9. November 1989 in der taz-Redaktion: Als Schabowski sprach
Taz-Korrespondent Erich Rathfelder erinnert sich an den Abend, als die Mauer fiel: Angst vor falschen Schlagzeilen, Bier am Checkpoint Charlie und lächelnde Vopos.
Da stürmte der Mann, der die einlaufenden Ticker von der Telex-Maschine abriss und auf die Fächer der Redakteure zu verteilten hatte, in den Raum und deutete auf einen der Ticker. „Schaut euch das mal an, was bedeutet das?“ Wir versuchten, die verschwurbelte Nachricht des SED-Politbüromitglieds Schabowski zu entziffern. Was, Reisefreiheit gelte ab Mitternacht, ist jetzt die Mauer offen?
Uns blieb die Spucke weg, es blieb aber keine andere Deutungsmöglichkeit. Sofort war klar: Wir mussten die erste Seite des Berlinteils der Zeitung – für die westdeutschen Ausgaben war alles schon zu spät – umschmeißen. Und zwar sehr, sehr schnell. Raul tippte einen kurzen Text. „Die Mauer ist auf“, titelten wir. Und Max Thomas hatte noch die Idee, dem Ganzen einen umweltbewussten Touch zu verpassen: „Kommt alle mit der S-Bahn!“ Also nicht mit umweltschädlichen Trabbis, sollte das ironisch bedeuten – wir witzelten angesichts des erdrückenden historischen Augenblicks.
Mit taz-Titelseiten zum Checkpoint Charlie
Ich kopierte noch Hunderte Titelseiten und ging runter zum Checkpoint Charlie. Die Leute dort schauten ungläubig auf die Kopien. Doch schon sammelten sich Leute entlang der Mauer. Es wurden immer mehr. Die damalige Chefredakteurin lud noch ein zu einem Umtrunk zu sich nach Hause. Sie war besorgt. War die Schlagzeile falsch??? Sie bekam Muffensausen.
Mich hielt nichts mehr am Checkpoint Charlie. Ich kam noch rechtzeitig zum Grenzübergang Invalidenstraße, andere gingen zum Reichstag oder zu innerstädtischen Grenzübergängen. Punkt 12 Uhr sammelte sich in der Invalidenstraße eine Menschenmenge, unter ihnen der Regierende Bürgermeister Walter Momper, am Schlagbaum. Wir hoben ihn gemeinsam mit anderen Leuten hoch, ich fragte Momper nach seinen Gefühlen. Angesichts der von der anderen Seite strömenden Menge sagte er ruhig und gefasst. „Berlin ist wieder Berlin.“
Alles blieb ruhig. Die meisten Vopos (Volkspolizisten) waren erstarrt, einige lächelten. Sie ließen die Menge aus dem Osten nach Westen und die aus dem Westen nach Osten ziehen. Es gab in diesem Moment keine Sprechchöre, es gab keine aufgewühlten Emotionen. Es war ein ruhiges Aufeinanderzugehen, ein beindruckendes und würdiges Schauspiel. Das ich eine halbe Stunde genießen konnte.
Kein Schnaps in der taz für den Besuch aus dem Osten
Von der Invalidenstraße ging ich zu Fuß zur taz zurück. Am Reichstag vorbei. Zum Checkpoint Charlie, dort gab es kein Halten mehr. Offene Freude brach sich Bahn. Alle umliegenden Kneipen wie überall in ganz Westberlin waren offen. Das Bier floss in Strömen. Nicht in der taz allerdings. Da war ja nix vorbereitet, die Besucher aus dem Osten würdig zu empfangen, wer hätte das auch tun sollen? Es blieb es um 4 Uhr morgens bei netten Worten mit jenen Alternativ-Leuten vom Prenzlberg, die gespannt auf taz und die alternative Westzene waren. Und für die das erste Treffen enttäuschend verlief.
Es blieb also nur noch, heimzugehen und den müden Knochen eine wenig Ruhe zu gestatten. Berlin was Berlin again.
Anmerkung: Wir, die taz, waren eine alternative Zeitung und Flaggschiff der westlichen, damals so genannten Alternativszene. Die östliche Alternativszene war ein bisschen anders gelagert als wir. Später ließen sich beide Seiten vom Mittelschichtsleben verführen. Beide Seiten haben sich das Markenzeichen „alternativ“ von den Rechten klauen lassen.
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