Abschiebungen nach Afghanistan: Organisierte Verantwortungslosigkeit
Die Bundesregierung erweckt den Anschein von Geschäftigkeit bei der Aufnahme gefährdeter Afghan*innen in Deutschland. De facto tut sie nichts.

S eit Tagen stürmt die Polizei in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad Gästehäuser und verhaftet dort Afghan*innen, die eine Aufnahmezusage für Deutschland haben. Hunderte wurden in Abschiebelager gebracht und mindestens 35 nach Afghanistan abgeschoben. Es handelt sich um Menschen, die wegen ihres politischen und gesellschaftlichen Engagements oder ihrer sexuellen Identität im Land der Taliban extrem gefährdet sind und deswegen in Deutschland Schutz zugesagt bekommen haben. Die Abschiebungen kommen nicht überraschend. Pakistan hat seit Jahresbeginn tausende Afghan*innen rigoros abgeschoben, selbst solche, die beim UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR als Geflüchtete registriert waren.
Schon vor einem Jahr drängte die pakistanische Regierung darauf, dass Afghan*innen in einem humanitären Aufnahmeprogramm eines anderen Landes auch tatsächlich dorthin ausreisen müssen. Und was macht die Bundesregierung? Sie spricht mit hochrangigen Vertretern der pakistanischen Regierung – sagt das Auswärtige Amt. Sie prüft die Gültigkeit jeder einzelnen Aufnahmezusage – sagt Innenminister Alexander Dobrindt. Tatsächlich schafft die Regierung die Menschlichkeit ab.
Als die alte Regierung noch Afghan*innen aus den deutschen Aufnahmeprogrammen per Charter nach Deutschland holte, protestierte die Union lautstark. Inzwischen sagt Außenminister Johann Wadephul, dass Afghan*innen mit einer gültigen Aufnahmezusage selbstverständlich nach Deutschland geholt werden. Aber der Innenminister lässt prüfen und prüfen und prüfen und prüfen. In den Sozialwissenschaften gibt es dafür den Begriff der organisierten Verantwortungslosigkeit.
Damit ist gemeint, dass zwar viel getan und der Anschein von Geschäftigkeit erweckt wird, aber tatsächlich nichts dabei herauskommt. Man folgt Regeln und komplexen Vorschriften, die alle beachtet werden wollen, und am Ende passiert – nichts. Jedenfalls nicht das, worum es eigentlich geht. Immer gibt es noch etwas zu überprüfen, noch ein Verfahren einzuhalten.

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Den Taliban ausgeliefert
Der Effekt ist, dass so viele Akteur*innen an einer Angelegenheit beteiligt sind, dass niemand mehr konkret für etwas verantwortlich ist. Die Verantwortung zersplittert im Wust der (Un-)Zuständigkeiten. Anstatt die gefährdeten Afghan*innen nach Deutschland zu holen und ihnen eine sichere Zuflucht zu bieten, sind sie den Abschiebungen und damit den Taliban ausgeliefert. Die organisierte Verantwortungslosigkeit der Bundesregierung hat dafür den Grundstein gelegt.
Alle Betroffenen sind mit gültigen pakistanischen Visa nach Islamabad gekommen, um dort die Einreise nach Deutschland zu beantragen. Aber die Prüfung der „Fälle“ dauerte schon unter der Vorgängerregierung so lange, dass inzwischen nahezu alle Visa abgelaufen sind. Seit einiger Zeit verlängern die pakistanischen Behörden keine Visa mehr. Damit sind die Afghan*innen „illegal“ in Pakistan und können abgeschoben werden. Die deutschen Behörden haben ihre Illegalität produziert. Aber natürlich wollen deutsche Behörden nicht dafür verantwortlich sein, man muss sich ja schließlich an die Verfahren halten.
Und wie gesagt: Afghan*innen in den Aufnahmeprogrammen werden in Islamabad einer eingehenden Sicherheitsüberprüfung durch deutsche Sicherheitsbehörden – Verfassungsschutz, BKA, Bundespolizei – unterzogen. Das dauert. De facto wird seit einigen Monaten in Islamabad nicht mehr geprüft.
Entzogene Aufnahmeerklärungen
Die Bundesregierung nahm den kurzen militärischen Schlagabtausch zwischen Indien und Pakistan Anfang Mai zum Anlass, nach dem Ende der Feindseligkeiten und dem Waffenstillstand zwischen beiden Ländern das Sicherheitspersonal aus der Botschaft in Islamabad abzuziehen. Aus Sicherheitsgründen, selbstverständlich. Es geht sehr viel um Sicherheit bei diesen Prüfverfahren, aber niemals um die Sicherheit der gefährdeten Afghan*innen. Gleichzeitig verringert sich die Zahl der Afghan*innen in den deutschen Aufnahmeprogrammen in Islamabad auf wundersame Weise. Waren es vor gut einem Monat noch etwa 2.600 Menschen, ist inzwischen nur noch von etwas über 2.000 die Rede.
In einer Hinsicht gehen die Prüfungen weiter und Afghan*innen bekommen ihre Aufnahmeerklärungen entzogen. Zwischen den verschiedenen deutschen Aufnahmeprogrammen gibt es einen feinen juristischen Unterschied: Nur die Afghan*innen im Bundesaufnahmeprogramm bekommen eine Aufnahmezusage, die nur durch ein förmliches Widerrufsverfahren entzogen werden kann. Betroffene können dagegen Einspruch erheben und klagen. Die Aufnahmeerklärungen der älteren Menschenrechtsliste und des Ortskräfteverfahrens können dagegen schnell und einfach per E-Mail entzogen werden.
Die Betroffenen müssen die Unterkünfte in Islamabad verlassen und landen auf der Straße. „Illegal“ und in der Folge der Abschiebung völlig schutzlos ausgeliefert. Für sie ist Deutschland ja nicht mehr zuständig. Die Bundesregierung will keine gefährdeten Afghan*innen aufnehmen, sondern die humanitären Aufnahmeprogramme abschaffen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass, frei nach Friedrich Merz, Pakistan dabei die „Drecksarbeit“ für die Bundesregierung macht.
Vielleicht ein Lichtblick: Die Bundesregierung hat ihre Beschwerde gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin zurückgezogen, dem zufolge einer afghanischen Familie mit einer gültigen Aufnahmezusage sofort ein Visum ausgestellt werden muss. Allerdings sagt das Auswärtige Amt, dass nun noch diverse Vorbereitungen getroffen werden müssen und dass sich das Verfahren hinzieht, unter anderem weil bei den pakistanischen Behörden die Ausreisegenehmigung für die Familie beantragt werden muss. Vielleicht ist die Familie dann schon abgeschoben. Die organisierte Verantwortungslosigkeit geht weiter. Die Drecksarbeit auch.
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