Abschied von den USA: Da, wo ich nie hinwollte
Zwischen Greyhound-Bus, Depression und Demokratieverfall: Zwei Jahre lebte unsere Autorin in den USA. Sie haderte und fand doch Gründe für Hoffnung.
W ir fahren und fahren. Gerade hat es geregnet, die Luft ist so feucht und warm wie in einem Gewächshaus. Um uns herum blauer Himmel und hohe, dichte Bäume: Eichen, Zedern, Ahorn, Efeuranken. Ein von einem achtspurigen Highway zerschnittenes Wäldermeer.
Welcome to North Carolina! Welcome to America!
Jetzt bin ich da, wo ich nie hin wollte. Noch dazu führerscheinlos in einer Stadt, in der man überall mit dem Auto hinfahren muss. Ein Neuanfang für mich: Ein neues Abenteuer, neue Menschen, neue Wege. Im September 2023.
Ich betrachte die Banner am Straßenrand: „Overdose can happen to everyone“. „Shackled by lust? Jesus sets you free!“ „It’s ok to Taco yourself.“
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Wenige Minuten später sitzen mein Freund und ich in einem stickigen winzigen Büro neben einer Tankstelle und füllen die Kaufunterlagen für unseren Volvo, Baujahr 2007, aus. Ein Riesenhund glotzt mich aus den Augenwinkeln an. Unser Autodealer Streak von „Streaks Auto Smart“ telefoniert mit der Polizei. Er spricht eine Höllenmischung aus jamaikanischem Englisch und Südstaatendialekt. Ich verstehe vielleicht die Hälfte, vielleicht weniger. Streak sieht wie ein harter Typ aus. Schwarz, mit Megamuskeln und Tattoos am Oberarm. Er ist nicht nur Autodealer, sondern auch „Bounty Hunter“ – Kopfgeldjäger. Das hat er uns schon bei der Probefahrt vergangene Woche erzählt. Streak spürt Menschen auf, die man vorübergehend aus dem Gefängnis entlassen hat und die sich auf der Flucht befinden, und wird dafür bezahlt.
Heute hat er eine gewisse Meredith eingefangen. Sie befindet sich in seiner Wohnung und ein Freund passt auf, dass sie nicht ausbüxt, während er unseren Autokauf abwickelt. Bald will er sie der Polizei übergeben, erzählt er nach dem Telefonat. Ich schiele unauffällig auf ihre Polizeiakte, die zwischen uns auf dem Tisch liegt. „Race“, Ethnie, „Schwarz“ steht da. Sie sitzt wegen Drogenhandels ein, entziffere ich, verheiratet und in meinem Alter, Mitte dreißig.
Im November 2024 gewann Donald J. Trump zum zweiten Mal eine Präsidentschaftswahl in den USA und amtiert seit Januar 2025 als 47. Präsident. Er treibt den Umbau öffentlicher Einrichtungen und einen Kurswechsel in der Außenpolitik voran.
„Darf ich mal bei einer deiner Jagden mitfahren und über dich schreiben?“, frage ich ihn zum Abschied, als er uns den Autoschlüssel übergibt. „Wenn du dich traust! Das kann gefährlich werden.“ „Ich ruf dich an!“ Plötzlich scheint ihm die Idee zu gefallen. „Wir beide kommen mit der Geschichte groß raus und machen richtig viel Kohle!“ Ich erkläre ihm, dass ich die Leute, über die ich schreibe, nicht bezahle. Dann verliert er das Interesse. Ich höre nie wieder von Streak. Manchmal denke ich immer noch an ihn und frage mich, wie es weiterging für Meredith.
Einige Monate später wird eine Frau von hinten in unseren Volvo fahren und einen Totalschaden verursachen. Unser zweiter Autodealer Omar wird ein verurteilter Al-Qaida-Terrorist sein, der bis vor Kurzem 13 Jahre im Gefängnis saß. Aber von all dem ahne ich im September noch nichts. Ich lasse mich auf den Beifahrersitz fallen und freue mich über unsere neu gewonnene Freiheit.
So ist Amerika
Man hat kaum Zeit, zu begreifen, was da gerade um einen herum passiert. Zwei Jahre sind seit damals vergangen. Inzwischen habe ich die USA wieder verlassen. Auf eine eigenartige Weise ist mir dieses Land ans Herz gewachsen, wo sonst auf der Welt hätte ich schon so unverhofft einen Kopfgeldjäger beim Autokauf angetroffen?
In meinem Freundeskreis liegt es im Trend, die USA als Klassenfeind erst einmal scheiße zu finden. Was soll auch gut sein an Armut, an krassen sozialen Unterschieden, Kriminalität, Drogen und einer Mittelschicht, die sich selbstgefällig im Konsum suhlt? Aber so simpel ist es nicht. Wären die USA und ihre Menschen ein Puzzle mit 300 Millionen Teilen, hätte ich während meiner Zeit hier nur ein paar Randstücke in meinem Kopf zusammengefügt.
Durham in North Carolina im Südosten der USA liegt genau im Zentrum zwischen dem Appalachengebirge im Westen und den Sandinseln der Outer Banks am Atlantischen Ozean im Osten. Die Stadt ist ein Ort ohne Meer und ohne Berge, von dem außerhalb des Landes kaum einer eine Vorstellung hat. Mein Freund ist Schuld, dass ich hier bin. Die Eliteuniversität Duke bot ihm als Wissenschaftler einen Zwei-Jahres-Vertrag an. Natürlich ziehen wir dahin, sagte ich, was sonst.
In den Wochen nach unserer Ankunft streiften er und ich zusammen über die gigantischen Parkplätze, aßen unsere ersten Buritos und staunten über die kübelgroßen Softdrinks, den riesigen Lucky-Strike-Turm, der an die vergangene Blütezeit Durhams als Tabakstadt erinnern soll. Die Leute hier lächelten alle breit und sagten „Have a good one!“, selbst dann, wenn sie „Verpiss dich!“ meinten. Die Gegend ist bekannt als „research triangle“ und gehört zu den am schnellsten wachsenden Regionen der USA. Nicht nur wegen der guten Universitäten und Techkonzerne, deren Mitarbeiter sich hier ansiedeln, sondern auch weil Mittelklassefamilien sich andere Bundesstaaten wie Florida oder New York immer weniger leisten können. Viele von ihnen stammen aus Mexiko, Indien, China und anderen Ländern.
Durham ist eine demokratische Insel in einem mehrheitlich republikanischen Bundesstaat.

„Trans Lives are Sacred“, (trans Leben sind heilig), hatte jemand an die Wände der Backsteinhäuser gesprüht, an den Eingängen der Wohnhäuser hingen Regenbogenfahnen und „Black Lives Matter“-Banner. Bei einer Vorstellungsrunde in der Synagoge stellten sich alle mit ihren Pronomen vor und das Yogastudio in unserem Viertel reflektierte auf der Webseite sein „white privilege“. Durham war eine Hochburg der wokeness. Ich war vorauseilend genervt und unterstellte dem Ganzen erst einmal sogenanntes virtue signaling: Zurschaustellung moralischer Tugendhaftigkeit.
Blicke ich heute zurück, denke ich: Damals war die Welt in Ordnung. Man hatte noch den Luxus, von Regenbogenfahnen genervt zu sein.
Heile Welt auf dem Campus
Seit fast einem Jahr nun ist Donald Trump wieder an der Macht und Präsident der Vereinigten Staaten. Die US-Demokratie war schon vor seinem Wahlsieg brüchig. In den Monaten seit seinem Amtsantritt sieht die Welt jetzt in Echtzeit zu, wie das Land zu einem autoritären Staat umgebaut wird.
Am heilsten fühlte unsere Welt sich damals auf dem Universitätscampus an. Wir liebten es, über Dukes wunderschönen Campus zu spazieren, mit Teichen, Rosengärten und Eichhörnchen, die über die gut gepflegten Rasenflächen hüpften und an Keksbröseln knabberten, wie um zu demonstrieren: Nicht nur die Menschen an diesem Ort, sondern selbst die Tiere stammen aus gutem Hause.
Entworfen hat den Campus der Schwarze Architekt Julian Abele aus Philadelphia. Für den Auftrag seiner Architekturfirma war Abele in den 1920er Jahren nach Durham gereist, durfte hier aber nie übernachten. Während der Jim-Crow-Gesetze von den 1870er Jahren bis 1965 hatten die Stadthotels eine strenge „white only“-Gesetzgebung. Jahrzehntelang lebten Schwarze und Weiße Menschen in den Südstaaten getrennt. Sie arbeiteten getrennt, sie aßen getrennt, spazierten in getrennten Parks und wurden in getrennten Krankenhäusern behandelt.
Im Zentrum des Campus der Duke Universität erhebt sich eine opulent verzierte neogotische Kapelle mit Spitzbögen, erbaut nach dem Vorbild von Cambridge und Oxford. Drumherum irren Grüppchen Studierender mit hellblauen Duke-Käppis, Duke-Shorts und Duke-Pullis herum, die es für sehr viel Geld im Duke-Shop zu kaufen gibt, gleich neben Büchern über soziale Ungleichheiten und poststrukturalistischen Werken zum Foucault’schen Panoptikum.
Es war wie verflucht
Mit mehr als 94.000 Dollar jährlichen Studiengebühren, inklusive Unterkunft und Lebenshaltungskosten, gehört Duke zu den teuersten Universitäten der USA und steht für Reichtum und Prestige. Richard Nixon, Tim Cook – Apples CEO – und Stephen Miller, Trumps einflussreicher rechtsextremer Berater, alle studierten sie hier. Milieustudie, sprach ich mir gut zu, wenn ich mich in die Bibliothek setzte, meinen Iced Latte für acht Dollar trank und die emsigen Studierenden beim Glotzen auf ihre Laptops beobachtete.
Nach ein paar Wochen Milieustudie streckte mich die Einsamkeit nieder. Meine zarten Versuche, Freundschaften zu schließen, endeten immer wieder in dem Versprechen, sich auf einen Kaffee zu sehen. Danach meldete sich nie jemand. Mein Leben lang hatte ich Freundschaften auf der ganzen Welt geschlossen, im buddhistischen Schweigekloster und im Covid-Lockdown. Nur hier war es wie verflucht. Im ersten Jahr waren unsere einzigen Kontakte der Mathematiker-Kollege meines Freundes aus Michigan und seine Freundin, die auf einer Farm mit Eseln arbeitete. Wir waren uns in unserer ersten Woche im Supermarkt Trader Joe’s über den Weg gelaufen und hingen seitdem wie eine bucklige Familie jedes Wochenende zusammen ab. Die beiden hatten auch niemanden außer uns und ihren Katzen und Hasen.
Die USA waren niemals als Gemeinschaft angelegt, zu der alle dazugehören sollen, der Rückzug ins Individuelle ein klassisch amerikanisches Ideal. Soziale Medien haben die Realität zusätzlich fragmentiert. Was früher in Zeitungen und Fernsehen gemeinsam erlebt wurde, zerfällt heute in unzählige personalisierte Feeds. Im Sommer 2023 veröffentlichte Hillary Clinton einen Essay im Magazin Atlantic. Darin machte sie die Vereinsamung der US-Amerikaner:innen und den Zusammenhang mit dem erstarkenden Autoritarismus unter Trump zum Thema. Ohne diese soziale Isolation und schwindende Gemeinschaftsstrukturen wäre ein Trump vermutlich niemals so erfolgreich geworden. Die MAGA-Bewegung dient als eine Art Gemeinschaft bietende Ersatzreligion. Leider wollte der MAGA-Zauber einfach nicht auf mich wirken.
Nach einer Weile fühlte ich mich unfähig, mich von der Stelle zu bewegen. Ich arbeitete kaum noch und konnte mich selbst nicht mehr ausstehen. Meine im Bett und auf dem Sofa verbrachten Stunden wurden mehr, aus Wochen Monate. Ich begann, mich halb ironisch, halb ernsthaft „Stay-In-Girlfriend“ zu nennen. Statt die USA zu erleben, erlas ich sie mir bei James Baldwin, Octavia Butler und Chimamanda Ngozi Adichie. Kurz, Amerika entwickelte sich nicht so, wie ich mir das Ganze erhofft hatte. Das Land war zum Kampfplatz gegen mich selbst geworden. Je mehr ich versuchte, meine Depression beiseite zu fegen, desto mehr holte sie mich ein.
Was mich vor mir selbst rettete, kann ich nicht mehr ganz genau sagen. Wahrscheinlich Donald Trump. Die anstehende Präsidentschaftswahl zwang mich zurück zu meinem Urinstinkt als Reporterin. Für eine Reportage beschloss ich im Sommer 2024, die USA von Durham bis Los Angeles mit dem Greyhound-Bus zu durchqueren: Über Atlanta, Memphis, Oklahoma, Texas und New Mexico, 4.000 Kilometer und 62 Stunden Busfahrt. Die Reise sollte mir helfen, die schwindelerregende Weite der USA besser zu begreifen. Kaum jemand aus meinem Umfeld hat jemals einen Greyhound von innen gesehen. Wer lange Busstrecken fährt, hat man mir gesagt, der hat entweder kein Geld für einen Flug, keine Kreditkarte oder keine Arbeitserlaubnis.
Die Menschen und ihre Geschichten
Am Bahnhof in Durham warteten wir zu dritt auf den Bus: ein Tätowierter mit faltigem Gesicht, ein Business-Student aus Bangladesch und ich. Als der Tätowierte kurz eine Runde drehte, raunte der Student: „Der Crackhead ist gerade aus dem Gefängnis raus. Er wollte mit meinem Handy telefonieren, ich hab’ nein gesagt.“ Auf der Bank neben uns saßen drei Busfahrerinnen der städtischen Verkehrsgesellschaft, erzählten sich Witze und lachten. Die Leute im Bus waren fast alle Schwarz oder Latino und schienen nur von Chips und Süßigkeiten zu leben. Manchmal hielten wir stundenlang nicht an oder nur kurz für einen Toilettengang. Ich mampfte den ganzen Tag meine von zuhause mitgebrachten Snacks. Aus Furcht vor der Bustoilette hörte ich auf zu trinken.
Am Busbahnhof in Memphis, Tennessee, fragte mich Trevor, ein blonder Typ um die 40, nach Feuer. Er rauchte und wippte von einem Bein aufs andere, das riesige Kreuz auf seiner Brust pendelte hin und her. „Du willst nach Los Angeles? Ich hoffe, du hast genug Gras zum Rauchen dabei.“ Er sei ein Veteran aus dem Irak-Krieg und unterwegs zu einer Familienfeier in Arkansas. Er lebe auf einer Farm in South Carolina, zusammen mit einem Kameraden aus dem Krieg. „Ich würde jederzeit wieder kämpfen“, sagte er – obwohl er die Irak-Intervention für „bullshit“ hält. „Ich habe eine krasse posttraumatische Belastungsstörung. Aber für den Zusammenhalt, für die Jungs, würde ich alles tun.“ Trevor riss sein T-Shirt hoch und zeigte mir eine Narbe, die sich über seinen gesamten Oberkörper zog. Ein Sprengsatz hatte ihn am Straßenrand getroffen, erzählte er.

In Amarillo, Texas stieg ein Mann zu, von dem ich sofort hoffte, dass er sich nicht neben mich setzt. Aber dann sackte James auf den Sitz rechts von mir. Er sei obdachlos und auf dem Weg nach Los Angeles. Er wollte einen Neuanfang versuchen. Nach einer Pause an einer Tankstelle hielt er mir strahlend eine Plastiktüte entgegen: „Für dich!“ In der Tüte waren Chips und ein Pink-Lemon-Softdrink. „Ich bin obdachlos, nicht pleite!“ Ob sich die Menschen da, wo ich herkomme, auch tätowieren lassen, fragte er. Ob wir das gleiche Alphabet hätten. Warum ich nicht verheiratet sei.
Vor der Reise hatte ich befürchtet, kaum jemand würde mit mir reden wollen. Aber die meisten Menschen im Bus erzählten gerne aus ihrem Leben. Ihre Geschichten handelten von Kindern, zu denen der Kontakt abgebrochen ist. Vom Wiedersehen mit ihnen, von Drogen, von Krankheit, von ihren Hoffnungen und Wünschen. Je länger ich unterwegs war, desto weniger nahm ich die Armut wahr, die mich noch am Anfang der Reise so erschüttert hatte. Im Bus gab es keine Klassen, keine Berührungsängste. Solange wir auf diesen Polstern saßen, waren wir alle gleich.
Nach meiner Reise bemerkte ich, wie etwas in mir sich gelöst hatte. Mein Blick auf die Menschen hatte sich verändert, ich urteilte weniger über sie, war weniger zynisch. Plötzlich war ich fürchterlich froh, im Süden der USA zu leben und nicht in New York oder Philadelphia. Hier in North Carolina trugen jeder Kieselstein und jeder Grashalm eine verschlüsselte Geschichte, die sich ohne Vorwissen nicht erschließt: über die indigenen Stämme, die Tabakindustrie, die britischen Kolonialherren, den zivilen Ungehorsam im Kampf gegen die „Rassentrennung“.
1957 fand in Durham einer der ersten Sitzstreiks in den USA statt: Ein Pastor und sieben Jugendliche, die „Royal Seven“, betraten eine Eisdiele und setzten sich auf die Plätze von Weißen. Dafür nahm die Polizei sie wegen Hausfriedensbruchs fest. In Zeiten der politischen Dunkelheit wie jetzt geben mir solche Geschichten Halt und Hoffnung. Wenn Menschen sich gegen Jahrhunderte lange Unterdrückung wehren konnten, können sie auch MAGA überwinden. Dachte ich.
Wie eine bestandene Probe
Vor der Präsidentschaftswahl hing wochenlang Spannung in der Luft, es war kaum auszuhalten. Zuhause sprachen wir von nichts anderem. Mein Freund lebte in seiner Universitätskapsel und glaubte, Kamala Harris würde Präsidentin werden. Ich wettete auf Trump. Aus Atlanta, Georgia berichtete ich über die Wahl und ging alleine auf eine MAGA-Party mit viel Glitzer und rotblauen Kerzen mit Trumps Gesicht drauf. Auf der Toilette zogen Frauen ihre mit Botox aufgeplusterten Lippen mit Lippenstift nach. Ich beobachtete sie im Spiegel und ahnte, dass diese Nacht ein Wendepunkt ist. Nichts in diesem Land machte den Eindruck, als befinde es sich im Aufbruch. Sondern am Rand des Abgrunds. Wenn es stimmt, dass Entwicklungen aus den Vereinigten Staaten mit ein wenig Zeitverzögerung zu uns nach Europa kommen, kann man sich nur fürchten. Am Morgen nach der Wahl wachte ich auf und heulte.
Aber das Leben kehrte nach der Wahl schnell zum alten Trott zurück. Wir feierten Thanksgiving, Hanukkah, Weihnachten. Atmeten weiter, tranken Kaffee, gingen ins Kino. Durham sah genauso aus wie vor der Wahl, die „All Gender“-Toiletten in den Restaurants waren immer noch da.
Demokratische Zersetzungsprozesse schreiten erstaunlich beiläufig und gleichzeitig sehr schnell voran. Erst als die neue Regierung die Kürzungen von Forschungsgeldern bekanntgab und die Abschieberazzien auch in North Carolina begannen, drehte sich der Wind. Paradoxerweise passierte in dieser Zeit etwas Unerklärliches. Je weiter abwärts es mit Amerika ging, desto mehr kroch das Land in mein Herz.
Ein Ort wie Durham braucht Zeit und Geduld. Ihm fehlt Glanz und Glamour, nichts hier erinnert an die Coolness von New York oder L.A. Vielleicht ist Durham gerade deshalb die amerikanischste aller Städte.
Du bist nicht allein
Durham war ein Zufluchtsort für queere und trans Menschen, die vor den Anfeindungen in ihren Familien und Heimatorten im Süden geflohen waren. Wenn ich heute „Trans Lives are Sacred“ lese, blicke ich ganz anders darauf als in meinen ersten Tagen: als Symbol für Solidarität: Du bist nicht allein! Freiheiten, die in New York seit Jahrzehnten als selbstverständlich gelten, müssen in den Südstaaten jeden Tag aufs Neue ausgefochten werden. Setzt man sich in Durham ins Auto und fährt fünfzehn Minuten, befindet man sich in kürzester Zeit im tiefsten transphoben MAGA-Dschungel.
Aber hier ist man stolz auf Pauli Murray, eine nicht-binäre Bürgerrechtler:in und Freundin von Eleonore Roosevelt. Außerhalb Durhams, wo sie aufwuchs, kennt Murray kaum jemand. Vielleicht wurde sie von den Annalen der Geschichte verschluckt, weil sie ihrer Zeit zu weit voraus war. Sie verweigerte schon 15 Jahre vor Rosa Parks auf einer Greyhound-Busreise den ihr zugewiesenen Platz und setzte sich auf den Sitz im weißen Bereich. Dafür steckte man sie ins Gefängnis. Später schloss sie als erste afroamerikanische biologische Frau die Yale Law School ab und wurde als erste Schwarze von der Episcopal Church in den USA heilig gesprochen. Ihre Zitate sind über die ganze Stadt auf den Häuserwänden aufgemalt. „Ein Mensch und eine Schreibmaschine ergeben eine Protestbewegung.“
Seit dem Morgen nach den Präsidentschaftswahlen habe ich es nie mehr bereut, in den USA zu leben. Der Einfluss, den man als einzelne Reporterin einer Zeitung auf das Weltgeschehen hat, ist verschwindend gering. In einer Zeit, in denen die Ordnung der Welt sich neu sortiert, können wir nur Zeuginnen sein. Unsere eigene Ratlosigkeit ist niederschmetternd.
Plötzlich spürte ich eine unaufhaltsame Dringlichkeit, der Welt von diesem Land zu erzählen, das mich Einsamkeit und Pancakes gelehrt hatte. Davon, wie wunderschön es hier ist: die türkisfarbenen Keys in Florida, das wilde Rauschen des Yuba-Flusses im Norden Kaliforniens, die spanischen Moosbäume in den Alleen von Savannah, Georgia. Ich wollte, dass die Welt von der Solidarität der Menschen hier erfährt, die alles dafür geben, um ihre Freunde und Nachbarn vor den Abschiebungen der Einwanderungsbehörde zu beschützen. Von der stillen Revolution der Rentner, die mit ihren selbstgebastelten Plakaten an Autobahnbrücken stehen und vor dem Ende der Demokratie warnen.
Und jetzt?
Nach zwei Jahren Amerika fühlt sich ganz Europa wie ein Ferienort an. Ich habe die USA verflucht und beständig gelitten, und bin zugleich froh über diese Zeit. Wie eine Probe, die man against all odds auf wundersame Weise bestanden hat und sich jetzt eine Medaille auf die Uniform hängen darf. Die USA haben ihren Weg jetzt erst einmal eingeschlagen. Er ist dunkelschwarz und beispiellos für die älteste Demokratie der Welt. Wir hoffen, dass irgendwo am Ende eine Lichtrille durchsickert, aber so genau wissen wir es nicht. Bis wir dieses Licht erblicken, auf was kommt es jetzt an?
Vielleicht liegt das Sinnreiche unserer Gegenwart im Kampf gegen die Einsamkeit. Darin, Momente von Gemeinschaft und Loyalität im Alltäglichen zu schaffen und Mensch zu bleiben, unsere eigene Gleichgültigkeit nicht zuzulassen. Selbst dann, wenn es am schwersten ist, selbst dann, wenn wir erschöpft sind. Es ist die einzige zuverlässige Strategie, verbrecherischen Politiker:innen und Machtstrukturen entgegenzutreten.
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