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Ärztemangel in BerlinNachwuchs verzweifelt gesucht

Praxen sind in der Hauptstadt höchst ungleich verteilt – vor allem im Osten herrscht Ärztemangel. Bezirke suchen nach Wegen, junge Mediziner zu locken.

Ein Stethoskop, das klassische Insignum des Hausarzts, ist mangels Praxen nicht überall leicht zu finden Foto: imageBROKER/Oleksandr Latkun

Berlin taz | „In Schöneweide darfst du nicht krank werden“, sagt Lena M. Die 21-Jährige studiert an der HTW und wohnt in Treptow-Köpenick. „Am schlimmsten ist es mit Augenärzten und Gynäkologen. Überall heißt es, wir nehmen keine neuen Patienten an. Ich bin aber neu in Berlin.“ Nach viel Telefonieren hat sie einen Augenarzttermin in Mitte bekommen – mit drei Monaten Wartezeit.

Berlin sei in weiten Teilen mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten gut versorgt, sagt Kathrin Weiß von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV). Doch die Versorgung ist innerhalb der Stadt nicht einheitlich. Während in den gutbürgerlichen Bezirken in der City West überdurchschnittlich viele Ärzte arbeiten, gibt es in Marzahn-Hellersdorf, Treptow-Köpenick, Lichtenberg und Spandau eine zum Teil dramatische Unterversorgung.

Beispiel Hausärzte: Hier weist Charlottenburg-Wilmersdorf einen Versorgungsgrad von 121 Prozent auf, Marzahn-Hellersdorf ist mit nur 79 Prozent Schlusslicht. Bei Frauenärzten hat Treptow-Köpenick als am schlechtesten versorgter Bezirk nur 87 Prozent. Berlin bekommt aber keine zusätzlichen Arztsitze, denn im gesamten Stadtgebiet ist der Versorgungsgrad offiziell ausreichend. In Charlottenburg-Wilmersdorf beträgt der Versorgungsgrad bei Frauenärzten tatsächlich 184 Prozent. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen.

„Die Ungleichverteilung ist leider größer geworden“, sagt Gordon Lemm (SPD), der Gesundheitsstadtrat von Marzahn-Hellersdorf. Dazu hat beigetragen, dass gerade in den ohnehin unterversorgten Bezirken im Osten und in Spandau in den vergangenen Jahren viele neue Wohnungen gebaut wurden. Die Einwohnerzahl stieg also, ohne dass es mehr Ärzte gibt.

Sozialpsychiatrischer Dienst unbesetzt

Dazu komme das schlechte Image seines Bezirkes, so Lemm. Auch im bezirklichen Gesundheitswesen gibt es deshalb große Probleme: Der sozialpsychiatrische Dienst in Marzahn-Hellersdorf habe fünf Arztstellen, von denen keine einzige besetzt sei.

Die Zukunft sieht noch düsterer aus. Denn viele Ärzte gehören zu den Babyboomern, die bald den Ruhestand erreichen. Gordon Lemm: „Ein Drittel aller Allgemeinmediziner in unserem Bezirk ist 60 Jahre und älter.“ Im Nachbarbezirk Treptow-Köpenick sind laut der dortigen Gesundheitsstadträtin Carolin Weingart (Linke) die Hälfte aller Ärzte älter als 55 Jahre, 12 Prozent sogar älter als 65 Jahre.

Berlinweit sieht es ähnlich aus. Kathrin Weiß von der KV sagt, dass in der ganzen Stadt ein großer Teil der Vertragsärztinnen und -ärzte in den kommenden Jahren in den Ruhestand treten werde.

Und der Nachwuchs? Glaubt man dem ehemaligen Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), verlassen bundesweit weniger Medizinstudierende die Universitäten als Ärzte in den Ruhestand geben. Carolin Weingart sieht in Berlin noch ein zusätzliches Spezifikum: Hier liege im Medizinstudium der Numerus clausus zum Teil bei 1,0. Das sind oft sehr ambitionierte Studierende, denen mit solchen Noten alle Türen offen stehen und die umworben werden. „Viele zieht es weniger in eine Hausarztpraxis als in die Forschung, die Pharmaindustrie oder ins Ausland.“

Gezielte Förderprogramme

Die Kassenärztliche Vereinigung, die das Problem der unterschiedlichen Ärzteverteilung lange ignoriert hat, versucht seit wenigen Jahren dagegenzuhalten. Neue Ärzte dürfen sich nur in unterversorgten Gebieten niederlassen. Es gibt gezielte Förderprogramme für diese Gebiete. Zudem werden „an fünf engagierte Studentinnen und Studenten der Humanmedizin, die bereit sind, nach Abschluss ihres Studiums eine hausärztliche Tätigkeit in einem von der uns definierten Fördergebiet aufzunehmen“, Stipendien in Höhe von 1.000 Euro vergeben, sagt Kathrin Weiß. Außerdem werden digitale Angebote ausgebaut.

Weil für immer mehr Ärztinnen und Ärzte eine Anstellung attraktiver ist als eine eigene Niederlassung, in der man sich selbst um die Bürokratie kümmern muss, hat die Kassenärztliche Vereinigung zudem vier Hausarztpraxen in den Ostbezirken in eigener Trägerschaft aufgebaut. Weitere sind in Planung.

Eine, die den Weg vom überversorgten Charlottenburg-Wilmersdorf in den unterversorgten Bezirk Lichtenberg gegangen ist, ist die Allgemeinmedizinerin Mai Ty Phan-Nguyen. Den Entschluss fasste sie in der Coronazeit, wo die vietnamesischstämmige Ärztin in der Praxis am Kurfürstendamm, in der sie damals arbeitete, regelrecht von vietnamesischen Patienten aus Lichtenberg überrannt wurde. „Sie wollten alle eine Coronaimpfung. Und immer öfter merkte ich, dass selbst viele, die seit 20 Jahren hier leben, keinen Hausarzt haben. Sie vertrauten fragwürdigen Geschäftsleuten im Dong-Xuan-Center, die illegal Antibiotika verkaufen.“

Da sah die 38-Jährige eine soziale Verantwortung, näher zu den Patienten zu ziehen, die sie dringend brauchten. Obwohl sie die Praxis erst seit zweieinhalb Jahren betreibt, sei sie immer voll. „Das geht auch einer Nachbarpraxis so, die erst seit einem Jahr hier ist“, sagt sie. Sie habe in Lichtenberg ganz andere Patienten als in Charlottenburg. „Ich habe kaum Privatpatienten. Viele Patienten sind junge Mütter oder Neuberliner. 60 Prozent sind Vietnamesen. Die Arbeit ist anstrengender, weil ich mehr erklären muss.“

Hilfe bei der Raumsuche

Damit sich Ärzte einfacher in ihrem Bezirk Treptow-Köpenick ansiedeln können, hat Gesundheitsstadträtin Carolin Weingart eine Praxisraumbörse eingerichtet. Dort können Vermieter Räume melden, die sich für Arztpraxen eignen, Ärzte können dort Räume suchen. Weingart sagt: „Das ist ein Lösungsansatz, der als Bezirk in unserer Hand liegt. Wir werden im Oktober auf diesem Weg die erste Neuansiedlung im Park-Center in Alt-Treptow haben. Mit einem weiteren Arzt verhandeln wir. Mit 18 weiteren gibt es Kontakte.“

Marzahn-Hellersdorf will dieses Modell nachnutzen. „Das wird nur kleine Effekte bringen, aber wir nutzen jeden Weg“, sagt Stadtrat Gordon Lemm. Ein zunehmendes Problem seien die zu hohen Mietpreise für Arztpraxen, so Weingart und Lemm. Der SPD-Politiker Lemm fordert dazu Verhandlungen mit den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften, die Linke Weingart eine Bundesratsinitiative von Berlin zur Deckelung von Gewerbemieten.

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11 Kommentare

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  • Warum wird eigentlich krampfhaft am NC festgehalten? Wenn ich einen hohen Bedarf habe, muss ich die Kriterien verändern, um mehr Studenten zu bekommen. Wie soll ein NC darüber Auskunft geben, ob die Person in 10 Jahren ein fähiger Arzt/Ärztin ist?

    • @Ahnungsloser:

      Der Grund ist zulassungs- bzw. kapazitätsrechtlicher Natur. Medizinstudienplätze sind extrem teuer für die Länder und deren Zahl kann aus vielerlei Gründen auch nicht beliebig angepasst werden. Wegen der hohen Nachfrage braucht man ein halbwegs objektives Zulassungskritikerium.



      Der NC bzw. die Abiturnote ist dabei ein ziemlich guter Indikator dafür, ob jemand das Studium (nicht den Job!) schafft. Gerade im Medizinstudium spielt das Thema Studienabbruch daher kaum eine Rolle - anders als zum Beispiel im Lehramtsstudium, obwohl der Bedarf dort auch hoch ist. Ist u.a. eine Frage der effektiven Ressourcennutzung.

      Tatsächlich haben/werden die geplanten (bzw. tw. schon erfolgten Anpassungen) in den Approbationsordnungen zu höheren Qualitätsanforderungen an das Studium führen - u.a. kleinere Übungsgruppen - die eher zu weniger Plätzen, mindestens aber zu noch höheren Kosten je Platz, führen.

      • @Chris McZott:

        Vielen Dank für die nachvollziehbare Erklärung. Bei Piloten und/oder Fluglotsen spielt die Abi Note keine Rolle, da wird gezielt ein Auswahlverfahren durchgeführt, bei dem die benötigten Skills für die Jobs geprüft werden.



        Ist bei Medizinern natürlich schwieriger.

  • Sind das zufällig die Stadtteile, in denen regelmäßig Notärtze und Feuerwehren im Einsatz angegriffen werden? Alternativ Nazi-Banden als Bürgerwehr Streife laufen?

    Meine Prognose: Mit dem Fachkräftemangel werden dort in Zukunft Polizisten seltener kommen, wenn sie gerufen werden, Lehrerstellen bis zum Totalunterrichtsausfall vakant bleiben, Verwaltungen auf Notdienst umstellen. Es wird einfach niemand mehr Bock haben, dort zu arbeiten. Dann findet der strukturelle Rassismus klammheimlich und verschämt mit den Füßen statt.

  • Ein Stipendium von 1000 Euro ist ein Witz wenn man bedenkt wie teuer ein Medizinstudium, der anschließende Umzug in den ländlichen Raum und die Übernahme einer Praxis ist. Das dürfte für keinen angehenden Mediziner einen nennenswerten Unterschied machen.

  • Die kassenärztliche Vereinigung macht ja schon mal das richtige : Sie gründet eigene Praxen. Das ist für Mediziner, die sich nicht mit Bürokratie abgeben oder in ein kapitalgetriebenes MVZ wollen richtig . Die KV hat darüber auch das Kreuz Arbeitszeitmodellen entgegenzukommen, z.B. bei jüngeren oder älteren Ärzten, die noch nicht oder nicht mehr Vollzeit können. Das ist flexibler für den Arzt als eine Praxisraumbörse, die es in der Ärztezeitungen schon immer gibt.

  • Ist es zu viel verlangt, dass Patienten in einer Großstadt mit Öffis auch mal in den nächsten Bezirk fahren, um einen Arzt zu sehen, gerade bei Augenärzten etc. bei denen es selten Notfälle sind?

    • @TheBox:

      Habe ich mir auch gedacht. Ich würde aber nicht unterschätzen, dass eine Arztpraxis ein Zivilisierungsfaktor in "Brennpunktvierteln" ist.

      "Selten Notfälle bei Augenärzten" ist eher ein Klischee: Akuter Sehverlust, plötzlich auftretende Sehstörungen, Augenverletzungen, Verätzungen, Fremdkörper im Auge, Glaukomanfall etc. gibt es häufiger als bekannt.

  • Das passiert halt wenn man das Gesundheitssystem dem Markt überlässt. Dann klumpen sich die Ärzte da wo die Kohle ist, und die Provinzen und "schlechteren" Stadtteile kriegen keine Ärzte ab, und weniger lukrative Fachrichtungen werden halt nicht studiert.

    Toppe das mit demografischem Wandel (erhöhter Bedarf, weniger Nachwuchs) und einem schlechten Bildungssystem, unzureichender Anzahl an Studienplätzen, attraktiveren Verdienstmöglichkeiten und Lebensbedingungen im Ausland, einer überbordenden Bürokratie, einem ständischen Gesundheitssystem aus Privat- und gesetzlich Versicherten und einer Unzahl von Kassen mit ihrem jeweiligen Prunkbau und Verwaltungswasserkopf et.c, und du erhältst das was wir heute haben, ein unglaublich teures, ineffizientes, ungerechtes, zu Abrechnungsbetrug regelrecht aufforderndes Monstrum von Gesundheitswesen.

    • @David Palme:

      " Das passiert halt wenn man das Gesundheitssystem dem Markt überlässt. " Nicht ganz : Die Sozialversicherung hat ein System der Selbstverwaltung, wahlberechtigt für die Versichertenvertretung sind die Versicherten und Arbeitgeber. Die Wahlbeteiligung der Versicherten war zuletzt 22 % mit fallender Tendenz .

  • Wer mit der Suche überfordert ist oder dringend einen Termin braucht: 116117 probieren. Manches kann man direkt auf der Webseite erledigen.