30 Jahre Judith Butlers „Gender Trouble“: Gewissheiten in Frage stellen
Das Werk gab entscheidende Impulse für die Weiterentwicklung des Feminismus. Der Kampf um die Deutungshoheit dauert bis heute an.
Als „Gender Trouble“ in Deutschland einschlug, war ich 21 Jahre alt und studierte gerade Philosophie in Berlin. Für uns in der Lesegruppe war „Gender Trouble“ mit seinen vielen philosophischen Bezügen nur schwer zu verstehen, ein richtiger Brocken, aber total faszinierend. Mühsam klamüserten wir zusammen, dass diese Judith Butler, von der wir noch nie zuvor etwas gehört hatten, den Feminismus auf die Füße stellen wollte, indem sie die vielen frauenpolitischen Diskussionen um den weiblichen Körper für nicht so wichtig erklärte. Biologie – so what? Hetero als Norm, pffffff.
Nicht die Natur, auch nicht das angeborene Geschlecht bestimme schließlich den Status einer Person, sondern kulturell variable Zuschreibungen. Entscheidend sei das kulturelle Geschlecht, gender, und das sei nur lose mit dem biologischen verbunden. Gleichzeitig bestimmen vor allem die Geschichten, die über das natürliche Geschlecht erzählt werden, die allgemeinen Vorstellungen von Natur. Diese Überlegungen hatten es in sich. Man wurde nicht einfach als Mädchen oder Junge geboren? Das brach mit fast allem, was unsere Eltern uns bislang beigebracht hatten. Ernst nach und nach lernten wir Gender zu buchstabieren.
Dass das Biologische vom Kulturellen zu trennen ist, verband sich mit der nicht weniger aufreizenden Idee, dass jeder Mensch das kulturelle Geschlecht ständig neu aufführen und unter Beweis stellen müsste, ob mit der Stimmlage, der Kleidung, dem Hüftschwung, Augenaufschlag oder was auch immer. Erst wenn die Performance des gewollten oder zugeschriebenen Geschlechts gelingt, wenn sie also ins Bild und in den Kontext passt, verleiht sie ihrer Träger*in Autorität. Geht sie schief, macht sich die Person lächerlich. In jedem Fall gilt: It’s the culture, stupid! Und Kultur ist immer eine Konstruktion. Also veränderlich.
Natürlich hatte Simone de Beauvoir schon 50 Jahre zuvor erklärt, dass niemand als Frau geboren, sondern erst zu ihr gemacht werde. Doch Butler ging weiter und konzentrierte sich auf Menschen, die sich selbst als queer bezeichneten. Nicht mehr der Gegensatz zwischen Mann und Frau galt ihr als die zentrale Achse der Macht. Vielmehr stellt sie den Unterschied zwischen Selbst- und Fremdbestimmung aller Geschlechter in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen.
Heute sprechen informierte Kreise von non-binary und das deutsche Verfassungsgericht entschied vor ein paar Jahren, dass die Festlegung allein auf die Kategorien „Frau“ und „Mann“ herabwürdigend ist. Es müsse auf jeden Fall eine dritte Option geben. „Gender Trouble“ kann als Nährboden für diese Überlegungen verstanden werden. Davon ahnten wir damals nichts. Uns begeisterte etwas anderes. Wenn es bei sozialen Machtfragen vor allem um die kulturelle Konstruktion von Geschlecht geht, dann war da wieder Luft für Veränderung. Denn Kultur ist ja nie in Stein gemeißelt. Das gab uns Hoffnung.
Sofortige Gegenwehr
Unsere Freude teilten viele, aber längst nicht alle. Die großen Gegenspieler in der etablierten Philosophie, die Hegelianer oder Habermasianer, nahmen Dekonstruktions- und Performance-Theorien ohnehin nur in den Mund, um sie sofort auf die Müllhalde der philosophischen Irrtümer zu spucken. Und dann kommt auch noch diese Lesbe und Feministin daher. Unerhört! Aber auch viele Frauenrechtlerinnen traten sofort nach Erscheinen von „Gender Trouble“ wütend auf den Plan. Was für ein amerikanischer Unfug, dieses Gerede vom kulturellen Geschlecht, das sich so oder anders aufführen lasse! Weder biologisch, soziologisch noch feministisch sei das ordentlich gedacht. Menschen, so ihr Argument, werden mit einem männlichen oder weiblichen Geschlecht in soziale Verhältnisse hineingeboren, da kommt man mit Kostümierungen als queer oder trans (inter war damals noch kein Thema) nicht raus. Performance? Das Leben ist doch keine Theaterbühne.
Doch warum sonst tragen Richter*innen Roben, Ärzt*innen Kittel und Banker*innen Anzüge? Sie gliedern sich damit in eine Tradition ihres Berufsstands ein, wiederholen Rituale und verschaffen sich so Ansehen in einem Berufsstand, noch ganz unabhängig von ihrem jeweiligen individuellen Handeln. Ähnliches gilt für Kleiderordnungen, die das Geschlecht sicherstellen sollen. Dass die Performance von Identitäten den Alltag jedes Menschen bestimmt, war damals einfach noch kein eingeübter Gedankengang. Die Aufregung in feministischen Kreisen war groß, und es öffneten sich tiefe Gräben.
Butler reagierte auf die Kritik mit einem zweiten Buch „Körper von Gewicht“. In diesem widersprach sie dem Eindruck, dass ihre Theorie biologische Körper in ihrer Bedeutung für Kultur auslöschen wolle. Natürlich spielten sie eine Rolle, wenn auch nicht die wichtigste: „Bodies matter.“
Inklusiv und progressiv
Im Kern geht es immer um die Deutungshoheit darüber, was Feminismus ausmacht. Wer sind die zentralen Akteur*innen, wer kann sich emanzipieren, wer sollte befreit werden? In der Zweiten Frauenbewegung (grob gesagt von 1945–1990) machten weiße, heterosexuelle Frauen, die von Männern unterdrückt wurden, das Epizentrum des Feminismus aus. „Gender Trouble“ hingegen rief Frauen* als das Subjekt des Feminismus aus, besser noch alle diskriminierten Geschlechter, die sich dagegen wehren. Damit konnten auch Männer* Feministen sein. Heute ist das weithin anerkannt. Als der ehemalige US-amerikanische Barack Obama sich als Feminist bezeichnete, kam niemand auf die Idee, dieses Bekenntnis als Angriff auf Frauen* oder Gleichstellung zu verstehen. Doch vor 30 Jahren bedeutete die Forderung, feministische Kämpfe auch für Männer* zu öffnen, für viele einen Verrat an frauenpolitischen Idealen. Penis und Feminismus, das könne nicht gut gehen. Butler griff diese Gewissheit an.
Wenn heute in feministischen Kreisen über Sinn und Unsinn vom intersektionalem Feminismus mit ähnlicher Härte gestritten wird, wiederholt sich vieles aus der Diskussion von damals. Wieder geht es um die Frage: Wer macht das Herz des Feminismus aus? Ist es die „normale Frau“, die weiße, nicht offensichtlich behinderte Frau, mal hetera, mal lesbisch? Oder sollte Feminismus sich für die Vielheiten und Verschiedenheiten der Lebenswelt öffnen und Gleichberechtigung und Selbstbestimmung für alle Geschlechter fordern, unabhängig von zugeschriebener Hautfarbe, Kultur und möglichen Be/hinderungen? Ich denke Letzteres. Feminismus darf Ausschlüsse und Marginalisierungen nicht wiederholen, nur weil sie allgemein gesellschaftlich anerkannt sind. Erst die Inklusivität erlaubt ein progressives Denken und Handeln.
Judith Butler ist heute 63 Jahre alt und wohl die berühmteste lebende Philosoph*in der Welt. Seit 27 Jahren lehrt sie Komparatistik in Berkeley und füllt international Hallen, egal wo sie vorträgt.
Dass sie Anfang der 1990er Jahre von ihren Kollegen belächelt und von zahllosen Feministinnen in Europa angefeindet wurde, ist kaum noch vorstellbar. Das von Butler mit Wucht in feministische Debatten eingebrachte Konzept „Gender“ hat sich von ihr emanzipiert und bewegt sich längst unabhängig von Diskussionen an der Uni durch die Alltagssprache. Im Alltag allerdings sorgt gender oft noch immer für Verwirrung. Feminismus dreht sich doch um Frauen, oder? Nein, nicht nur. In aller erster Linie streitet Feminismus für die Gleichberechtigung aller Geschlechter und also für eine Kultur der Gewaltfreiheit. Happy Birthday, Gender Trouble!
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