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Abschiebung nach Tschetschenien„Das wäre der Super-GAU“

Öffentlicher Druck hat die Abschiebung einer Familie nach Tschetschenien verhindert. Anderen, denen Ähnliches droht, verschafft Corona eine Atempause.

Dieses Schicksal konnte für Familie M. erst mal abgewendet werden: Abschiebungsflug in Leipzig Foto: dpa

Am 21. Februar veröffentlicht der Bamberger Landrat Johann Kalb (CSU) ein Foto auf seinem Facebook-Profil, auf dem er – vermeintlich – mit dem bayrischen Innenminister und Parteifreund Joachim Herrmann telefoniert. Eine unspektakuläre Aufnahme, eigentlich, aber ein unschätzbar wertvolles Bild für den 17-jährigen Ilias M. und seine Familie. Für sie bedeutet es das Ende der Angst. „Wir haben in den Wochen davor kaum geschlafen“, sagt Ilias.

Mit seinem Anruf hat der Landrat die Abschiebung der tschetschenischen Familie vorerst gestoppt. Der Fall liegt nun beim Petitionsausschuss des Bayrischen Landtags, der ein Bleiberecht beschließen kann.

Familie M. kam 2013 nach Deutschland. Ilias hat drei Geschwister, die beiden jüngsten sind in Deutschland geboren. Ilias selbst und seine Schwester Iasmina besuchen ein Bamberger Gymnasium, sprechen Deutsch, gelten als gut integriert. Als Ethiklehrer Michael Blank vom Abschiebefehl auf Geheiß der Regierung von Oberfranken hört, versteht er im ersten Moment gar nicht, wie das sein kann: „Ich dachte, was, warum denn? Mir schien das völlig abwegig.“

Es ist Michael Blank, der der Geschichte ihre Öffentlichkeit verschafft. Er setzt alle relevanten Kommunalpolitiker in Kenntnis, wendet sich an die Presse, postet einen offenen Brief, der vielfach geteilt wird, Schüler starten eine Online-Petition, die innerhalb von zwei Tagen 2.500 Unterschriften sammelt. Am 21. Februar reagiert Landrat Kalb auf den öffentlichen Druck. Blank: „Die Politiker haben irgendwann gemerkt, dass sie sich nicht mehr wegducken können, vielleicht kam noch der Wahlkampf dazu. In der Kombination sind dann alle gesprungen.“

Nicht allen Eltern passt das Engagement Blanks

Der Lehrer argumentiert unter anderem mit der medizinischen Situation der Kinder. Die zweitjüngste Schwester von Ilias ist fast taub, Ilias selbst leidet an Herzrhythmusstörungen. Ihm liegt ein Bescheid zur Registrierung für das russische Militär in Tschetschenien vor. „Ein Junge, der in Deutschland sozialisiert ist“, so Blank, „soll dort quasi als Ausländer in die Armee, um seine Landsleute zu unterdrücken. Das wäre der Super-GAU.“

Nicht allen Eltern passt das Engagement Blanks. Er erhält E-Mails, in denen ihm vorgeworfen wird, er würde Ideologie betreiben und versuchen, den Rechtsstaat auszuhebeln. Blank sagt, darum sei es ihm nie gegangen, vielmehr um eine rechtsstaatliche Neubewertung der Situation. Aber: „Ich kann mich doch nicht als Ethiklehrer vor meine Schüler stellen und mit Vehemenz westliche Werte predigen und dann in dieser Situation nicht einmal versuchen, etwas zu tun.“

Während deutsche Minister in aller Welt um Fachkräfte werben, sollen eine Schülerin und ein Schüler abgeschoben werden, die nur ein paar Jahre vom höchsten schulischen Abschluss entfernt sind. Gleichzeitig geschieht die Geschichte der Familie M. in einer Zeit, in der uns die Not der Flüchtenden aus Syrien und dem Irak besonders drastisch vor Augen geführt wird, auf den griechischen Inseln sind Tausende unter schrecklichen Bedingungen gestrandet.

Seit 2013 wird russische Teilrepublik von Ramsan Kadyrow regiert, eingesetzt und gestützt von Vladimir Putin. „Aus allen Menschenrechtsberichten, die wir kennen, geht hervor, dass dort ein blutiger Diktator an der Macht ist“, sagt Ekkehard Maaß, Vorsitzender der deutsch-kaukasischen Gesellschaft. Maaß ist seit über 20 Jahren in der Asylarbeit tätig, sein Fokus liegt auf Nordkaukasien, nach Russland einreisen darf er nicht mehr. Seit Anfang März berät er das BAMF in Sachen Tschetschenien.

Zustände wie in Nordkorea

Maaß vergleicht die Zustände in der Teilrepublik mit denen in Nordkorea. Kadyrow habe eine Willkürherrschaft ohne irgendeine Form rechtsstaatlicher Freiheit installiert, politische Gegner würden von seiner Privatarmee verschleppt und gefoltert. „Ich habe dem Bundesamt Bilder gezeigt, auf denen man sieht, dass Kadyrow 30 seiner eigenen Männer foltern, ermorden und die geköpften Leichen aufhängen ließ. Damit jeder sehen kann: Das passiert mit den Leuten, denen ich nicht vertrauen kann.“

Er freue sich einerseits beim BAMF Gehör zu bekommen, sagt Maaß, ist sich aber auch sicher: „Ich glaube nicht, dass ich ihnen etwas Neues erzählt habe. Sie wissen mehr, als sie anwenden. Es wird alles getan, um die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland zu senken.“

Laut Verfassungsschutz leben rund 50.000 Menschen aus Tschetschenien in Deutschland. 2017 wurden 187 von ihnen abgeschoben, 2018 waren es 422, eine Zahl für das Gesamtjahr 2019 liegt noch nicht vor. Die deutschen Behörden begründen die Abschiebungen in der Regel mit der „inländischen Fluchtalternative“, also der Möglichkeit, sich in einem anderen Teil Russlands anzusiedeln.

Menschen wie Maaß oder der Anwalt der Familie M. Reinhard Marx betonen aber, dass das nicht so einfach sei, zum einen weil Nordkaukasier im Rest Russlands diskriminiert würden, zum anderen weil das tschetschenische Regime registrierte Rückkehrer in der ganzen Föderation ausfindig machen könne. Maaß: „Manche Rückkehrer sind untergetaucht. Die leben ohne polizeiliche Registrierung irgendwo anonym in Russland.“

Erbarmungslose Gerichte

Anwalt Reinhard Marx beobachtet, dass einzelne Gerichte wie etwa das Verwaltungsgericht Bayreuth die Asylanträge von Menschen aus dieser Region grundsätzlich ablehnten. „Man geht mit der Lupe durch die Akte, um Detailfragen zu großen Widersprüchen aufzubauschen. Die haben keine Chance. Daran können Sie sehen, dass man dort voreingenommen ist.“

Für die Bamberger Familie M. ist das Ringen mit den Behörden nun vorerst vorbei. Weil die Lokalpolitik den Daumen hob. Konkret möchte der Landrat, dass die Ausländerbehörde Paragraph 25a des Aufenthaltsgesetzes geltend macht: Ein jugendlicher Heranwachsender erhält die Aufenthaltserlaubnis, weil er seit mindestens vier Jahren eine deutsche Schule besucht. Die Familie hatte bereits im Vorfeld versucht, auf diesem Weg an eine Aufenthaltserlaubnis zu kommen – ohne Erfolg.

Das BAMF teilt auf Anfrage mit, auf den konkreten Fallen aus Datenschutz nicht Bezug nehmen zu können. Alle Asylverfahren seien Einzelfallprüfungen, bei denen die individuelle Fluchtgeschichte bewertet werde: „Anhand des Vortrags prüft der Entscheider, welche Gefahr dem Asylsuchenden bei einer möglichen Rückkehr ins Herkunftsland droht und entscheidet, ob und welcher Schutz zu gewähren oder ob ein Asylantrag abzulehnen ist.“

Ilias erzählt, die Ablehnung des Antrags sei unter anderem damit begründet worden, dass seine Eltern nicht gut Deutsch sprächen und keine Arbeit hatten. Beides liegt auch im abgelehnten Asylantrag der Familie begründet: keine Erwerbsduldung, kein Anrecht auf Deutschkurse. Das alle ändert sich mit dem Anruf des Landrats. Zum Zeitpunkt des Gesprächs hat Ilias Mutter ein Vorstellungsgespräch anstehend. Familie M. fühlt sich sicher, zumindest vorerst.

Indessen hat sich für andere Menschen, die von Abschiebung bedroht sind, eine Atempause ergeben. Im Februar – und damit im Fall der Familie M. – noch kein Thema, hindert die Coronapandemie die deutschen Behörden inzwischen an ihren Bemühungen, Menschen in ihr Herkunftsland zurückzuzwingen. Abschiebungen in die Hauptherkunftsländer von Asylbewerbern sind derzeit ausgesetzt.

Auch Dublin-Überstellungen von Geflüchteten in die EU-Länder, wo sie zuerst EU-Boden betraten, werden vom BAMF derzeit nicht durchgeführt. Abschiebungen in die Russische Föderation sind davon generell zwar erstmal nicht betroffen, die Regierung von Oberfranken teilt auf Anfrage jedoch mit, dass der Flugverkehr nach Russland seit dem 27. März „und bis auf Weiteres“ eingestellt sei.

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8 Kommentare

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  • Es gehört zu den Besonderheiten des deutschen Asylrechts, dass eine Gefahr für Leib und Leben in der Heimat kein Asylgrund sind. Wer vor Kadyrow flieht hat keinen legitimen Grund vorzuweisen. Es scheint, dass sich das BAMF ein wenig zu sehr von Schröders Feststellung über das lupenrein demokratische Russland hat einlullen lassen. Tschetschenien ist einfach ein Schurkenstaat in einem Schurkenstaat. Grundrechtsschutz gibt es dort nicht. Die Menschen sind der Willkür Kadyrows ausgeliefert. Für das BAMF geht das in Ordnung.

  • Die Argumentation der deutschen Behörden ist absolut plausibel.

  • 8G
    82286 (Profil gelöscht)

    Ich lasse mich gerne eines anderen belehren. Aber der Aufwand und die Zahl der Abschiebungen im Verhältnis zu den Zahlen der bei uns lebenden Menschen (Geflüchteten, aus welchen Gründen auch immer), erscheint mir so gering, daß ich es nur als Repressiale empfinden kann.



    Geschuldet dem Einknicken vor den Braunen.

  • Jetzt muss nur noch der Widerspruch aufgeklärt werden, dass Russland in der linken Presse sonst immer als das “Land of hope and glory” dargestellt wird.

    • @La Bahia:

      Das wird es nicht. Einfach mal das Archiv bei der Taz oder auch Konkret und anderen linken Medien durchsuchen.

  • soweit rechtstaatlichkeit ein normativer und kein bloss formaler grundsatz sein soll erfordert sie es alle menschen gleich zu behandeln.sondergesetze die einen bezug zur nationalität herkunft oder abstammung haben und menschen in abhängigkeit von solchen kriterien ungleich behandeln sind eigentlich keine gesetze oder zumindest keine die dem prinzip der rechtstaatlichkeit entsprechen .im grundgesetz heisst es



    "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich"da hier ausdrücklich von menschen und nicht von bürger*innen die rede ist können gesetze die zwischen menschen und bürger*innen einen unterschied machen eigentlich nicht verfassungskonform sein.



    die in opportunistischer anpassung an rechtspopulistische xenophobie gemachten sondergesetze gegen ausländer*innen sind ihrem ungeist nach verfassungswidrig.



    abschiebung per se ist ein menschenrechtswidriges unrecht.

  • "Familie M. kam 2013 nach Deutschland." Warum braucht unser Rechtsstaat mehr als 7 Jahre um zu entscheiden? Schon das ist grausam. Die permanente Unsicherheit, die ständige Angst, dass man vielleicht doch nicht bleiben darf. Und die Lage in Tschetschenien war all die Jahre ja auch nicht besser als heute.



    Fairerweise muss man aber auch fragen, was denn der konkrete Asylgrund ist, der geltend gemacht wird. Dazu schweigt die taz leider. Einzig der Umstand, Bürger einer Diktatur zu sein, ist nämlich noch keine Asylgrund. Es gibt Millionen von Bürgern in Diktaturen, die sich irgenwie arrangiert haben und nicht konkret verfolgt werden. Nicht dass das schön wäre, aber das Asylrecht schützt besonders die, die Verfolgung fürchten müssen, sei es als politische Dissidenten, wegen ihrer Religion oder ähnliches.

    • @Winnetaz:

      Spätestns mit der Flucht der FAmilie liegt der Verfolgungsgrund klar auf der HANd.

      JEDE*R der der zu Kadyrow zurück muss ist dort seines Leens nicht mehr sicher.

      Insofern erübrigt sich hier die Diskusion über die Vergangenheit.

      Nicht schön, aber das ist nun mal die Tatsache.

      Ich kannte einen alten Herrn der alleine nach Deutschlaand gekommen war. nicht anerkannt wurde und immer wieder abgeschoben sollte. zuletzt versuchte man ihn wenigstens im RAhmen von "Dublin" nach Polen abzuschieben.



      Schom im Flieger bekam er einen Herzanfall und durfte dann hier bleiben.



      DieDublin- Frist war dann verstrichen.



      Ihm blieben dann eineinhalb Jahre relativer Ruhe in einem Einzelzimmer in der Gemeinschaftsunterkunft und so war es ihm dann doch vergönnt -gegen den Willen der Behörden - wenigstens in FRIEDEN sterben zu können.



      An seiner Herzkrankheit.