Abschiebungen aus dem Kirchenasyl: Streit um Härtefall-Einschätzungen
Niedersachsen möchte in Zukunft nicht mehr aus dem Kirchenasyl abschieben. Die Kirche und das Bamf sollen sich besser über Härtefälle verständigen.
Niedersachsens Flüchtlingsrat erinnerte daran, dass es in dem Bundesland zuletzt im Jahr 1998 einen Fall von Räumung eines Kirchenasyls mit anschließender Abschiebung gegeben hatte. Landesinnenministerin Daniela Behrens (SPD) kündigte nach dem Vorfall ein „zeitnahes“ Gespräch mit der Kirche an. Es fand am vergangenen Dienstag statt, auch Vertreter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) und der Landesaufnahmebehörde nahmen daran teil.
Eingriffe ins Kirchenasyl solle es nach ihrem Willen in Niedersachsen bis auf Weiteres nicht mehr geben, kündigte Behrens nach dem Treffen an: „Für die niedersächsische Landesregierung und mein Haus ist klar, dass wir das Kirchenasyl anerkennen und dass wir keine Rückführungen oder Überstellungen aus dem Kirchenasyl durchführen wollen.“
Gleichzeitig unterstrich die Ministerin, dass das Land bei den Entscheidungen über das Kirchenasyl nicht eingebunden sei. Es fungiere lediglich als Vollzugshelfer und befinde sich in einer „Sandwich-Position“ zwischen den Kirchen und dem Bamf. Das Bundesamt erkenne nur in den wenigsten Fällen an, dass es sich bei den Kirchenasylen um Härtefälle handele: „Das bringt uns als Land in eine Situation, in der wir Überstellungen, wie die der Familie aus Bienenbüttel nach Spanien, in Vollzugshilfe für das Bamf trotz menschlicher Härten durchführen müssen“, sagte Behrens.
Daniela Behrens, niedersächsische Innenministerin
Ihr sei deshalb sehr daran gelegen, „dass die Kirchen und das Bamf wieder ein gemeinsames Verständnis davon entwickeln, wann ein Härtefall vorliegt“. Ziel müsse ein gemeinsames Verständnis von „Härtefall“ und eine Wiederauflage des 2015 zwischen Kirche und Bamf vereinbarten Dossierverfahrens sein. Nach dieser Absprache kann die Kirche Dossiers über besondere Härtefälle beim Bamf einreichen, um eine Anerkennung des Asyls zu erwirken. Nach Auffassung des Bamf lag bei der aus Bienenbüttel abgeschobenen russischen Familie, die in Deutschland Asyl beantragt hatte, kein Härtefall vor. Die Eltern und ihre beiden Kinder wurden nach Barcelona geflogen, weil sie über Spanien nach Westeuropa eingereist waren.
Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister bezeichnete am Dienstag die Beendigung des Bienenbütteler Kirchenasyls im Mai als „schmerzliche und schockierende Erfahrung“. Ein solches Vorgehen ohne vorherige Absprachen mit der Kirche bedeute für die geflüchteten Menschen eine große Härte und sei auch für die betreuenden Personen in der Kirchengemeinde erschütternd.
„Kirchengemeinden werden auch in Zukunft nach sorgfältiger Prüfung und als Gewissensentscheidung Kirchenasyl gewähren“, betonte Meister. „Aus christlicher Sicht ist das dann der Fall, wenn für die schutzsuchenden Menschen Härten für die Gesundheit, das Leben oder die Psyche bestehen.“
Kirchenasyle würden aus „christlicher und humaner Überzeugung“ gewährt, sagte Meister. Der „Respekt vor den Sakralräumen der Kirchen“ sei eine hohe Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften. Kirche und Bamf wollen die Gespräche bald fortsetzen.
Zahl der Menschen im Kirchenasyl stark gestiegen
Die Zahl der Menschen im Kirchenasyl ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Allein in Niedersachsen waren es nach Zahlen des Bamf im vergangenen Jahr 137 Fälle mit 159 Personen, im ersten Quartal 2024 gab es demnach 34 Fälle von Kirchenasyl mit 39 Personen. 2022 waren es 65 Fälle mit 82 Menschen gewesen.
Bundesweit wurde nach Angaben der Arbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche im Jahr 2023 die bisherige Höchstzahl von rund 2.000 Kirchenasylen erreicht. In etwa 95 Prozent der aktuellen Fälle geht es nicht um Abschiebungen in die Heimat der Flüchtlinge, sondern um Überstellungen in ein anderes europäisches Land im Sinne der Dublin-Verordnungen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance