10 Jahre Kanzlerin: Weltpolitikerin Merkelchen
Merkels Karriere begann in einer Fischerhütte auf Rügen. Jetzt könnte sie sich da nützlich machen, findet der Bürgermeister. Ein Besuch.
Dass Angela Merkel „Wir schaffen das“ gesagt hat, empört Ulrich Kliesow. Verordnete Hilfsbereitschaft? Das ist für ihn eine absolutistische Vorgehensweise. Er fühlt sich jedenfalls nicht gemeint, sagt er und streicht mit seinen großen Händen über die Decke des Besprechungstischs in der Gemeindeverwaltung. Nach Middelhagen hat es noch keinen einzigen Flüchtling verschlagen. Dennoch.
Kliesow ist 68, Heimatforscher und Briefmarkensammler. Er hat eine laute Stimme und trägt zu seinem Seemannsbart eine schwere Goldrandbrille. „Das Merkelchen“ nennt er die Bundeskanzlerin. In dieser Verniedlichung steckt viel drin: Vertrautheit, Nähe, Ironie. Auch Enttäuschung. Und eine ganz eigene Auffassung von Politik. Nützlich muss ein Politiker sein. Sonst taugt er nichts. Nützlich soll auch das Merkelchen sein. Werden Politiker nicht genau dafür gewählt? Also.
In Kliesows Gemeinde – genauer gesagt in dem Dörfchen Lobbe – hat vor fünfundzwanzig Jahren Angela Merkels Verwandlung in jene Politikerin begonnen, die sie heute ist. Eine Weltpolitikerin. Anwärterin auf den Friedensnobelpreis. Das Merkelchen. In diesen Tagen, da immer mal wieder die Erosion ihrer Macht herbeigeschrieben wird, da sie kleiner wird, menschlicher, auch fehlbarer, da schaut man schon mal, wie das alles angefangen hat mit ihr.
Lobber Fischer zu Merkel
Am 2. November 1990 öffnete Angela Merkel die Tür eines Fischerschuppens in Lobbe. Sie war 36 Jahre alt und seit fünf Wochen die Kandidatin der CDU Mecklenburg-Vorpommerns für die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl. Ihr Wahlkreis hieß Stralsund-Rügen-Grimmen. Die Frau aus Templin, wohnhaft in Berlin, kannte dort kaum jemanden. Wahlkreis 267 war der vielversprechenden Frau Doktor rer. nat. von wohlmeinenden Parteifreunden verschafft worden. Erobern musste sie ihn schon selbst.
Also machte sie sich im Spätherbst 1990 auf und ging, so kannte sie das aus dem elterlichen Pfarrhaus, zu den Menschen. Zu fremden Menschen.
Stille Zuwendung
Man kann dieses Fremdsein gut erkennen auf dem Foto, das an diesem Tag aufgenommen wurde. Halb rechts im seitlich hereinbrechenden Licht sitzt die Frau in Jeansrock, Strickjacke und weißem T-Shirt. Ihr Blick geht fragend, suchend in die Runde. Um sie herum gruppiert: die Fischer in ihrer Arbeitskluft. Sie schauen aus dem Fenster oder in die Luft. Sie reden, aber nicht mit der Besucherin. An der Wand hängt das Ölzeug, auf den Tischen stehen Aschenbecher. Rauch steigt auf.
Die Frau mit den zusammengenommenen Händen wartet ab. Sie ist keine Bittstellerin. Eher eine Jägerin. Sie lauert. Aber das weiß an diesem Novembertag noch niemand. Das Foto von diesem Moment jedenfalls steht seither ikonografisch für Merkels Anfang als Politikerin. Ihr Habitus, der Blick, die leicht gebeugte Haltung – all das vermittelt den Eindruck von Passivität.
Es ist ein Kampf um Begriffe und Erzählungen, global ausgefochten mit Kalaschnikows, Youtube und dem Koran. Was die Gelehrten der islamischen Welt dem „Islamischen Staat“ entgegensetzen, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 21./ 22. November 2015. Außerdem: Wie geht das Leben in Paris nach den Anschlägen weiter? Und: „Eisbären sind einfach nicht hilfreich“, sagt Srđa Popović. Der Revolutionsberater im Gespräch über Strategien im Kampf gegen den Klimawandel. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Heute, 25 Jahre später, weiß man, dass genau das der Denkfehler ist, den viele begangen haben. Genau diese stille Zuwendung, das ungeheuchelte, sachliche Interesse gelten längst als strategische Vorteile der Machtpolitikerin Angela Merkel. Das, was ihr als Schwäche ausgelegt wurde, hat sie groß gemacht.
Auch damals, im Jahr 1990, schaut sie hin und hört zu, sie fragt nach und merkt, wo es hakt. Mit Meinungen hält sie sich zurück. Und drei Wochen, nachdem in Lobbe das Foto gemacht wurde, wählen die Leute diese Unbekannte aus Berlin tatsächlich mit 48,5 Prozent direkt in den Bundestag.
Offenbar hat sie es geschafft, Vertrauen zu wecken. Selbst in Lobbe, wo heute noch der Schuppen steht und damals die wortkargen Männer an ihr vorbeigestarrt haben, bekommt sie 122 von 273 Stimmen. Ulrich Kliesow hat das mit kleiner Schrift auf einem Blatt Karopapier notiert. Sagenhaft war das. Und so ist es seitdem immer gelaufen.
„Krieg ist kein Spaß mehr“
Zweieinhalb Monate später wird Angela Merkel Helmut Kohls Familienministerin. Sieben Jahre darauf CDU-Generalsekretärin, ab dem Jahr 2000 Parteivorsitzende. Schließlich, fast auf den Tag fünfzehn Jahre nach ihrem Besuch in Lobbe, wird sie Bundeskanzlerin.
Zehn Jahre ist das an diesem Sonntag her. Und fast genauso lange ist Ulrich Kliesow nicht mehr Mitglied in Angela Merkels Partei. „Das nimmt ihr keiner übel, dass sie die Macht in ihre Hände genommen hat“, sagt der Bürgermeister. Aber dass seine Parteivorsitzende den Irakkrieg befürwortet hatte, das schon. „Erika, pass auf, das geht zu weit“, hat er zu seiner Frau gesagt. „Krieg ist kein Spaß mehr.“ Er schrieb einen Brief an die CDU-Kreisleitung in Bergen. Mit freundlichen Grüßen, und weg.
Sie hat ihm gleich geschrieben. Das könne es doch nicht gewesen sein, sie wolle noch mal mit ihm reden. Er hat gewartet. Aber sie hat sich nicht mehr gemeldet. Kliesow hat mit nichts anderem gerechnet. „Da war ich recht zufrieden“, sagt er. Und: „Ich habe sie nie belästigt.“
Aber jetzt würde er sie ganz gern doch noch mal belästigen. Wegen des Schuppens. Er steht ja noch immer. Nach dem Krieg sperrte der von der Roten Armee abgestellte „Fischrusse“ darin manchmal die Lobber Fischer ein, wenn sie ihre Fangquote nicht erfüllten. Heute nennen sie ihn auf Rügen den „Merkel-Schuppen“.
Vielleicht liest sie es
Aber von Geschichtsträchtigkeit ist nichts zu erkennen. Die Brettertür ist verschlossen. Die Scheiben, durch die 1990 das goldene Novemberlicht strömte, sind ausgeschlagen. Der Ostseewind pfeift hindurch. Drinnen lagert ein Gastwirt Tische, Bänke, einen riesigen Grill. Eine schmucke Strandhütte könnte das hier werden. So hat es Ulrich Kliesows Gemeindevertretung im Januar beschlossen. Für die Touristen, auch für das eigene Selbstverständnis. Vielleicht schrauben sie eine Tafel draußen an die Wand, auf der das Foto zu sehen ist.
Aber es hakt gerade. Das Stalu, das Landesamt für Landwirtschaft und Umwelt, macht Ärger. Der Schuppen nämlich steht auf einer Länge von drei Metern auf dem Deich. Das ist verboten. Deshalb haben Kliesow und seine Gemeindevertreter vorgeschlagen, die paar Meter hinten wegzunehmen, um sie vorn wieder anzubauen. Aber das Stalu ist nicht zufrieden. Kliesow könnte gerade ein bisschen Unterstützung brauchen. „Wenn’s nicht anders geht, muss Merkelchen das regeln“, sagt er. Und dass man das ruhig genau so aufschreiben soll. Vielleicht liest sie es ja.
Merkel hat noch einmal in dem Schuppen gesessen, da war sie schon Bundeskanzlerin. Vor sechs Jahren hatte die Bild-Zeitung die Idee, Merkel erneut auf die Fischer von damals treffen zu lassen. Bürgermeister Kliesow denkt nicht gern daran zurück. Das Dach war undicht, die angeheuerte Stralsunder Reinigungsfirma musste mit Vollschutz reingehen, so dreckig war es darin. „Die Touristen hatten alles vollgeschissen.“ Merkel trug einen ihrer kamelfarbenen Blazer. Von den beiden Männern, die sich schließlich mit Merkel trafen, fuhr keiner mehr hinaus auf die Ostsee. Aus den baumstarken Kerlen waren Wendeverlierer geworden.
Der eine, Eberhard Heuer, sagte: „Damals waren Sie noch jugendlicher. Heute sind Sie etwas fraulicher.“ Merkel erwiderte: „Wir werden alle nicht jünger.“
Es ging um Macht
Es wurde ein gemeinsames Foto im Schuppen geschossen. Merkel und einer der ehemaligen Fischer sitzen an einem wuchtigen Tisch auf Stahlrohrstühlen. Beide lächeln. Es sieht ein bisschen so aus, als hätte Angela Merkel ihre Möbel aus dem Kanzleramt in den grundgereinigten Schuppen mitgebracht. Kliesow sagt: „Was dem einen sein Tod, ist dem anderen sein Brot.“ Auf Platt hört sich der Satz lustig an, aber Kliesow meint ihn nicht so.
Er schaut wieder auf das alte Foto vor sich auf dem Tisch. Die Frau, die Fischer, das Licht. Eine andere Zeit. „Für alle auf dem Bild war das der Punkt null“, sagt er. Und dass ihr das keiner übel nimmt, dass sie die Macht in ihre Hände genommen hat. Darum ging es doch damals: um Macht.
Für ihn war das mit Merkel immer ein Geben und Nehmen: Mal hat er sie kurz vor einer Bundestagswahl den Frauen von der Fischereigenossenschaft vorgestellt: „Ich will Moritz heißen, wenn die sie nicht gewählt haben“. Ein anderes Mal bat er sie um Hilfe wegen eines Gemeindegrundstücks. Und er brauchte Unterstützung wegen des Schulmuseums in Gager.
Wütend auf die Kanzlerin
Nie hat sie was versprochen. Aber immer hat es danach funktioniert, und Kliesow hatte dieses Gefühl: „Da hat doch Angie dran gedreht.“ Sie stieg höher und höher. „Und dann war sie für uns entschwunden.“ Diese Erwartung, dass Angela Merkel dazu da ist, um Probleme zu lösen. Die Herablassung, die auch dahintersteckt. Und die Enttäuschung, wenn es mal nicht klappt: Vielleicht lässt sich so verstehen, warum die Union und ihre Wähler nach zehn Jahren Kanzlerschaft gerade so wütend auf Merkel sind.
Nach all den Jahren des politischen Pragmatismus fordert sie in der Flüchtlingsfrage auch mal etwas ein: Haltung, Hilfe, Mitgefühl. Vor allem Geduld. Aber sie hat versäumt, den Leuten all das beizubringen. Bisher hat sie ihre Arbeit geräuschlos erledigt. Erklärt hat sie sich nie. Sie hat das getan, was sie schon 1990 aus dieser Fischerhütte an die Spitze getragen hat: zuhören, nachfragen, nichts versprechen. Und dann die Dinge regeln. Das hat sie groß gemacht. Dass sie dieses Prinzip aufgegeben hat, macht sie verwundbar.
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