151. Jubiläum Anarchismus-Kongress: Anständiger Anarchismus

Kiloweise Kohl und diskutieren über „wahren“ Antimilitarismus: Zum Weltkongress der „Antiautoritären Internationalen“ kamen 4.000 An­ar­chis­t:in­nen.

Drei Männer stehen an einer Auslage

Arbeiten vor allem für internationale Solidarität: Weltkongress-Be­su­che­r:in­nen in St-Imier Foto: Hélène Tobler

SAINT-IMIER taz | Vor 150 Jahren wurde im Schweizer Jura die „Antiautoritäre Internationale“ ausgerufen. Nun kamen dort Tausende An­ar­chis­t:in­nen zusammen. Das Treffen zeigte: Die Stärke der Bewegung liegt bis heute in ihrer globalen Vernetzung.

Der junge Mann vorne im Saal stellt sich als „Nobody“ vor. Wie die meisten hier will er seinen Namen nicht nennen. Aus Furcht vor Repression, aber auch aus Prinzip: Der Anarchismus kennt schließlich weder eine Zentrale noch eine offizielle Vertretung. Um die Frage der Organisation soll es in diesem Workshop am Donnerstagnachmittag aber durchaus gehen.

„Nur wenn wir unsere vielfältigen Aktionen zusammenbringen, entwickeln wir Schlagkraft“, sagt Nobody in seiner Einführungsrede. „Wobei wir uns nicht um der Organisation willen organisieren sollten. Der Inhalt muss im Vordergrund bleiben“, wendet ein Teilnehmer im dichtgedrängten Saal ein.

„Typisch, dass bisher nur Männer gesprochen haben“, kontert eine Besucherin. Zur Klärung werden erst einmal Arbeitsgruppen eingesetzt. Willkommen an der „Anarchy 2023“. In Saint-Imier, einem Städtchen im Schweizer Jura, lässt sich in diesen Tagen im Juli besichtigen, wie es um die ­anarchistische Bewegung steht.

„Ein bisschen Träumer“

Rund 4.000 Personen, die sich als An­ar­chis­t:in­nen verstehen oder einfach der außerparlamentarischen Linken angehören, sind in der vergangenen Woche nach Saint-Imier gereist. Die Kommune hat für die fünftägige Zusammenkunft ihre öffentlichen Gebäude zur Verfügung gestellt: Im Eishockeystadion findet die anarchistische Buchmesse statt, im „Salle de spectacle“ gibt es Konzerte und im leerstehenden Altenheim Workshops, insgesamt weit mehr als 300.

Auf leicht abschüssigen Wiesen können die Teil­neh­me­r:in­nen ihre Zelte aufschlagen, in riesigen Kochtöpfen brutzeln vegane Gerichte. Überall im Ort kommt es zu spontanen künstlerischen Darbietungen. In ­einem Hauseingang proben zwei ­Mu­si­ke­r:in­nen ihre Version ­eines Ton-Steine-Scherben-Songs mit Banjo und Akkordeon.

„Anständig und sauber sind sie alle“, lobt die Verkäuferin in der örtlichen Bäckerei die Besucher:innen. „Aber ein bisschen Träumer halt.“ Ihre Gelassenheit über den Einfall der An­ar­chis­t:in­nen passt zur Stimmung im Ort: Ein wenig stolz ist man schon auf die Weltgeschichte, die sich einst in Saint-Imier ereignet hat – und auch auf die Neuinszenierung zum 150. Jubiläum, die wegen der Coronapandemie um ein Jahr verschoben stattfindet.

Ihren Anfang nahm die Bewegung in einem Streit: 1872 wurden die An­ar­chis­t:in­nen aus der Ersten Internationalen der Ar­bei­te­r:in­nen­be­we­gung ausgeschlossen, weil sie deren Vorsitzenden Karl Marx für sein zentralistisches Machtgebaren kritisiert hatten. Anschließend traf sich die abtrünnige Gruppe um Michail Bakunin, Errico Malatesta und den Schweizer Uhrmacher Adhémar Schwitzguébel in Saint-Imier – und rief die „Antiautoritäre Internationale“ aus. Der Kongress gilt als Geburtsstunde des Anarchismus.

Warum dieser gerade in den frühindustrialisierten Tälern des Juragebirges auf Anklang stieß, erklärt Historiker Florian Eitel in seinem Vortrag im Theatersaal vor Hunderten Zuhörer:innen. Er spricht von einer „Parallelgeschichte“ der wirtschaftlichen Globalisierung und der Verbreitung anarchistischer Ideen: Neue Technologien wie die Eisenbahn oder der Telegraf veränderten das Raum- und Zeitgefühl – und schufen so die Vorstellung von internationaler Solidarität.

Eitels Buch „Anarchistische Uhrmacher“ hat der Geschichte des Kongresses zu neuer Bekanntheit verholfen, seine Forschung diente als Grundlage für den an der Berlinale preisgekrönten Film „Unrueh“.

Wissen, um zu handeln

„Natürlich haben wir damit gerechnet, dass wir als Begrüßungsgeschenk eine Schweizer Uhr erhalten“, meint Timo in der Festwirtschaft vor der Eishalle. Seine Kollegen Adriano und Julio lachen. Gemeinsam bilden die drei die inoffizielle brasi­lianische Delegation. Bei der Finanzierung der Reise halfen ihnen befreundete Gruppen aus Europa.

In Saint-Imier wollen sie an der Buchmesse ihre anarchistische Bibliothek um fehlende Werke ergänzen – und sich mit anderen Gruppen vernetzen. „Zwar stellen sich in Brasilien andere Fragen als in Europa, besonders die nach einer gerechten Verteilung des Landes“, sagt Adriano. „Doch die anarchistischen Methoden sind sehr anschlussfähig für die Arbeit in unseren Communitys“, meint Julio. „Saber fazer“ laute die portugiesische Bezeichnung dafür: wissen, um zu handeln.

Neben dem Kongress-Esperanto Englisch ist in diesen Tagen in Saint-Imier ein wahres Sprachengewirr zu hören: Portugiesisch, Italienisch, Russisch und natürlich auch viel Deutsch. Heike und Tom sind wie viele andere aus Berlin gekommen. Gleich zwei Soli-Busse seien von dort losgefahren. Die beiden sind in der Lateinamerika-Solidarität aktiv und freuen sich über Begegnungen mit Gleichgesinnten aus dem Globalen ­Süden.

„Ein Treffen wie dieses holt die Utopie des Anarchismus aus dem Elfenbeinturm heraus. In der globalen Verbindung er­halten die Ideen eine reale Bedeutung“, sagt Heike. In Ge­sprächen mit Gruppen aus Ländern, die von der Erderhitzung stärker betroffen seien, erfahre man viel über den konkreten Kampf um Auswege aus der Klimakatastrophe. „Gleichzeitig wird man sich der eigenen Privilegien hier in Europa und der Notwendigkeit der Solidarität bewusst.“

Weil das Organisationsteam dringend zusätzliche Hände sucht, um das Treffen reibungslos am Laufen zu halten, helfen die beiden auch in der Küche mit. So haben sie kiloweise Kohlrabi geschält, die vor zwei Jahren auf einem Bauernhof in der Nähe zur Verköstigung am Kongress gepflanzt wurden. „In seiner Selbstorganisation löst das Treffen ein, was es auch politisch fordert“, sagt Tom. Etwas weiß und elitär geprägt sei die Zusammenkunft allerdings schon, befinden die beiden selbstkritisch.

Westliche Belehrungen

Wie arrogant die westliche Weltsicht auch unter An­ar­chis­t:in­nen sein kann, müssen insbesondere die Teil­neh­me­r:in­nen aus Russland, Belarus und der Ukraine erfahren. An praktisch jedem Workshop zum russischen Angriffskrieg und dem richtigen Umgang damit kommt es zu Belehrungen über den wahren Antimilitarismus. Die Osteuropäer:innen, viele von ihnen vom Krieg und der Repression sichtlich gezeichnet, wirken ob der Ignoranz gegenüber ihren Standpunkten ziemlich ermüdet.

„Wenn dein Land von einer imperialen Macht angegriffen wird, hast du nicht mehr die Zeit, auf die ideale soziale Revolution zu warten. Dann musst du dich verteidigen“, bringt es eine Ukrainerin in einer Diskussionsrunde auf den Punkt.

Wie stark internationalistisch dabei gerade die An­ar­chis­t:in­nen in Osteuropa ­denken, zeigt eine eindrückliche Gedenkveranstaltung für den Russen Dmitri Petrow, der aufseiten der Ukraine kämpfte und im April getötet wurde.

Bevor er in den Krieg zog, beteiligte sich der Historiker in Kyjiw an der Revolution auf dem Maidan, nahm in Minsk am Aufstand gegen die belarusische Diktatur teil und lebte mehrere Monate in Rojava. „Bevor er für eine Utopie einstand, wollte er deren gute und schlechte Seiten selbst sehen“, erzählt ein Weggefährte.

Neben der ernsthaften zeigte sich der Anarchismus in Saint-Imier auch von seiner unterhaltsamen Seite. Etwa in einem Workshop zum anarchistischen Jodeln. Es sei sehr nützlich, um an rechtsextremen Demos Fa­schis­t:in­nen aus dem Takt zu bringen, erklärt das Berliner Duo „Esels Alptraum“. Dann intonieren die beiden: „Liebe, Freiheit, Anarchie!“. Der Rest ist Gejodel.

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