50 Jahre nach Martin Luther King: Die nächste Generation
Walter „Hawk“ Newsome kämpft in New York gegen grassierende Polizeigewalt. Er sieht sich in der großen Tradition von King.
Der zwei Meter große Newsome hat einen kahlgeschorenen Kopf, einen Vollbart, den Körper eines Footballspielers und ein gewinnendes Lächeln. Wie viele Afroamerikaner hat auch ihn immer neue tödliche Gewalt gegen schwarze Männer zum Aktivisten gemacht. „Es tut weh“, sagt er über die Tragödien, die ihn auf die Straße treiben. Er hat protestiert, als 2012 der Teenager Trayvon Martin in Florida von einem privaten Wachschützer erschossen wurde, als zwei Jahre später der Zigarettenverkäufer Eric Garner in New York von einem Polizisten erwürgt wurde und als 2016 der CD-Händler Alton Sterling von einem Polizisten in Louisiana nach einem Kopfschuss starb. Allen Opfern gemeinsam war, dass sie schwarz und unbewaffnet waren, den Tätern, dass keiner von ihnen jemals im Gefängnis landete.
Ein halbes Jahrhundert nach dem Mord an Martin Luther King Jr. führt eine neue Generation von Aktivisten den Kampf des schwarzen Bürgerrechtlers und Predigers weiter. Walter „Hawk“ Newsome gehört zu ihnen. Er ist Präsident von Black Lives Matter of Greater New York. „Dr. King war einer der eindrucksvollsten Menschen und Freiheitskämpfer aller Zeiten“, schwärmt er, „eine Inspiration für uns alle“. King hat sich auf die Abschaffung der Rassentrennung und das Wahlrecht für alle konzentriert. Für Newsome stehen die Polizeigewalt gegen Afroamerikaner sowie die ökonomischen Ungleichheiten im Vordergrund seines Kampfes.
Erst vor einer Woche musste Newsome wieder einen Namen durch die Straßen von Manhattan rufen und Aufklärung und Konsequenzen verlangen. Der 22-jährige Stephon Clark war am 18. März im Garten seiner Großmutter in Sacramento, Kalifornien, von der Polizei erschossen worden. Sechs Kugeln trafen den unbewaffneten schwarzen Mann in den Rücken. Die Polizisten schossen auch noch, als er schon am Boden lag.
Mit dem Megafon an der Spitze der Demonstration
Wie üblich hat Newsome bei der Demonstration ein Megafon in der Hand und zieht in der ersten Reihe am New Yorker Times Square los. Doch für ihn und zehn andere Protestierende endet die Demonstration schon vor ihrem geplanten Ende in Polizeihaft. Der Vorwurf lautet „Behinderung einer Regierungsbehörde“. Für Newsome ist es die dritte Festnahme bei einer Demonstration. Erst wenige Tage zuvor waren monatelange Ermittlungen gegen ihn wegen desselben Vergehens eingestellt worden. Bei jener Gelegenheit, sagt Newsome, hätten Polizisten seinen Kopf so hart auf den Boden geschlagen, dass er noch Monate später physiotherapeutische Behandlung benötigt. Über seine Klage gegen die New Yorker Polizei ist bislang nicht entschieden.
Wie Martin Luther King vor einem halbes Jahrhundert sieht Newsome seine Aufgabe darin, seine Landsleute „von der Couch auf die Straße“ zu treiben, wie er es formuliert. Dabei hat er es mit Menschen zu tun, die kaum unterschiedlicher sein könnten. „Schwarze sind am Boden zerstört“, sagt er, „aber wir müssen auch jene Weißen erreichen, die die Gewalttaten nicht einmal zur Kenntnis nehmen.“
Walter „Hawk“ Newsome
Newsomes Methoden stammen von King: die Verantwortlichen nerven und öffentlich vorführen, die Medien als „Verstärker“ nutzen und gewaltfrei bleiben. „Dr. King war ein brillanter Stratege“, sagt Newsome, „er hat die Herzen in diesem Land bewegt.“
Newsome hat lange mit den radikalen Ideen seines Vaters sympathisiert. Aber anders als er war er selbst in seiner Jugend nicht politisch aktiv und anders als King wuchs er auch nicht religiös auf. Newsomes Jugend war geprägt von Alkohol und Wut. Erst spät vollzog er eine Kehrtwende, ließ sich taufen, schwor dem Alkohol ab und nahm den Namen eines Raubvogels an, den er als Beschützer empfindet: des Falken. Seither nennt er sich Hawk.
Grassierende Polizeigewalt
Heute haben die USA einen nationalen Feiertag an Kings Geburtstag, ein nationales Monument für King im Kreis der Denkmäler für die weißen Präsidenten in Washington und landesweit Straßen, Schulen und Sportplätze, die nach ihm benannt sind.
Aber zugleich grassieren Polizeigewalt und Inhaftierungen in den USA – und das sind bei Weitem nicht die einzigen Probleme von Afroamerikanern. Auch wirtschaftlich sind sie eine benachteiligte Bevölkerungsgruppe geblieben, die überproportional unter der Finanzkrise von 2008 litt, besonders viel Hauseigentum verloren hat und tiefer in die Armut gesunken ist.
Newsome lebt nicht mehr in der Bronx, wo Afroamerikaner und Latinos die Mehrheit stellen, sondern in Manhattan. Zu seinen Alliierten gehören jetzt auch Weiße und Asiaten. Und zu seinen Zielen zählt nicht mehr nur die Überwindung der Ungleichheit, sondern auch der Kampf für bessere Schulen und gesünderes Essen. Doch bei einer Strategierunde in der 5th Avenue lachen er und seine Freunde bitter über die „postrassistische Gesellschaft“, die manche Beobachter nach der Wahl von Barack Obamas zum Präsidenten proklamiert hatten. „Wir sind als Sklaven hierher verschleppt worden“, sagt einer von ihnen, „heute gehen die Dollar zwar durch unsere Hände, aber die Anhäufung des Reichtums findet anderswo statt. In den Geschäften werden wir so misstrauisch beäugt wie kein weißer Kunde.“
Bei seinem eigenen Versuch, die Herzen auch der anderen Seite zu erobern, ist Newsome bereit, weit zu gehen. Im vergangenen September mischte er mit ein paar Freunden mehrere hundert weiße Nationalisten auf, die sich in Washington zu einer Sympathiekundgebung für Präsident Donald Trump versammelt hatten. Die Black-Lives-Matter-Aktivisten kamen in schwarzen Kleidern mit den panafrikanischen Farben Rot, Gold und Grün auf ihren Flaggen und T-Shirts. Sie wurden mit Buhrufen empfangen, dazu zischte es: „Verlasst das Land, wenn es euch hier nicht gefällt.“
Doch dann holte ein Mann Newsome auf die Bühne und überreichte ihm für zwei Minuten das Mikrofon. Der rief gegen die anbrandenden „USA, USA“-Slogans ins Mikrofon: „Ich bin ein stolzer Amerikaner und ein Christ.“ Und erklärte, dass er nicht gegen alle Polizisten sei, sondern nur gegen schlechte Polizisten: „Die gehören ausgetauscht, genau wie schlechte Politiker.“ Anschließend drückte ihm der Anführer einer weißen Bürgerwehr aus Florida seinen Sohn für ein Erinnerungsfoto in den Arm und das Video von seiner Rede wurde millionenfach geklickt. In der Black-Lives-Matter-Bewegung aber hagelte es Kritik an Newsomes Alleingang und daran, dass er eine Versammlung weißer Nationalisten durch seinen Auftritt aufgewertet habe.
Martin Luther King hatte sich am Schluss seines Lebens auf soziale Ungerechtigkeiten konzentriert. Er kritisierte zudem den Vietnamkrieg und nannte sein Land den „weltweit größten Lieferanten von Gewalt“. Kurz vor seinem Tod reiste er zweimal nach Memphis, um dort den Streik der schwarzen Beschäftigten der Müllabfuhr zu unterstützten, die für gleichen Lohn kämpften.
Mit der Ausweitung seines Engagements verlor King die Unterstützung der Medien, des demokratischen Parteiapparats und des damaligen Präsidenten Lyndon B. Johnson. Aber seine Anhänger organisierten posthum die noch von ihm geplante Poor People’s Demonstration in Washington, um das Leben von „armen Amerikanern aller Rassen“ zu verbessern.
„Wir haben uns ausgeruht, anstatt weiter zu kämpfen“
„Dr. King hatte nicht genügend Zeit, um sein Potenzial zu realisieren“, sagt Newsome ein halbes Jahrhundert später dazu. Er macht dessen Zeitgenossen und die Nachgeborenen für die gegenwärtige Lage von Afroamerikanern verantwortlich: „Wir waren nicht auf seiner Höhe. Wir haben uns auf den Erfolgen ausgeruht, anstatt weiter zu kämpfen“.
Nach dem Mord an King, als viele Städte in den USA in Aufruhr und Gewalt gerieten, kam es zu einer Welle von Reformen. Der Stadtrat von Memphis akzeptierte plötzlich die Forderungen der Müllarbeiter. Präsident Johnson hatte es ganz eilig, ein Gesetz gegen die Diskriminierungen Schwarzer auf dem Immobilienmarkt zu unterschreiben.
Doch danach erschütterten neue Katastrophen die schwarze Community, darunter die Crack-Epidemie der 1980er Jahre und der Aufbau eines gigantischen Gefängnissystems. Selbst die Wahl des ersten schwarzen Präsidenten blieb vor allem ein Symbol. „Acht Jahre gegen fünf Jahrhunderte“, sagt Newsome zu Obamas Amtszeit. Als Hillary Clinton sich für die Präsidentschaft bewarb, verweigerte er ihr seine Stimme: „Sie hatte keinen ernstzunehmenden Plan gegen die Polizeigewalt.“
Im Sommer 2016 demonstrierte er zusammen mit Tausenden Aktivisten sowohl in Cleveland gegen den republikanischen Parteitag als auch in Philadelphia gegen den der Demokraten. Das Ergebnis, die Wahl von Donald Trump, nennt Newsome ein „letztes Aufbäumen der Good Old Boys“ – der weißen konservativen Männer.
Wie andere Aktivisten der neuen Generation erwartet er wenig von den großen Bürgerrechtsorganisationen, einschließlich der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People), der King damals angehörte. Sie seien „zu zaghaft“ und gehörten demselben „Establishment“ an wie die Demokratische Partei. Stattdessen geht es Newsome darum, neue Politiker zu finden, die Polizei und Justiz kontrollieren und reformieren. „Die Polizeigewalt wird enden, sobald sie bestraft wird“, davon ist Newsome überzeugt.
Empfohlener externer Inhalt
Am Todestag von Martin Luther King am Mittwoch wird Walter „Hawk“ Newsome 41 Jahre alt. Er wird eine Demonstration von Harlem aus bis zu Riverside-Kirche am Hudson-Fluss anführen, dort, wo King 1967 seine Rede gegen den Vietnamkrieg gehalten hat. Newsome will bei dabei auch ein Gedicht vortragen, das er vor einer Woche in Polizeihaft geschrieben hat. Wie King, dessen Aktionen ihn immer wieder hinter Gitter führten, bereut er nichts. Stattdessen sieht er neue Partner auf der Straße, von denen er viel erwartet: „Heute Nacht habe ich leidenschaftliche schwarze, braune und weiße Menschen in Einheit demonstrieren sehen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“