderung sehen.

Was verändert sich dann?

Die Patient_innen können sich selbst und wie sie in diese Situation geraten sind akzeptieren und damit Frieden finden. Dann können sie pragmatischer über die Krankheit nachdenken, anstatt sie als moralisches Pro­blem zu betrachten. Denn es geht nicht um Moral.

Oft gehen Menschen zum Frauenarzt und fühlen sich danach beschämt.

Das ist eine weit verbreitete Sache, denn ein Hauptproblem bei der heutigen ärztlichen Tätigkeit ist der Zeitmangel. Wenn man als Ärztin Patient_innen das Gefühl der Sicherheit vermitteln möchte, ist das viel einfacher, wenn man viele Informationen geben kann und das Gefühl vermittelt, dass es keine Eile gibt. Ein Teil dessen, warum ich diese Bücher schreibe, ist, den Patient_innen diese Sicherheit zu geben, bevor sie auf den gynäkologischen Stuhl gehen.

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