100. Todestag von Franz Kafka: Er kommt einem nahe
Jeder Aspekt seines Lebens ist erforscht. Doch es bleibt ein literarischer Überschuss, ein Geheimnis, die verblüffte Frage: Wie kommt er darauf?
Inhaltsverzeichnis
Am Schluss dieses nicht sehr langen, aber intensiven Lebens, das am 3. Juni 1924 endete, stehen Atemgeräusche: Tuberkulose. In seinen späten Erzählungen spielen sie auch eine wichtige Rolle. Ganz ohne labyrinthische Räume, Irrwege und höhere Späße rund um Schuldfragen geht es in ihnen natürlich auch nicht. Aber sie sind in seinen letzten Texten zurückgedrängt, und im erzählerischen Zentrum steht: ein Zischen und ein Pfeifen. Das Atmen, in seiner dringlichen Körperlichkeit.
In der Erzählung „Der Bau“ beschreibt Franz Kafka die unheimliche Seite dieser Atemgeräusche – „unverändert dünn in regelmäßigen Pausen, einmal wie Zischen, einmal eher wie Pfeifen“. Aber „beschreiben“ ist gar nicht das richtige Wort, besser wäre es zu sagen, er macht etwas literarisch mit diesem Unheimlichen.
Erzählt ist das aus der Ich-Perspektive eines in unterirdischen Gängen lebenden einzelgängerischen Tieres. Es wirkt zunächst ganz putzig, stellt sich allmählich jedoch als fleischfressendes Raubtier heraus, das verwesende Fleisch seiner Beute dünstet durch die Gänge des Baus. Ein Dachs vielleicht, vermutet der Kafka-Biograf Reiner Stach.
Dieses Tier hört also ein Geräusch, das ihn alarmiert, dessen Ursache es aber nicht herausfinden kann. Es sucht und sucht, stellt umfangreiche Vermutungen an und fühlt sich von einem Feind verfolgt. Worauf dieses Tier aber partout nicht kommt, ist, dass dieses Zischen das Geräusch seines eigenen Atems ist. Vor der Außenwelt geschützt in seinem labyrinthischen Bau, wird das Tier gejagt von seinem eigenen Atmen. Was für ein Bild!
Zu den vielen schönen Dingen bei Franz Kafka gehören solche ganz direkten und leicht eingängigen Motive. Entgegen dem Klischee, das bei ihm Dunkelheit und Verkünstelung verortet, ist Kafka unter den Großklassikern, die wir haben, der unmittelbar zugänglichste.
Der zugänglichste Klassiker
Bei Marcel Proust und James Joyce sind ohne Hilfe viele Anspielungen gar nicht mehr verständlich. Auch bei Thomas Mann braucht es längst kommentierte Ausgaben. Bei Kafka dagegen ist das anders. Die Ausgangslage der „Verwandlung“ („Als Gregor Samsa eines Morgens …“), die Dringlichkeit des „Briefs an den Vater“, auch das Anliegen des Affen in dem „Bericht an eine Akademie“, die vielen Szenen zwischen Männern und Frauen, in denen man nicht weiß, ob sie sich herzen oder miteinander ringen, das alles versteht man schon.
Und auch die erzählerischen Kniffe – etwa das Stolpern beim Lesen, wenn die Freiheitsstatue in „Der Verschollene“ keine Fackel, sondern ein Schwert in der Hand trägt –, das funktioniert bis heute.
Zugleich ist Franz Kafka aber auch ein Autor, den man hermeneutisch unglaublich hochdrehen kann. Dem pfeifenden Atem zum Beispiel widmet er sich auch in seiner letzten Erzählung „Josefine die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“. Die erzählende Maus denkt darin sorgfältig über die Sangeskunst dieser Mäuse-Sängerin nach: „Ist es denn überhaupt Gesang? Ist es nicht vielleicht doch nur ein Pfeifen? Und Pfeifen allerdings kennen wir alle, es ist die eigentliche Kunstfertigkeit unseres Volkes, oder vielmehr gar keine Fertigkeit, sondern eine charakteristische Lebensäußerung. Alle pfeifen wir, aber freilich denkt niemand daran, das als Kunst auszugeben.“ Niemand, außer Josefine.
Was Kafka aus dieser Idee macht, ist ein schillerndes Nachdenken über die Kunst, das gerade auch in Zeiten des autofiktionalen Schreibens, in denen die Literatur dem Leben nicht entgegensteht, sondern mit ihm verbunden ist, große Aktualität hat – ist es Gesang?, ist es „nur“ ein Pfeifen?
Zum anderen macht Kafka daraus eine Reflexion über das Verhältnis von Einzelnem und Gemeinschaft. Will man aus der Gruppe herausragen, will man von ihr getragen werden? Das wird anhand von Josefine hin und her gewendet. In diesem Sinne löst diese Erzählung eine Forderung an Literatur ein, die Kafka einmal formuliert hat, nämlich, ein „ernstes Wort von Mensch zu Mensch“ zu sein. Und sie tut das auch in der aktuellen Situation, in der die Fragen nach Anerkennung jedes einzelnen Einzelnen zu einer gesellschaftlichen Triebkraft insgesamt geworden sind.
Zentraler Autor der Moderne
Man kann den zischenden und pfeifenden Atem gleichzeitig natürlich auch auf Kafkas Atembeschwerden beziehen, die mit der Tuberkulose einhergehen. Neben der Hochdeutung seiner Texte – als zentraler Autor des Absurden und der Moderne wurde er gesehen, der Poststrukturalismus verwendete seine „Strafkolonie“, um zu zeigen, wie der Diskurs sich in den Leib einschreibt – stellt die biografische Methode ja eine zentrale Herangehensweise an sein Werk dar.
Darüber lässt sich viel über das Leben in seiner Zeit erfahren, über ihre patriarchale Ordnung und Geschlechterverhältnisse, bürgerliche Lebensformen und jüdische Assimilationsansätze. Doch in ihren realen Kontexten gehen diese Texte nicht auf, da ist immer noch ein literarischer Überschuss, eine Überraschung, ein verblüfftes „Wie kommt er bloß darauf?“.
Es gibt offenbar etwas, was Kafka bei all den Bibliotheken der Deutungen seiner Texte vor dem endgültigen Ausgedeutetsein schützt. Theodor W. Adorno hat einfach recht, wenn er in seinen „Aufzeichnungen zu Kafka“ schreibt: „Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden.“
Jedenfalls ist bei der Erzählung „Der Bau“ eine Interpretation à la „Man entkommt sich eben selbst nicht“ genauso naheliegend wie ungenügend. Und die Sängerin Josefine ist eben beides, eine Hochstaplerin und eine große Künstlerin – man sollte sich da nicht für eine Seite entscheiden. Die letzten Sätze dieser Erzählung gehören übrigens zum Traurig-Tröstlichsten, was die Literatur insgesamt zu bieten hat.
Die Genauigkeit seiner Einfälle
Von Adorno stammt auch der Satz: „Nicht das Ungeheuerliche schockiert, sondern dessen Selbstverständlichkeit.“ Das hat er mit Blick auf die grausamen Szenen bei Kafka geschrieben, und das ist schon auch so. Mit Blick auf die späten Erzählungen, aber auch viele andere Stellen seines Werks, lässt sich anfügen, dass Kafka einem gerade nicht durch Sentimentalität, sondern in seiner Strenge und Kühle, in der Genauigkeit seiner Einfälle nahe kommen und bei veränderten gesellschaftlichen Konstellationen auch bleiben kann.
Dieses Zischen und Pfeifen kann einen dabei ein Leben lang immer wieder anders begleiten. Ich weiß noch, mit welchem Ernst mein Schulfreund Olaf – wir hatten in Deutsch „Das Urteil“ gelesen – den Satz sagte: „Das ist faszinierend, ich weiß nur nicht, warum.“ Eigentlich ist das der zentrale Satz im Umgang mit Franz Kafka geblieben (Adorno drückt den Gedanken elaborierter aus, er spricht von der „Insistenz vor dem Geheimnis“). Es fasziniert einen, und man findet immer wieder andere Gründe, warum.
Als der Satz fiel, gab es noch die alte Bundesrepublik. Nine-to-five-Jobs, Kleinfamilie, normal sein – das war die Hegemonie. Kafka allerdings zeigte einem die Fremdheit dieser Welt auf. Nicht nur er, aber er doch vielleicht am gründlichsten.
Unendliche Sinnsuche
Inzwischen hat sich viel geändert. Die Arbeitswelt wurde flexibilisiert, alle Institutionen winden sich durch ihre Krisen, unhinterfragte Normalität wurde abgeschafft. Von da aus liest man Kafka heute anders. Während uns damals mit dem Normalitätsparadigma im Rücken sehr beschäftigte, ob, was er schreibt, nicht doch irgendwie „verrückt“ ist – wir hatten andere Bezeichnungen dafür, „abgedreht“, sagten wir etwa –, kann man heute die Selbstverständlichkeit wahrnehmen, mit der seine Texte Identitätsprobleme, Sinnsuche und die alltägliche Selbstfindungsarbeit darstellen, die alle nie zu einem Ende kommen.
Vielleicht ist die Welt seinen Texten sogar entgegengekommen. Heute jedenfalls scheinen Kafkas Erfindungen so real wie der Kölner Dom, die Atombombe, der Euro oder das Internet (das war alles einmal „ausgedacht“). Und durch die Ambivalenzen des Daseins geht man hindurch, und zwar mal zischend und mal pfeifend.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Der alte neue Präsident der USA
Trump, der Drachentöter
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Ärzteschaft in Deutschland
Die Götter in Weiß und ihre Lobby