100. Geburtstag Sophie Scholl: Eine deutsche Geschichte
Sophie Scholl, die Widerstandkämpferin gegen die Nazis, wird verehrt wie eine Heilige. Doch wie wurde aus der Studentin und Gottsucherin eine Ikone?
Z um hundertsten Geburtstag von Sophie Scholl am 9. Mai 2021 erscheint eine 20-Euro-Sammlermünze aus Silber. Erstaunlich, was das Finanzministerium im Bild eines pummeligen Mädchens im Kleid mit Rüschenkragen und herabhängenden Haarsträhnen erblickt: „Die Bildseite zeigt ein Porträt von Sophie Scholl, das ihre besondere Persönlichkeit sichtbar macht. Die junge Frau signalisiert schon durch ihre äußere Erscheinung geistige Unabhängigkeit, Klarheit und Weisheit und die Kraft, zu ihren humanitären Prinzipien auch in höchster Lebensgefahr zu stehen.“
Nur wer bereits von der Außergewöhnlichkeit der Porträtierten überzeugt ist, kann das auf der Münze erkennen. Dabei entspricht die charakterliche Beschreibung Sophie Scholls durchaus ihrem Öffentlichkeitsbild. Man verehrt sie wie eine Heilige. Doch wie wurde aus der Studentin, Gottsucherin und Freiheitskämpferin eine Ikone, ein Kultbild?
Sophie Scholl gehörte mit ihrem Bruder Hans zu einer sechsköpfigen Widerstandsgruppe, die 1942/43 in München und anderen Großstädten mit sechs Flugblättern gegen Hitler kämpfte. Sie riefen im Namen der Freiheit zu Widerstand, Sabotage und Umsturz auf und beriefen sich dabei auf ein humanistisches und christliches Weltbild.
Die 21-jährige Studentin war die Jüngste und einzige Frau neben vier Studenten und einem Professor. Sie wurden im Laufe des Jahres 1943 hingerichtet. Nach dem Krieg nannte man die Freiheitskämpfer „Weiße Rose“, weil die ersten vier Flugblätter so überschrieben waren. Im Westen Deutschlands sah man in der Gruppe zunächst naive Idealisten, im Osten sozialistische Antifaschisten.
1946 veröffentlichte die Schriftstellerin Ricarda Huch in der Hessischen Zeitung einen Aufruf. Unter dem Titel „Für die Märtyrer der Freiheit“ bat sie, ihr Briefe und Erinnerungen an den Widerstand im Dritten Reich zur Verfügung zu stellen, denn sie wolle ein „Gedenkbuch“ zu Ehren dieser „Heldenmütigen“ verfassen. Inge Scholl, die Älteste der Scholl-Kinder, antwortete der Dichterin und kündigte einen Beitrag über ihre Geschwister an.
Sie hoffte, Huchs Werk werde „ein starkes Gegengewicht bedeuten gegenüber all dem Unrat, der schon über die Lieben publiziert wurde“. Inge Scholl hatte schon früh den Kampf um die Deutungshoheit der Weißen Rose aufgenommen. Sie war zeitlebens fest davon überzeugt, alleine zu wissen, wie die Dinge „wirklich“ waren und dass ausschließlich ihre familiäre Interpretation der beteiligten Personen und ihrer Taten richtig sei.
Im März 1947 sandte Scholl die „Biographischen Notizen“ an Huch. Es ist die erste ausführliche Zusammenfassung und Interpretation des Lebens von Hans und Sophie aus der Sicht der Schwester. Sie will zeigen, wie es zum Widerstand 1942/43 kam. Dabei muss man sich klarmachen, dass sie damit auch der schmerzhaften Frage nachging, warum sie von ihren Geschwistern nicht in den Widerstand miteinbezogen wurde, sogar gänzlich ahnungslos war.
Die 49 Seiten sind ein hochemotionaler, psychologischer Erklärungsversuch, eine Rückprojektion und Selbstkonstruktion, eine ahistorische Überhöhung. Die „Notizen“ waren der Vorläufer zu ihrem fünf Jahre später publizierten Buch „Die Weiße Rose“.
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Inge Scholl verbreitete Sophie Scholls Ruf, bereits als Kind etwas Besonderes gewesen zu sein. Sie habe eine „ungewöhnliche Reife“ besessen, „etwas ausgesprochen Eigenes und Ursprüngliches“, ein „eigenartiger Charme“ habe sie ausgezeichnet, der „in keinem Widerspruch zu ihrer wundersamen, unnennbaren Kindlichkeit“ stand.
Nicht nur die Kindheit Sophies wird von ihr überzeichnet, auch die Zeit als Jugendliche und junge Erwachsene. Inge Scholl marginalisiert die Hitlerjugendjahre ihrer Schwester unzutreffend als „kurze Episode“. In Wirklichkeit war Sophie sieben Jahre lang – auch in leitender Position – aktives Mitglied der Naziorganisation.
Sozialismus stand nicht nur im Namen der NSDAP, er war Programm und sollte in der Volksgemeinschaft verwirklicht werden. Sophie versuchte, das in ihrer Gruppe des Bundes Deutscher Mädel (BDM) zu realisieren, unter anderem, indem der mitgebrachte Proviant zufällig verteilt wurde. Inge Scholl schreibt: „Ein ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit war sowohl Hans als auch Sophie zutiefst eigen.“
Für Inge Scholl war alles – Sophies Kindheit und Jugend – eine Vorbereitung auf die heroischen Widerstandswochen 1942/43: „All dies Suchen im Geistigen, dieser Gang durch den Garten der Kultur, ist wie ein allmähliches Vorbereiten – so erscheint es mir heute mit dem Blick des Abstandes – auf eine Entwicklung, die mit dem Beginn des Krieges sich anbahnte.“
Die Schwester hat den Eindruck, als sammle sich alle Welt und Weisheit der europäischen Kultur in Hans und Sophie, werde durch sie wieder geboren und erstrahle in neuem Glanz. Sie schreibt: „Wie ein voller, überfliessender Becher drängte sich das Geistige an ihre Lippen. Es war, als drängte sich das ganze Abendland in sie ein, um in ihrem strahlenden Tod mitzuerstrahlen und aufs Neue in zarter, neuer Weise lebendig zu werden.“
Auf den letzten Seiten ihrer „Biographischen Notizen“ stilisiert sie sich selbst zur Widerständlerin. Sie reiht sich ein in den Kampf ihrer Geschwister und erweckt den Anschein, von Anfang an dabei gewesen zu sein: „Das [Verbrecherische] steigerte sich und trieb uns schliesslich in einen bewußten passiven Widerstand hinein. […] Las man es uns nicht vom Gesicht, von den Augen ab, dass wir anders waren, dass wir ihre Todfeinde sein mussten, weil uns unser ganzes Wesen dazu trieb, unsere ganze Einsicht und alles, was uns teuer und wert war?“
Inge Scholl vollendet die ikonografische Lebenstafel ihrer Schwester: Im Gericht habe sie den Nazi-Richtern ihre Verachtung ins Gesicht geschleudert. In den letzten Stunden habe sie „immerzu“ strahlend gelächelt, „als schaue sie in die Sonne“. Sie sei „aufrecht zum Schafott“ gegangen, „ohne mit der Wimper zu zucken und noch einen Gruss an den unmittelbar folgenden Bruder auf den Lippen“.
Und sie sagt, wie ihr Gemälde zu verstehen ist: Diese „fast selig zu nennende Heiterkeit im Angesicht des Todes“ bedeute „in keiner Weise, dass sie etwa das Leben missachtet hätten. Im Gegenteil, sie liebten es und nahmen es hin mit derselben Inbrunst, mit der sie sich im Tode verschenkten. Aber sie sahen seinen letzten Sinn in einer Seligkeit, die jenseits aller Zerstörung ist und der sie entgegengingen im Glauben an Christus den Sohn Gottes“. Woher Inge Scholl das alles wusste, bleibt ungeklärt, denn sie war nicht im Widerstand, Gericht und Gefängnis.
Die Geschichte der Weißen Rose, nicht nur Sophie Scholls, wurde von traumatisierten Familienangehörigen erzählt und gedeutet. Eltern und Geschwister, Frauen und Kinder, Freundinnen und Freunde blieben konsterniert zurück, niemand war in den Widerstand eingeweiht.
Inge Scholl versuchte, diese psychische Erschütterung zu lindern, indem sie sich am zweiten Todestag ihrer Geschwister 1945 erneut taufen ließ – diesmal römisch-katholisch, und sie stellte ihr Leben in den Dienst der Erzählung von Hans und Sophie. Sie erhob ihre Stimme – was sie während der NS-Zeit nicht getan hatte – gegen die Mehrheitsmeinung der Mitläufer und Täter.
In diesem Kampf bestimmte sie, welches historische Material veröffentlicht wurde und was unter Verschluss blieb. Bis heute unterliegen einige Materialien aus dem Nachlass von Inge Aicher-Scholl, wie sie später hieß, im Institut für Zeitgeschichte München einer familiären Zugangskontrolle.
In Westdeutschland hielt man noch in den sechziger Jahren – trotz Inge Scholls unermüdlichem Einsatz – die Mitglieder der Weißen Rose für unbedarfte Schwärmer. Es überwog die Ansicht, dass sie eines mit Sicherheit nicht waren: Vorbilder. In Ostdeutschland verlief die Anerkennung wesentlich schneller, sie war aber mit einer Mythenbildung eigener Art verbunden: Dort erkor man Hans und Sophie zu antifaschistischen Sozialisten, deren Schicksal Thema im Schulunterricht war.
Bereits 1949, noch vor Gründung der Deutschen Demokratischen Republik, erhielt im sächsischen Freiberg auf Beschluss der Stadtverordnetenversammlung die humanistische Lateinschule den Namen „Geschwister-Scholl-Gymnasium“. Diese Vorreiterrolle war der DDR nicht zu nehmen, aber in der Quantität übertraf der Westen den Osten bald bei Weitem: Hunderte von Institutionen – von Kindertagesstätten, Schulen, einem EU-Parlamentsgebäude in Brüssel bis zur Seniorenparkanlage – schmücken sich mit Sophie Scholls Namen.
Wie sie zur National-Ikone, dem Gesicht eines besseren Deutschland wurde, lässt sich an den Briefmarken der beiden deutschen Staaten ablesen. Die Deutsche Post der DDR veröffentlichte 1961 das erste Wertzeichen zu ihren Ehren. Die 25(+10)-Pfennig-Marke zeigt vor blauem Hintergrund Zeichnungen der scheu nach unten blickenden, kindlichen Sophie neben einem entschieden aufwärts schauenden, angejahrten Hans. Sie scheint 13, er 40 Jahre alt zu sein.
Die westdeutsche Bundespost veröffentlichte 1964 zum zwanzigsten Jahrestag des Attentats gegen Hitler einen Briefmarkenblock mit acht Widerstandskämpfern. Vor graublauem Hintergrund versammelte man dunkle Zeichnungen von drei Militärs (Beck, Moltke, Stauffenberg), zwei Kirchenvertretern (Bonhoeffer, Delp) und zwei Politikern (Goerdeler, Leuschner). Auch eine Frau sollte geehrt werden.
Man wählte aber keine der Hingerichteten des Attentats wie Ehrengard Frank-Schultz, Elisabeth Charlotte Gloeden oder Elisabeth Kuznitzky, sondern Sophie Scholl, die ein Jahr und fünf Monate vor dem 20. Juli 1944 ermordet worden war. Als Vorlage für ihr realistisches Porträt wurde ein Passfoto von 1942 genommen.
Später, im Jahr 1991, brachte die Bundespost eine Marke mit einem Einzelporträt Sophie Scholls heraus. Die Blaustiftzeichnung veränderte die Fotovorlage von 1942. Der schmalere Mund ist fest geschlossen, der Kopf selbstbewusst leicht angehoben. Auf dem Foto wirkt Sophie eher depressiv, auf der Marke offensiv. Wer diese Porträtzeichnung sah, sollte in ihr sofort die Widerständlerin erkennen. Sieht es auf der DDR-Marke von 1961 so aus, als spiele Sophie noch mit Puppen, hat sie in der BRD-Version von 1991 bereits entschlossen die Tat vor Augen – oder hinter sich.
Drei Spielfilme haben das Bild der Widerstandsgruppe in der breiten Öffentlichkeit enorm beeinflusst: „Die weiße Rose“ von Michael Verhoeven (1982), „Fünf letzte Tage“ von Percy Adlon (1982) und „Sophie Scholl – Die letzten Tage“ von Marc Rothemund (2005). Alle rücken die junge Studentin in den Mittelpunkt. Sie erscheint als die zentrale, tragische Figur der Münchner Revolte.
Dieses unzutreffende Bild ist so dominant, dass 2019 Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Gedenktag des 20. Juli 1944 an das „Schicksal der Gruppe um Sophie Scholl“ erinnerte. Das widerspricht klar den geschichtlichen Tatsachen: Die treibende Kraft, der kreative Kopf des Münchner Widerstands, war eindeutig Hans Scholl.
Die fälschlicherweise hervorgehobene Rolle Sophie Scholls ist auch in der bildnerischen Erinnerungskultur präsent: Seit 2003 wird in der Gedenkstätte bedeutender Deutscher, der Walhalla bei Regensburg, aus dem Münchner Kreis allein Sophie Scholl mit einer Marmorbüste geehrt. Nur von ihr gibt es seit 2005 zudem – neben einer abstrakten Gruppe – eine personalisierte Bronzebüste im Lichthof der Münchner Universität, durch den die Flugblätter flatterten.
Im Verlangen nach Anekdoten wurden im Laufe der Jahre Legenden um Sophie gerankt. Die dauerhaftesten sind: Sophie habe sich für ihre jüdische Klassenkameradin Luise Nathan vehement eingesetzt. Sie sei im Herbst 1937 von der Gestapo verhaftet worden. Als Pazifistin habe sie sich schon früh gegen den Nationalsozialismus gewandt, sei Verfasserin der Flugblätter und die zentrale Gestalt der Weißen Rose.
Keine dieser erzählerischen Ausschmückungen ist haltbar. Luise Nathans Tochter berichtet, ihre Mutter habe stets bestritten, näheren Kontakt zur nazibegeisterten Sophie gehabt zu haben. Sophies Schwester Elisabeth versichert, lediglich die Geschwister Werner und Inge seien wegen „bündischer Umtriebe“ zum Verhör nach Stuttgart abtransportiert worden; das sagt auch Sophie im Gestapo-Protokoll.
Die Mitglieder der Weißen Rose waren keine Pazifisten. Professor Huber war so sehr vom Militär begeistert, dass er sich trotz gravierender Behinderung mehrfach – vergeblich – freiwillig meldete, um Soldat zu sein. Sophie lehnte wohl den Krieg, nicht aber Gewalt ab: Sie forderte, die Franzosen sollten Paris bis zum letzten Schuss verteidigen, da es um die Ehre gehe; sie begrüßte die Gewalt der SS in Amsterdam, weil dadurch die Fronten geklärt würden, und sie selbst wäre bereit gewesen, Hitler zu erschießen.
Sie stimmte mit Hans Scholl und Alexander Schmorell überein, die in den Flugblättern formulierten, die braune Horde Hitlers müsse angegriffen und ausgerottet werden. Im Dezember 1942 schrieb Hans, man müsse gegen die ausgebrochenen „wilden Tiere“ zur Waffe greifen, und bei den nächtlichen Graffitiaktionen hatte er eine geladene Armeepistole dabei.
Sophie war also weder Pazifistin, noch hat sie sich früh gegen den Nationalsozialismus eingesetzt. Im Gegenteil, sie war viele Jahre ein fanatisches Hitlermädchen. Klassenkameradinnen beschrieben die 16-Jährige als gefürchtete „150-prozentige Anhängerin des Nazi-Regimes“. Sie blieb freiwillig über das achtzehnte Lebensjahr hinaus Mitglied im BDM, besuchte weiterhin regelmäßig Heimabende und ermunterte noch 1941 – ein Jahr nach ihrem Abitur – eine Freundin, es ihr gleichzutun.
Sophie Scholls Umdenken begann, als sie 1941/42 ein halbes Jahr lang in einem Kinderhort in Blumberg im Schwarzwald einen „Kriegshilfsdienst“ ableisten musste. Der Ort war ein äußerst konfliktträchtiger sozialer Brennpunkt. Seit Mitte der dreißiger Jahre wollte die nationalsozialistische Autarkie- und Rüstungspolitik – ohne Rücksicht auf Anwohner und Natur – aus dem landwirtschaftlich geprägten Blumberg eine Bergarbeiterstadt machen.
Zunächst setzte man auf Freiwilligkeit, aber bald wurden Verschleppte, Kriegsgefangene und Straftäter genötigt, ohne dass es eine ausreichende Infrastruktur für sie und ihre Familien gab. 1941 begann der Abstieg, da durch die Kriegseroberungen effizientere Abbaugebiete zur Verfügung standen. Im April 1942 wurde die Erzförderung eingestellt.
Sophie Scholl versah ihren Dienst in der letzten Phase des Niedergangs. Es ist kaum vorstellbar, dass sie die sozialen Nöte nicht wahrgenommen hat. Sie erhielt täglich Anschauungsunterricht über das Versagen und die Brutalität der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik. Das tilgte gewiss die Sympathien, die sie noch für die Idee des „Dritten Reiches“ hegte, sehr wahrscheinlich verstärkte es sogar ihre Ablehnung des Regimes.
Texte dazu sind spärlich, aber ihr Handeln spricht eine deutliche Sprache: Zwei Monate nach Beendigung ihres Kriegshilfsdienstes lieh sie sich von ihrem Freund Fritz Hartnagel 1.000 Reichsmark „für einen guten Zweck“ und bat ihn um einen Bezugsschein für einen Vervielfältigungsapparat. Vermutlich kaufte sie mit dem Geld eine Kopiermaschine und Druck- und Versandmaterialien.
Es liegt nahe, die Zeit in Blumberg als einen wichtigen Wendepunkt ihres Denkens zu sehen. Da begann sich ihr Widerwillen in Widerhandeln zu wandeln, und das nationalsozialistische Hitlermädel Sophie Scholl wurde zur antitotalitaristischen Freiheitskämpferin.
Ihr Bruder Hans spielte dabei die entscheidende Rolle. Auch er war zunächst ein nationalsozialistischer Fahnenträger, der ohne Weiteres ein SS-Mann hätte werden können. Doch die staatliche Verfolgung aufgrund seiner Arbeit mit Jungen außerhalb der Hitlerjugend und seine lange homosexuelle „große Liebe“ zu einem Jugendlichen seiner Gruppe entfremdeten ihn vom Nationalsozialismus.
In Frankreich und Russland erlebte er als Soldat und Medizinstudent die Gräuel des Kriegs. Mit seinem engsten und „einzigen Freund“ Alexander Schmorell schrieb er Mitte 1942 die ersten vier Flugblätter der Weißen Rose und rief zum Widerstand auf.
Von den ersten vier Flugblättern erfuhr Sophie erst im Nachhinein. 65 Prozent der sechs Flugschriften sind von Hans Scholl, die übrigen Teile verfassten Alexander Schmorell und Kurt Huber. Ohne Hans Scholl hätte es die Weiße Rose nicht gegeben, aber ohne Sophie nicht die Ausweitung der Flugblattaktionen über München hinaus Anfang 1943. Da war sie die Organisatorin des Widerstands.
Die Legendengirlanden um Sophie sind Ausdruck des Wunsches, die Besonderheit ihres Handelns noch zu steigern – als ob nicht das, was die junge Frau zuletzt tat, genügte. Der Mythos verschleierte die Wirklichkeit, durch die Entfernung von der Realität wurde die Person zur entrückten Heiligen.
Diese Darstellung stillte eine latente Sehnsucht, denn Deutschland bestand ganz überwiegend aus Mitwissern, Mitläufern und Mittätern des Naziregimes, und wer hätte im Nachhinein nicht gerne eine Schwester wie Sophie in der Familie gehabt? Der Heroismus um sie, den „Ausnahmemenschen“, befreite von der Frage, ob man selber, ob Eltern oder Großeltern, nicht auch anders hätten handeln können. Bei der Überbewertung Sophie Scholls für den Widerstand war sicher auch das Bedürfnis eines Geschlechterproporzes wichtig.
Es gab durchaus Kritik an diesem öffentlichen Erinnerungskult. 1968 veröffentlichte Christian Petry die erste wissenschaftliche Monografie zur Weißen Rose. Seine auf den damals bekannten Fakten beruhende, historisierende Untersuchung wurde vehement bekämpft. Die Familie fürchtete eine Enteignung der privaten Geschichte durch „unfähige Historiker“ und fühlte sich aufgrund der Blutsbande moralisch im Recht, das Erbe der Weißen Rose allein sachgemäß zu wahren. Doch zum ersten Mal schien es, als könnte sie das Monopol der Interpretation verlieren.
Als Sönke Zankel die Methode und Ergebnisse von Petry aufgriff und 2005 seine umfangreiche Dissertation vorlegte – zum „[Hans]Scholl-Schmorell-Kreis“, wie er korrekt formulierte – waren die Reaktionen ganz überwiegend negativ: „absurd“, „abenteuerlich“, „bizarr“ hieß es, man glaubte, es werde ein „Kreuzzug“ gegen die Widerstandsgruppe geführt. Kaum ein Rezensent war bereit, Zankels radikaler Entmythisierung der Gruppe zu folgen.
Das hat sich geändert – auch aufgrund der exzellenten Biografie von Barbara Beuys über Sophie Scholl. Sie wäre ohne den Nachlass Inge Scholls im Institut für Zeitgeschichte, aber auch ohne die Forschungsergebnisse Zankels nicht möglich gewesen. Diese Arbeiten machen deutlich, dass nach einer historisch-kritischen Analyse, nach einer Trennung zwischen Fakt und Fiktion, Sophie Scholl erst als selbstbewusste Frau ein glaubwürdiges Vorbild ist.
Trotzdem ist in der Öffentlichkeit nach wie vor das von Inge Scholl in die Welt gesetzte Bild der Konsensheiligen Sophie Scholl vorherrschend: das der emanzipierten jungen Frau, an der nichts Unvorteilhaftes, Anstößiges, Widersprüchliches war. So geglättet dient sie als Projektionsfläche für sehr viele, von Carola Rackete, die im Mittelmeer Flüchtlinge rettete und Sophie heute bei der „Antifa“ sieht, bis hin zu Jana aus Kassel, die gegen Coronamaßnahmen demonstrierte und sie bei den „Querdenkern“ wähnt; beide beriefen sich ausdrücklich auf Sophie Scholl.
Die bis heute immer wieder gedruckten Fotos der androgyn-burschikosen Maid mit dem kessen asymmetrischen Kurzhaarschnitt verstärken den Eindruck einer jugendlichen Opposition. Die graue 80-Cent-Briefmarke der Deutschen Post von 2021 übernimmt das burschikose Profilfoto von 1938, das auch der Gedenkmünze zugrunde liegt. Dazu ist in Kleinstschrift ein Zitat von Sophies Zellenkameradin Else Gebel gesetzt.
Nach ihr soll die Mitgefangene am 22. Februar 1943 gesagt haben: „So ein herrlicher sonniger Tag, und ich muss gehen. […] Was liegt an meinem Tod, wenn durch unser Handeln tausende von Menschen aufgerüttelt und geweckt werden.“ Bezeichnenderweise ist auf dem Wertzeichen das brutal-aussichtslose „muss“ durch das gefälligere „soll“ ersetzt. Und den abgebildeten provozierenden Bubikopf trug Sophie schon Jahre vor dem Widerstand nicht mehr. Aber in ihrer strahlend-fröhlichen Jugendlichkeit ist sie viel einfacher zu verehren.
Wer die Widerstandsfrau sehen will, muss die Aufnahmen aus den Jahren 1942/43 betrachten: da ist sie rundlicher, trägt ihr Haar streng gescheitelt, fast schulterlang, blickt ernst und wirkt bedrückt – ihre Unbekümmertheit ist dahin, aber ihre Nachdenklichkeit und Entschlossenheit sind gewachsen.
Die Tagebucheintragungen und Briefe Sophie Scholls zeigen sie nicht als Fiktion, sondern in ihrer ganzen Ambivalenz als verletzbaren und verletzenden Menschen: mit- und zartfühlend, spirituell, um Glauben und Liebe ringend, unsicher, zweifelnd, aber auch willkürlich, unausstehlich, gehemmt, „schwankend zwischen Lust und Traurigkeit“, wie sie notierte.
Eines ihrer Tagebuchhefte begann sie mit einem Gedicht Matthias Claudius’ voller überschäumender Lebenslust: „Heute will ich fröhlich, fröhlich sein, / keine Weis und keine Sitte hören; / will mich wälzen, und für Freude schrein, / und der König soll mir das nicht wehren.“ Auf die letzte Seite desselben Diariums notierte sie ein Jesuswort über Lebenstraurigkeit und Lebensmut, das die entgegengesetzte Grenze ihrer Emotionsskala markierte: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden. Joh. 16,33“.
Sophie Scholl ist aufgrund ihrer letzten Taten, nicht ihres kurzen Lebens, eine außergewöhnliche, bewundernswerte Frau. Hoch zu achten ist, dass sie nach Jahren des Irrwegs im November 1942 fragt, ob sie bisher geträumt hat, und erkennt: „Manchmal vielleicht. Aber ich glaube, ich bin aufgewacht.“ Sie konnte umkehren, ihren Sinn ändern, eine Denkwende vollziehen – Fähigkeiten, die auch heute dringend gebraucht werden. Sie handelte nach ihrer Überzeugung und ging trotz der Gefahr in den Widerstand.
In den letzten Monaten ihres Lebens war Sophie Scholl eine Kämpferin für Mitmenschlichkeit, Glaubensmut und Zivilcourage. In diesem Sinne ist sie ein Vor- und Leitbild, aber sie eignet sich nicht als Kult- und Heiligenbild. Denn sie war mehr als das.
Robert M. Zoske (68) ist evangelischer Theologe und Historiker. Bis 2017 arbeitete er als Pastor in Norddeutschland. 2014wurde er mit einer Arbeit über Hans Scholl promoviert. 2018 erschien die Biografie „Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose“ (C.H.Beck, München), zwei Jahre später „Sophie Scholl: Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen“, Propyläen, Berlin.
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