Adventskalender (2): Die Ein-Euro-Entenkeule
In der Kiezkantine gibt es gutes und günstiges Essen – zubereitet von psychisch Erkrankten. taz-Adventskalender „Kannste nicht meckern“ (2).
Es gibt sie noch, die nicht ganz so schlechten Dinge – auch wenn sie derzeit rar gesät sind. In diesem Advent zaubern wir jeden Tag etwas Meckerfreies aus unserem Kalender. Sei's kulinarisch oder klimatisch, mobil oder musikalisch. Lassen Sie sich überraschen.
Mitten im gentrifizierten Prenzlauer Berg kriegt man hier einen Möhreneintopf mit frischen Kräutern und Brot für 5,40 Euro, die Entenkeule mit Pflaumensauce, Rotkohl, Kartoffelkloß gibt’s für 9,50. „Für Mitarbeiter gab’s die letzte Woche für einen Euro“, berichtet Frank überglücklich. Er reinigt seit zwei Jahren den Innenhof und putzt die Klos. Es ist seine erste Beschäftigung nach der Entlassung aus der Psychiatrie.
Die Kiezkantine ist ein besonderer Arbeitsplatz. Seit 2003 fungiert sie als Beschäftigungsprojekt für psychisch erkrankte Menschen. Am Freitag feierte sie ihr 20-jähriges Jubiläum. Die Stimmung ist familiär, die Mitarbeiter*innen liegen sich in den Armen und strahlen, wenn sie vom Teamgeist sprechen.
Es sei ein sehr achtsamer Umgang miteinander, berichtet Barbara. „Es ist ein Mikrokosmos, in dem wir uns tragen und ertragen. Es ist einfach toll“, schwärmt sie. Barbara ist seit einem Jahr betreute Beschäftigte hier. „Und ich bin viel stabiler.“
Das Projekt wird getragen von dem gemeinnützigen Pinel-Verbund, der Menschen mit psychischen Erkrankungen in den Bereichen Wohnen, Beschäftigung und Arbeit sowie Pflege, medizinische Behandlung und integrierte Versorgung unterstützt. Es begann vor fast 40 Jahren mit der Wohnbetreuung.
Beschäftigung statt nur Betreuung
„Aber wir haben gemerkt, dass es nicht ausreicht, die Klienten in den Wohnungen zu betreuen“, erzählt Monika. Sie ist Mitgründerin der Kiezkantine. Arbeitsbeschaffung sei wichtig für die psychische Gesundheit. So wurde aus der reinen Betreuung Beschäftigung, erzählt sie. Neben Gastronomie bietet der Pinel-Verbund psychisch erkrankten Menschen Beschäftigung in Shops und Kiosken, Wäschereien, Hausmeister- und Garten-Service. Das Ziel ist es, sie wieder einzugliedern.
„Das mit dem Eingliedern, das ist so 'ne Sache“, sagt Conni. Sie ist seit 12 Jahren in der Kiezkantine angestellt. Die Klient*innen hätten Erkrankungen wie Psychosen oder Schizophrenie. Alltagsdinge, die für andere normal seien, seien für einige von ihnen eine unglaubliche Herausforderung. „Aber die Festangestellten kümmern sich aufopferungsvoll.“ Die betreuten Beschäftigten machten Fortschritte und würden in ihren Medikamenten heruntergestuft. „Das ist schön zu sehen.“
Das Kantinenteam besteht aus 22 Klient*innen und 9 Facharbeiter*innen. Beschäftigt sind im Rahmen des Projekts „Arbeit statt Strafe“ auch Menschen, die hier Sozialstunden leisten. Viele arbeiten erst seit ein, zwei Jahren hier, andere gehören quasi schon zum Mobiliar. Irene ist seit 17 Jahren da, Martha seit 20.
Vor allem Stammgäste
„Heute morgen bin ich aufgewacht und war ganz emotional“, erzählt Martha am Freitag. Auch das Publikum verändere sich kaum. Zu 90 Prozent bestehe es aus Stammgästen aus den umliegenden Büros, sagt Rivka. Sie ist Festangestellte und arbeitet seit 2 Jahren hier.
Dass sie hier, mitten in Prenzlauer Berg, einen so günstigen Mittagstisch anbieten können, ist auch denen zu verdanken, die das Haus vor 30 Jahren genossenschaftlich erwarben. Nur deshalb zahlen sie hier Mietpreise, die weit unter dem liegen, was andere in der Umgebung zahlen, erzählt Monika. „Sonst könnten wir uns das nicht leisten.“
Seit 2020 ist die Kiezkantine ganz offiziell eine Beschäftigungstagesstätte (BTS), die Menschen mit psychischen Erkrankungen eine strukturierte Umgebung für sinnvolle Aktivitäten und Beschäftigungen gibt. Das geht mit Fördermitteln einher, die direkt durch das Teilhabeamt, einen Zweig des Sozialamts, bezahlt werden. Die „stabile Finanzierung ist großartig“, sagt Monika. Sie erlaube es, mit den Klient*innen Ausflüge zu unternehmen. Dieses Jahr waren sie schon zweimal an der Ostsee. Frank schwärmt davon noch immer.
Was sie verbindet? Dass alle Lebenskünstler*innen seien, sagt Barbara strahlend. „What a lovely day!“
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