Essayband zu Corona-Pandemie: Die tödliche Suppe von Wuhan

Der Argentinier Pablo Amadeo hat 15 Essays von Philosophen zur Coronakrise zu einem Buch zusammengefasst – und stößt auf großen Widerhall.

Die Philosophin Judith Butler an einem Rednerpult, mit den Händen gestikulierend

Mann und Globus in einem Park in Wuhan Foto: Aly Song/reuters

„Die Suppe von Wuhan“ ist in Lateinamerika angekommen. Der Argentinier Pablo Amadeo hat unter diesem Titel 15 Essays von Philosophen und Soziologinnen zu einem Buch zusammengefasst, das er nun kostenlos online anbietet. Der Kommunikationsprofessor will damit jenseits der Informationsflut und der Paranoia in Zeiten des Coronavirus „kreative Fluchtpunkte“ schaffen. De facto hat er Texte gesammelt, die bereits in anderen Medien erschienen sind.

Der Versuch, Übersicht in die philosophische Debatte über die Pandemie zu bringen, stößt auf großen Widerhall. „Die Suppe von Wuhan“ zirkuliert derzeit auf zahlreichen lateinamerikanischen Plattformen, Tweets und Facebook-Posts.

Die Auswahl der Autorinnen und Autoren ist ziemlich bunt. Die verstörenden Klagen des italienischen Philosophen ­Giorgio Agamben „über irrationale und völlig ungerechtfertigte Notstandsmaßnahmen“ in seiner Heimat sind darin ebenso zu finden wie Byung-Chul Hans Vergleiche der Bekämpfung des Virus im autoritären China und den individualistisch geprägten Staaten Europas.

Slavoj Žižek fordert einen radikalen Wandel hin zu einer von Solidarität geprägten Gesellschaft jenseits von Nationalstaaten und Judith Butler hofft, dass soziale Bewegungen und die Idee einer sozia­listischen USA wieder Aufwind bekommen.

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Philosoph*innen aus sozialer Bewegung

Nur zwei Texte in Amadeos Rundumschlag der Corona-Philosophien haben lateinamerikanischen Ursprung. Mit Raúl Zibechi und María Galindo schreiben zwei Personen, die sozialen Bewegungen entstammen und für ihre kritischen Haltung gegenüber autoritären Regimen bekannt sind. Das lässt hoffen.

Doch die Kritik des Uruguayers Zibechi am chinesischen Kampf gegen das Virus endet in einem fatalistischen Szenario: Die Weltmacht USA hat ausgedient, Europa ist schwach und blieb ohnehin seit dem Zweiten Weltkrieg ein Lakai des US-Imperiums, nun drohen uns totalitäre chinesische Verhältnisse.

Jüngst spitzte Zibechi Agambens These von der „Erfindung einer Epidemie“ und dem Ausnahmezustand als Ziel der Virus-Bekämpfung noch zu: In der mexikanischen Tageszeitung La Jornada schrieb er, die Bilder aus China erinnerten an ein „enormes Konzentrationslager“. Ähnlich fantasierte sich der deutsche Querfrontler Ken Jebsen jüngst in seinem YouTube-Kanal in die Frühzeit des NS, um die Maßnahmen gegen Covid 19 anzuprangern.

Alarmistisch wie Zibechi argumentiert auch die Bolivianerin Galindo. Sie kritisiert zunächst zu Recht das dümmliche Gerede, vor dem Virus seien alle gleich: „Die bolivianische Gesellschaft ist eine proletarische, ohne Lohn, ohne Arbeitsplätze, ohne Industrie, die meisten überleben mit einem eigenen gigantischen Netzwerk auf der Straße.“

„Setzen wir uns Ansteckung aus“

Weil für die Unterstützung der Verarmten das Geld fehle, plädiert sie jedoch für einen „Ungehorsam“: „Kultivieren wir die Ansteckung, setzen wir uns ihr aus.“ Galindo setzt auf Umarmungen, Quinoa-Suppe sowie „nicht pharmazeutische“ Medizin, „die sie uns gelehrt haben zu verachten“. Die Wohnung der Menschen zu Gefängnissen zu machen, wie es Spaniens Regierung praktiziere, sei dagegen faschistisch.

Heilkräuter statt Faschismus? Vergleiche mit Konzentrationslagern? Eine Elite, die eine Grippe als Vorwand nutzt, um soziale Kontrolle durchzusetzen? Selbstverständlich ist Kritik am Abbau demokratischer Rechte notwendig. Aber auch in Lateinamerika ist die tödliche Suppe von Wuhan im wirklichen Leben längst angekommen.

In Ecuador werden Menschen auf der Straße verbrannt, weil Behörden und Bestatter überfordert sind, auf dem gesamten Subkontinent fehlt es an medizinischer Ausstattung, Beatmungsgeräte sind Mangelware. Ideologisch begründeter Fatalismus hilft da nicht weiter.

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Wolf-Dieter Vogel, Jahrgang 1959, ist Print- und Radiojournalist sowie Autor. Er lebt in Oaxaca, Mexiko. Seine Schwerpunkte: Menschenrechte, Migration und Flucht, Organisierte Kriminalität, Rüstungspolitik, soziale Bewegungen. Für die taz ist er als Korrespondent für Mexiko und Mittelamerika zuständig. Er arbeitet im mexikanischen Journalist*innen-Netzwerk Periodistas de a Pie und Mitglied des Korrespondentennetzwerks Weltreporter.

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