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20 Jahre nach G8-Protesten in GenuaDer zerschlagene Protest

Michael Braun
Kommentar von Michael Braun

Vor 20 Jahren entfesselte die Staatsmacht in Italien eine Gewaltorgie gegen die G8-Proteste in Genua. Das Unrecht ist bis heute nicht aufgearbeitet.

Carlo Giuliani, von der italienischen Polizei erschossen, bei den Anti-G8-Protesten am 20.7.2001 Foto: Ropi

V or 20 Jahren, im Juli 2001, mobilisierten Hunderte Bewegungen, Parteien und Gewerkschaften zum Protest gegen den G8-Gipfel in Genua. „Ihr G8, wir 6 Milliarden“ – so lautete das eingängige Motto. Man wollte nichts weniger als die Stimme der Weltbevölkerung gegen die Herren der Globalisierung, gegen die Staats- und Regierungschefs der acht mächtigsten Staaten auf dem Globus sein.

Und die Szenerie gab den Pro­tes­tie­re­r*in­nen recht. Die G8-Teilnehmer hatten sich in der festungsgleich zur Roten Zone umgewandelten, gespenstisch menschenleeren Innenstadt von Genua verschanzt, während draußen in den anderen Vierteln die Zehntausenden Gip­fel­geg­ne­r*in­nen in ihrer bunten Vielfalt das Straßenbild dominierten.

Um den Protest der Globalisierungskritiker*in­nen in Schach zu halten, hatte Italiens Regierung unter Silvio Berlusconi mehr als 20.000 Einsatzkräfte aus Polizei, Carabinieri, Finanzpolizei aufgeboten. Ja, selbst die Forstpolizei war dabei.

Italiens Staatsmacht wollte den Protest mit voller Härte zerschlagen, brach dafür systematisch Gesetze und setzte systematisch demokratische Grundfreiheiten außer Kraft. Die Staatsmacht entfesselte zwei Tage lang eine Gewaltorgie, die einer präzisen Agenda folgte.

Das Ergebnis waren ein Toter – Carlo Giuliani –, Hunderte teils Schwerverletzte, Hunderte willkürlich Inhaftierte, Tausende bei den Schlagstockeinsätzen verprügelte Demonstrant*innen. Am Schluss folgte der brutale Sturm auf die Scuola Diaz, die Gip­fel­geg­ne­r*in­nen als Übernachtungsstätte diente. Polizisten hatten die „Beweisstücke“, darunter einen Molotow-Cocktail, die die militante Gefährlichkeit der Protestierenden beweisen sollte, selbst in die Scuola Diaz gebracht.

Straftäter als Staatsdiener

Dank mühsamer Ermittlungen der Justiz gelang es später, diverse Spitzenbeamte der Polizei unter anderem wegen dieser gefakten Beweise zu verurteilen. Allerdings musste keiner von ihnen die Haftstrafen von bis zu fünf Jahren antreten. Diverse Beamte wurden auf gerichtliche Anordnung für fünf Jahre vom Dienst suspendiert – und gleich darauf wieder in die Polizei aufgenommen. Und sogar befördert. In den Augen der Polizeiführung und des Innenministeriums hatten die Straftäter ja als treue Staatsdiener gehandelt.

Die volle Härte des Gesetzes traf dagegen zehn Ak­ti­vis­t*in­nen des Black bloc, die einen Supermarkt geplündert hatten. Für sie setzte es Haftstrafen von bis zu 14 Jahren. Einer ist noch immer inhaftiert. Bei einem anderen bemüht sich Italiens Regierung gegenwärtig um die Auslieferung aus Frankreich. Diese Asymmetrie zeigt, dass von einer wirklichen Aufarbeitung der Ereignisse von Genua durch Italiens Institutionen bis heute keine Rede sein kann.

Die entfesselte staatliche Gewalt folgte scheinbar einer plausiblen Ratio. Die verschiedenen Segmente der Protestfront sollten auseinander dividiert, die eher pazifistisch Gestimmten ein für alle Mal abgeschreckt werden. In Genua waren 300.000 Demoteilnehmer*innen. Danach gab es nie mehr Gipfelproteste dieses Ausmaßes.

Der Niedergang der Bewegung

Dennoch überzeugt diese Abschreckungsthese nicht. Denn im November 2002, 16 Monate nach Genua, kamen eine halbe Million Menschen nach Florenz zur Abschlussdemonstration des European Social Forum. Sie demonstrierten gegen den von den USA seinerzeit vorbereiteten Irakkrieg und ließen sich nicht von den vorher ausgemalten Horrorszenarien eines brennenden Florenz abschrecken.

Die Gründe für den Niedergang der folgenden Jahre sind wohl in den Reihen der Glo­ba­li­sie­rungs­kri­ti­ke­r*in­nen selbst zu suchen, in jener „Bewegung der Bewegungen“, die „nichts für sich selbst verlangt, sondern Gerechtigkeit für die ganze Welt einfordert“, wie es damals hieß.

Breiter konnte diese Front in der Tat kaum aufgestellt sein. Sie reichte von katholischen Ordensschwestern und Pfad­fin­de­r*in­nen bis zu Dritte-Welt-Gruppen, von Umweltinitiativen bis zu Attac, von Basisgewerkschaften bis zu orthodox-kommunistischen Parteien und Anarchist*innen. Alle diese Menschen redeten miteinander. Heraus kam ein buntes Potpourri an Forderungen von der Finanztransaktionssteuer bis zu gerechterem Welthandel, von öffentlicher Wasserversorgung bis zu einer Öffnung gegenüber Migrant*innen.

IWF zerstören – oder reformieren?

Zusammengehalten wurde dieser Strauß an Positionen von einer gemeinsamen diffusen Gegnerschaft gegen den Neoliberalismus. Doch eine gemeinsame Sprache, gar eine gemeinsame Agenda entstand so nicht, weder in Genua noch auch gut ein Jahr später beim European Social Forum in Florenz. Dort warben die einen für die Reform des IWF. Die anderen – von der radikalen Linken – dagegen verlangten gleich dessen Abschaffung.

So wurden die Mobilisierungsanlässe weiter durch die Gegenseite gesetzt, durch die diversen G8- oder G7-Gipfel, durchgeführt an immer entlegeneren Orten und mit Protesten, die von Jahr zu Jahr bescheidener ausfallen. Es entbehrt nicht der Ironie, dass das letzte European Social Forum im Jahr 2010 stattfand, nur kurz nach dem Ausbruch der globalen Finanzmarktkrise, die den schon in Genua lautgewordenen Warnungen der Glo­ba­li­sie­rungs­kri­ti­ke­r*in­nen auf ganzer Linie recht gab.

Es war dann die Eurokrise, die in diversen Ländern Europas neue organisierte Formen des Protestes hervorbrachte oder nach oben trug, von Syriza in Griechenland über die Fünf Sterne in Italien bis zu den spanischen Indignados. Überall dort spielten und spielen Ak­ti­vis­t*in­nen aus dem gut gebildeten Prekariat eine wichtige Rolle – Menschen, die nicht nur „Gerechtigkeit für die ganze Welt“ fordern, sondern die auch ihre eigenen Lebensumstände verändern wollen.

Entstanden sind auch Bewegungen, vorneweg Fridays for Future, die eine radikale Wende in der Klimapolitik reklamieren. Sie knüpfen auf ihre Weise an Genua an – an den Protest gegen eine Globalisierung, die den Planeten ebenso wie die Lebensperspektiven von Milliarden Menschen zu zerstören droht.

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Michael Braun
Auslandskorrespondent Italien
Promovierter Politologe, 1985-1995 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Unis Duisburg und Essen, seit 1996 als Journalist in Rom, seit 2000 taz-Korrespondent, daneben tätig für deutsche Rundfunkanstalten, das italienische Wochenmagazin „Internazionale“ und als Wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Büro Rom der Friedrich-Ebert-Stiftung.
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9 Kommentare

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  • 0G
    09968 (Profil gelöscht)

    Die Anwendung sog. rechtstaatlicher Grundsätze im Nachgang zu zerschlagenen Großdemos gegen Brokdorf, zum Hamburger Kessel, zu G8 in Genua oder zu G20 in Hamburg hat eines gezeigt: Das Konstrukt Rechtsstaat entbehrt, wenn es darauf ankommt, jeglicher Legitimation! Das Insistieren auf Ordnung per Gesetz dient bei genauerer Betrachtung vor allem dem eigenen Besitz- und Machterhalt des oberen Zehntels der Gesellschaft. Das ist Staatsversagen erster Ordnung.



    Wenn ich das verlogene Gewäsch der ach so staatstragenden Politiker, Richter und exekutiver Einsatzleiter mitbekomme, kommt mir nur noch das Kotzen. Die Hälfte von denen müsste theoretisch im Knast sitzen.



    Ich bin ja positiv überrascht, dass noch relativ wenig mit blinder Wut und Gewalt reagiert wird. Und ich sehe neue positive Entwicklungen, die Dinge selbstorganisiert von unten in die Hand zu nehmen. Es wird uns niemand retten, keine Partei, keine Avantgarde und erst recht kein Führer. Das können wir nur selbst machen. Denn die Ursache all dieser Probleme steckt in uns allen, im Egoismus, in der Empathielosigkeit, im Glauben "ein gutes Geschäft" machen zu können, habe nichts mit Diebstahl oder Raub zu tun.

    • @09968 (Profil gelöscht):

      Nach meiner Erinnerung hat Berlusconi damals eine Mehrheit der Bevölkerung hinter sich.

  • Und das geht ja alles munter weiter.

    Beim G20 2017 in Hamburg wurden 35.000 Polizisten eingesetzt, darunter mit MP bewaffnete SEK.

    Hubschrauber, Räumpanzer, Zipp und Zapp. Die Pressefreiheit wurde teilweise außer Kraft gesetzt, die Gesetze gebrochen und die Knochen der Demonstrantinnen und Demonstranten auch.

    Danach eine Fahndung im Stil des Deutschen Herbstes und drakonische Strafe für lächerliche Taten.

    Jede und jeder, der das gesehen hat, überlegt sich zweimal, ob er zu so einer Sache hingeht.

    Und der Scholzomat so: "Polizeigewalt hat es nicht gegeben."

    Und die Grünen hielten brav die Klappe zu alledem.

    • @Jim Hawkins:

      Aber, aber, die Grünen sagen doch, sie wären für Bürger*innenrechte und so?!?! Wie passt denn das zusammen? ;-/

      • 0G
        09968 (Profil gelöscht)
        @Uranus:

        Die Grünen sind genauso machtgeil, wie die anderen Parteien. Für mich war spätestens '83 Schluss, als sich die sog. Realos, im Kern viele autoritäre Ex-KBler, durchgesetzt hatten.



        Das ist teilweise professionelle Schizophrenie. Was die schon alles für Kröten geschluckt haben, ist unglaublich.



        Das die jetzt als Klimaretter gehypt werden, macht fassungslos.

        • @09968 (Profil gelöscht):

          Sischer dat. Für den Fall, dass mein Kommentar falsch rüberkam: als Naivität getarnter Sarkasmus. Aktuell macht es noch weniger Sinne, die Grünen zu wählen, wegen deren Koalitionswerben mit der CDU. Wenn ich denn jenseits von Satire Parteien wählen sollte, liebäugle ich mit der Klimaliste ...

  • Für mich erschreckend, wie fragil unsere vermeintlichen Errungenschaften von Demokratie und Rechtsstaat sind, wie wenig weit entfernt wir von Monstrositäten à la Belarus oder der Türkei sind.

    "In den Augen der Polizeiführung und des Innenministeriums hatten die Straftäter ja als treue Staatsdiener gehandelt."

    Genau das gilt auch für die belarussischen OMON-Kräfte.

    • @tomás zerolo:

      Ja, mit so einer Argumentation kann man in einem Unrechtsstaat oder/und auch in einer Demokratie viele Dinge rechtfertigen - man muss nur ein flexibles Verhältnis zur Moral besitzen.

      • @Pia Mansfeld:

        Das man "treue Staatsdiener nicht" im Stich läßt,ist durchaus Ausdruck bestimmter moralischer Grundsätze.Denn Moral ist ein völlig schwammiger Begriff und wird von jeden anders gesehen. Wogegen Gesetze allgemeingültig für alle gelten,unabhängig vom individuellen moralischen Kompass. Zumindest theoretisch, in der Praxis ist es schon etwas "verwischter". Gesetze sind z.B. interpretationsabhängig,die Interpretation wird vom jeweiligen (moralischen)Zeitgeist beeinflusst,aber die Paragraphen sind doch schon etwas präziser als "moralisches Empfinden".



        Deswegen würde ich vom flexiblen Verhältnis zum Gesetz/Recht(sstaat) usw. sprechen.