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21.08.2024 , 22:49 Uhr
Sloterdijk hat den Begriff "wohltemperierte Grausamkeit" im gleichen Zusammenhang verwendet, wie es Höcke tut: Es geht in beiden Fällen um die Begrenzung von Migration. Da es sich aber um einen dehnbaren Begriff handelt, kann Sloterdijk wie so oft seine Hände in Unschuld waschen: Schon bei der Binsenweisheit, dass nicht alle Flüchtlinge aufgenommen werden können, ist schließlich ein sublimer Rest an Grausamkeit im Spiel. Andererseits fehlt auch nicht viel zu einer drastischeren Formulierung: "Nur Barbaren können sich verteidigen", meint ein gewisser Kubitschek. Dessen sogenanntes "Institut für Staatspolitik" wurde übrigens kürzlich in die Unternehmergesellschaft "Menschenpark" umbenannt - auch ein von Sloterdijk geprägter Begriff.
Mir erschließt sich nicht, inwieweit es sich bei indirekten Anlagen in Investmentfonds über Rentenkassen um Produktionsmittel handelt. Eher noch würde ich diese Kategorie für gerechtfertigt halten, wenn es darum geht, ob jemand eigene Kenntnisse und Fähigkeiten selbstbestimmt in den Arbeitsprozess einbringen kann. Bei dieser Betrachtungsweise besteht dann kein großer Unterschied mehr zwischen Arbeitern und Beschäftigten im Dienstleistungssektor.
zum Beitrag19.08.2024 , 23:20 Uhr
Im Grunde wäre eine Partei wie die Linke ein geeignetes Feld, um Lösungen für vermeintlich unvereinbare Interessenlagen zu erarbeiten, wie sie sich aus der Gesellschaftsstruktur ergeben und auch parteiintern widerspiegeln. Die Herausforderung besteht darin, zu vermitteln, dass ein übergeordnetes gemeinsames Interesse verschiedener potentieller Wählergruppen der Linken wichtiger ist als eventuelle gegenseitige Vorbehalte. In diesem Sinn könnte die Partei eine konstituierende Funktion einnehmen und sich als Bezugspunkt verschiedener sozialer Bewegungen etablieren. Ansätze dazu gab es bereits in Zusammenhang mit den Protesten gegen Hartz IV, während der Finanzkrise, zu besseren Zeiten der Klimabewegung, beim Volksentscheid zur Frage der Vergesellschaftung von Wohnungsbeständen in Berlin und im Kampf gegen den zunehmenden Rechtsruck in der deutschen Politik. Insofern fehlt es nicht an möglichen Ansätzen. Es ist an der Zeit, die Partei auf Vordermann zu bringen, und vermutlich muss sie vorerst an sich selbst arbeiten, wenn sie denn irgendwann wieder ihre eigentliche politische Funktion erfüllen will.
zum Beitrag07.08.2024 , 08:51 Uhr
Unehrlich oder zumindest uninformiert sind Relativierungen nach dem Motto, auch der Klimawandel müsse dem fragwürdigen Anspruch genügen, immer schön moderat und gefällig zu sein.
Wenn in zunehmendem Maß Waldbrände auftreten, ist dies bereits eine Folge der von Menschen verursachten Erderwärmung.
Dass sich das Klima immer schon geändert hat - wer würde es bestreiten? Dennoch war es im Verlauf der bisherigen Menschheitsgeschichte vergleichsweise stabil, und das ist die Zeitskala, auf der Verantwortlichkeit zugeschrieben werden kann und muss. Auch wenn die derzeitigen Auswirkungen der Klimaveränderung nur relativ harmlose Vorboten sind, wird eine unveränderte Fortführung des bisherigen Kurses laut "Scientists for Future" bis zum Ende des Jahrhunderts zu einem überhitzten Klima wie zuletzt im Erdzeitalter Jura führen. Und darauf ist die heutige Tier- und Pflanzenwelt ebenso wenig eingestellt wie die menschliche Zivilisation. Im Sinn einer Extrapolation der aktuellen Entwicklungen kann man also durchaus von einer Klimakatastrophe sprechen.
zum Beitrag27.07.2024 , 21:24 Uhr
Sicherlich gibt es prinzipiell die Möglichkeit, sich auszuklinken. Das bedeutet dann aber entweder eine Existenz als Selbstversorger, was wiederum beispielsweise landwirtschaftliche Kenntnisse und auch Landbesitz voraussetzt, oder es bleibt nur die Möglichkeit, von Almosen zu leben oder zu verhungern. Das ist nicht wirklich eine Alternative. Abgesehen davon: Die Arbeitswelt ist sehr auf bestimmte Menschentypen ausgelegt - abgesehen von bestimmten Nischen, für die dann wiederum besondere Begabungen und Qualifikationen erforderlich sind. Wer nicht ins Schema passt, wird aussortiert. Insofern macht es die Gesellschaft de facto (ob beabsichtigt oder nicht) manchen besonders leicht und serviert ihnen gewissermaßen alles auf dem Tablett. Und das sind entgegen einer verbreiteten Ansicht gerade in der Marktwirtschaft, zumindest in der heutzutage vorherrschenden Variante, die besonders durchschnittlichen, die als Arbeitskräfte und Konsumenten möglichst viel Gewinn abwerfen. Und solche Leute neigen eben zur Verführbarkeit durch Populisten, wie man aktuell deutlich sieht. Daher bleibe ich dabei: Es ist viel Missgunst und Ressentiment im Spiel.
zum Beitrag27.07.2024 , 00:00 Uhr
Dass sich die Debatte zuspitzt, ist an sich gar nicht so schlecht. Denn einen positiven Aspekt haben die Aktionen, ganz gleich wie man ansonsten dazu stehen mag: Sie führen dazu, dass Leute Farbe bekennen - in der Politik, aber auch beispielsweise in Diskussionsforen. Endlich wird es für Politiker schwerer, sich aalglatt herauszuwinden. Schon das "beredte Schweigen" darf man ihnen nicht durchgehen lassen, und eventuelle zynische Stellungnahmen kann und muss man ihnen vorhalten bis ans Ende ihrer Karriere. Was Beiträge in Diskussionsforen angeht, so gibt es selten so viel Material für eine Diskursanalyse. Viele Beiträge, insbesondere in den Medien der selbsternannten Mitte der Gesellschaft ermöglichen tiefe Einblicke in die Volksseele, und die eher schwachen Argumente lassen sich wunderbar aufgreifen und widerlegen. Ein ähnliches Konzept, wie es beispielsweise Adorno mit seinen Studien zum autoritären Charakter verfolgt hat, wäre auch in diesem Zusammenhang anwendbar. Projekte solcher Art sind vielleicht zielführender als manche Aktionen. Auf jeden Fall könnte die LG eine intellektuelle Flanke gut brauchen, der sie wiederum durch die generierte Aufmerksamkeit Steilvorlagen liefert.
zum Beitrag26.07.2024 , 22:36 Uhr
Mit dem Hinweis auf die Dringlichkeit von wirklich tiefgreifenden Maßnahmen im Sinn des Klimaschutzes haben die Aktivisten zweifellos recht. Nur scheint mir die Auffassung, es müsse sich schon ein Erfolg einstellen, wenn man sich des historisch bewährten Konzepts des zivilen Widerstandes instrumentell bedient, nicht zutreffend. Dafür sind die Aktionen zu sehr "gestellt", entwickeln sich zu wenig aus einer Situation heraus, setzen zu sehr auf Effekthascherei. Es ist eine ähnliche Situation wie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, als vielen soziale Umwälzungen unmittelbar bevorzustehen schienen, woraufhin sie aber eines Besseren - oder vielmehr Schlechteren - belehrt wurden. Infolge solcher Erfahrungen ist die kritische Theorie entstanden. Diese mag zwar - so ein möglicher hämischer Einwand - keine wirklich greifbaren Erfolge bewirkt und so manches zerredet haben. Dennoch wurden von Vertretern dieser Denkrichtung die Fallen des Aktionismus sehr wohl erkannt und reflektiert. Insofern würde den Aktivisten der Letzten Generation etwas mehr theoretische Fundierung (nicht nur als Wissen um die Geschichte des zivilen Widerstands) gut anstehen.
zum Beitrag26.07.2024 , 22:03 Uhr
Es scheint nicht wirklich darum zu gehen, dass Arbeitslose eine Beschäftigung finden, die zu ihnen passt und die sie auch langfristig ausüben können. Vielmehr ist es Teilen der Gesellschaft und ihrem Resonanzboden in Medien und Politik offenbar ein Bedürfnis, sich ein personifiziertes schlechtes Gewissen zu halten. Dessen Funktion ist wohl einerseits, durch Abschreckung die gesamtgesellschaftliche Arbeitsmotivation aufrecht zu erhalten (denn so etwas wie Arbeitsfreude wird einem in den meisten Bereichen gründlich ausgetrieben und mag auch nicht so recht zur zynischen Grundeinstellung passen, wie sie unter überzeugten Pragmatikern weit verbreitet ist), andererseits geht es darum, ein Exempel zu statuieren. Die alte Lust am Strafen, die früher etwa in der Hexenverfolgung zum Ausdruck gekommen ist, besteht auch in der Spätmoderne ungebrochen fort. Vielleicht wäre es langsam Zeit, auch mal an sich selbst zu arbeiten, nicht nur im Sinn der ewigen Selbstoptimierung, sondern vor allem in Hinblick auf einen Fortschritt, der den Namen verdient und den heutigen Menschen gegenüber dem technischen Stand der Entwicklung nicht als zurückgeblieben erscheinen lassen muss.
zum Beitrag02.06.2024 , 13:46 Uhr
Ob nun ein Hungerstreik Verbesserungen in der Klimapolitik bewirkt oder nicht - man muss dieses Thema vor allem von der subjektiven Seite her verstehen. So wie auch bei der Magersucht steht dahinter nämlich eine so grundsätzliche Unzufriedenheit mit den Gegebenheiten, dass allein ein drastisches Mittel wie die Verweigerung der Nahrungsaufnahme noch als geeigneter Ausdruck erscheint. Dass es aber überhaupt erst soweit kommt, hat auch mit Abwehrmechanismen des persönlichen Umfelds (im Fall der Magersucht) oder der Gesellschaft insgesamt (im Fall des Hungerstreiks) zu tun, wodurch bestimmte Diskurse von vornherein tabuisiert werden. Auch das Gerede, die Willensbildung müsse in jedem Fall demokratisch legitimiert sein, zeugt eher von Antiindividualismus als von einer egalitären Einstellung im eigentlichen Sinn. Sich so zu positionieren, wie es nach eindringlicher Selbstprüfung einzig richtig erscheint, ohne Seitenblick auf die Ansichten des persönlichen Umfelds, des Arbeitgebers oder des gesellschaftlichen Mainstreams - das wäre eine Art der politischen Betätigung, die - in großem Stil praktiziert - Aktionen wie diesen Hungerstreik wahrscheinlich überflüssig machen würde.
zum Beitrag01.06.2024 , 19:26 Uhr
Ich halte es durchaus für möglich, dass es denjenigen, die sich solche Gesänge erlaubt haben, schlicht und einfach "zu gut geht" und dass weniger eine ideologische Einstellung, als vielmehr Gedankenlosigkeit der Hintergrund ist. Das soll freilich nichts entschuldigen, da eine Normalisierung ausländerfeindlicher Parolen irgendwann zu Grenzüberschreitungen von Seiten derjenigen führt, die nicht wissen, wo der "Spass" aufhört. Die Kritik an den Vorfällen sollte sich insbesondere auf das zunehmend zu beobachtende Phänomen von "Gated Communities" beziehen, wozu im weiteren Sinn sicherlich die Insel Sylt als Refugium von Reichen zählt, aber eben auch die Wohlfühlblase, in der sich die meisten eingerichtet haben - unabhängig von der politischen Orientierung. In Hinblick auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Praxis mag allerdings durchaus ein gewisses Maß an Abschottung nötig sein, um etwas vorzubilden, was später in größeren Zusammenhängen als Paradigma übernommen werden kann. Insofern geht es ein Stück weit darum, Paradoxien auszuhalten. Die Verärgerung über die Gesänge von Sylt ist verständlich, sollte aber besser zum Anlass genommen werden, die eigene Stimme stärker einzubringen.
zum Beitrag01.06.2024 , 16:13 Uhr
Was die kapitalistische Verflechtung betrifft, stimme ich Ihnen zu. Diese Sichtweise läuft auf die Feststellung Adornos hinaus, dass es kein richtiges Leben in falschen gibt. Vielleicht hilft es, in Analogie zu Adornos Studien zum autoritären Charakter quantitative Skalen zur klimapolitischen Einstellung zu erarbeiten. Das wäre tatsächlich ein Betätigungsfeld für Soziologen und Sozialpsychologen. Meiner Vermutung nach würden die Ergebnisse darauf hinauslaufen, dass es in unserer Gesellschaft sehr viel Opportunismus und Bequemlichkeit gibt. Kaum jemand ist bereit, mit aller Ernsthaftigkeit für etwas einzustehen. Dazu gehört schon ein Leidensdruck, wie ihn nur empfinden kann, wer im Grunde an der Ignoranz der Gesellschaft verzweifelt ist und deren Abwehrmechanismen für sich weder übernehmen kann noch will. Ausschließlich instrumentell eingesetzt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, mag ein Mittel wie ein Hungerstreik inadäquat erscheinen. Wenn aber angesichts des persönlich empfundenen Leidensdrucks eine solche Aktion der einzige adäquate Ausdruck des subjektiven Empfindens ist, dann muss es sich die bequem-gemäßigte Mehrheit wohl gefallen lassen - auch und gerade wenn es weh tut.
zum Beitrag27.05.2024 , 03:06 Uhr
Jetzt verkündet Scholz, dass nicht nur Gewalt gegen andere - wozu schon ein böser Blick zu zählen scheint, wenn er die vermeintlichen Gewissheiten der Mehrheitsgesellschaft in Frage stellt - undemokratisch sei, sondern auch Gewalt gegen sich selbst, etwa in Form eines Hungerstreiks. Es ist schon ein kleingeistiges Konstrukt, zu dem die Demokratie da herabgekommen ist. Im Grunde geht es dabei um jenes Jante-Gesetz und Krabbenkorb-Prinzip, nach dem man sich in keiner Hinsicht hervortun darf, weil es bedeuten könnte, sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Dass es aber eine Art von Gewalt gibt, die darin besteht, dass der alltäglich praktizierte Wahnsinn dieser Gesellschaft - nicht nur in der Klimafrage - weitergeht und zugleich Kritik daran eingehegt und zurechtstutzt wird - auch das muss zum Ausdruck gebracht werden. Und wenn dieser Ausdruck bei manchen etwa die Gestalt eines Hungerstreiks annimmt, dann kann man darin auch die Artikulation einer Gewalterfahrung sehen, zugefügt durch die Ignoranz dieser Gesellschaft und ins Selbstzerstörerische gewendet. Das sollte doch zu denken geben - zumindest denjenigen, die außer Abwehrmechanismen noch andere Reaktionen zu zeigen imstande sind.
zum Beitrag14.01.2024 , 23:05 Uhr
In diesem Zusammenhang möchte ich auch das Konzept erwähnen, dass autoritäre und faschistoide Neigungen sich in Persönlichkeit und Charakterstruktur widerspiegeln, wobei freilich der wechselseitige Einfluss von Individuen und gesellschaftlichem Umfeld zu berücksichtigen ist. Theodor Adorno hat während des zweiten Weltkriegs im amerikanischen Exil eine Art Fragebogen konzipiert, mit dem sich solche Neigungen erfassen lassen: de.wikipedia.org/w...rs%C3%B6nlichkeit). Letztlich geht dieses Konzept aber auf Wilhelm Reich zurück, der in seinem Buch "Charakteranalyse" diesbezüglich den Begriff "emotionelle Pest" verwendet hat.
zum Beitrag03.01.2024 , 22:53 Uhr
In der Ökonomie gibt es das Prinzip vom abnehmenden Grenznutzen. Das ist zunächst einmal ein neutrales Konzept. Denn anders als man es bei einer ökonomischen Betrachtung vielleicht erwarten würde, können sich daraus durchaus Schlussfolgerungen ergeben, die nicht etwa gegen, sondern für höhere Sozialleistungen sprechen. Wenn beispielsweise durch ein höheres Bürgergeld oder besser noch durch ein allgemeines bedingungsloses Grundeinkommen allen eine gesunde Ernährung ermöglicht wird, resultiert daraus auch eine größere Leistungsfähigkeit im Vergleich zu einer gezwungenermaßen möglichst billigen und daher im Allgemeinen eher schlechten Ernährung. In Anbetracht der Tatsache, dass auch Geringverdiener von einem Grundeinkommen profitieren würden und zugleich durch zusätzliche eigene Einkünfte besser gestellt wären als bei ausschließlichem Bezug von Transferleistungen, würde sich Arbeit durchaus noch lohnen. Dass es gegen solche Konzepte in der Bevölkerung dennoch Vorbehalte gibt, hat wohl eher psychoökonomische Gründe: Viele brauchen jemand, auf den sie herabsehen können, um so zu "funktionieren" zu können, wie ihre Arbeitgeber es "gerne sehen". Es mag Ausnahmen geben, aber letztere sind mehrheitlich mit voller Absicht Nutznießer des Status Quo, indem sie bei der Auswahl ihrer Mitarbeiter erst nach Gusto aus dem Vollen schöpfen und dann die Auserwählten mit Verweis auf das Damoklesschwert des Überflüssigwerdens unter Druck setzen. Im Grund geht es dabei um den Grenznutzen von Menschen und eine damit verbundene Entwertung. Das ist die zynische Seite der Ökonomie, die es herausfordert, ihr eine andere, vielleicht weniger geläufige, aber argumentativ keineswegs unterlegene Auffassung von Ökonomie entgegenzuhalten - wenn Konzepte wie Menschlichkeit schon nicht hinreichend ernst genommen werden.
zum Beitrag24.12.2023 , 15:49 Uhr
Auch wenn ich zu keiner dieser beiden Generationen gehöre, finde ich doch die Generation Z sympathischer als die Boomer. Die junge Generation hat, was beispielsweise die Einstellung zur Arbeit angeht, den Älteren manches voraus, indem sie sich von Konformitätsdruck und normativen Ansprüchen der Gesellschaft weniger beherrschen lässt. Unter anderem gehört dazu die Erkenntnis, dass manche in der Arbeitswelt verbreitete Verhaltensweisen (z.B. Überarbeitung bis zum Burnout; unzureichendes Auskurieren von Erkrankungen, die dann chronisch werden) mehr Probleme schaffen, als sie lösen. Ich persönlich halte insbesondere überhaupt nichts von der weit verbreiteten Neigung, bei der Arbeit vor allem auf einen guten Eindruck abzuzielen, indem man beispielsweise die Arbeitszeiten übermäßig ausdehnt oder Urlaub verfallen lässt, ohne dass damit irgendeine Verbesserung der Arbeitsergebnisse verbunden wäre. Besser ist es - und ich selbst habe es schon seit der Schulzeit mit positivem Ergebmnis so praktiziert -, anfallende Aufgaben rasch und effizient zu erledigen und dann persönlichen Interessen nachzugehen. Mit der Vorstellung, wonach es einen Wert an sich hätte, einem bestimmten Bild zu entsprechen, konnte ich nie etwas anfangen. Dazu ist freilich eine gewisse Selbstdiszipling erforderlich, und ich würde der Generation Z sehr empfehlen, sich um deren Entwicklung zu bemühen - nicht etwa, um bei Chefs oder Kollegen besonders angesehen zu sein, sondern um der letztlich unvermeidlichen Arbeit einen Sinn zu geben und auf der Grundlage entsprechender Ergebnisse mit gutem Recht einen entsprechenden Ausgleich einfordern zu können. Dagegen sind nämlich diejenigen, die eine andere Arbeitskultur etablieren möchten, machtlos. Sie werden es sich etweder gefallen lassen müssen oder werden gezwungen sein, ihre eigenen irrationalen Auffassungen offenzulegen. Dass diese aber bevorzugt unausgesprochen bleiben, hat einen Grund: sie sind ausgesprochen lächerlich.
zum Beitrag21.12.2023 , 21:12 Uhr
Mit Mitte Vierzig gehöre ich nicht mehr zur jungen Generation, finde es aber positiv, dass diese die Profilierung über Arbeit in Frage stellt. Bei Gleichaltrigen habe ich oft die Tendenz bemerkt, einen besonders guten Eindruck machen zu wollen, was nicht unbedingt mit Leistung gleichzusetzen ist. Darin sehe ich keinerlei Sinn. Es sollte vielmehr darum gehen, welche Arbeit notwendig und sinnvoll ist und wie die diese Arbeit so verteilt werden kann, dass es nicht zu einer Überforderung kommt. Es gibt zum Teil sehr unterschiedliche Arbeitsrealitäten - von wahren Knochenjobs, die meistens auch noch schlecht bezahlt sind, bis hin zu sogenannten "bullshit jobs", deren einziger Sinn zu sein scheint, die "Gesellschaft des Spektakels" immer wieder neu hervorzubringen. Für die Konservativen, die sich über eine schwindende Arbeitsmoral beklagen, scheint die Arbeit vor allem auch eine erziehende und eine disziplinierende Funktion zu haben. Wer auf solche Weise gebunden ist und nicht auf unerwünschte Gedanken kommt, ist leichter im Sinn eines konservativen Gesellschaftsmodells beherrschbar. Andererseits sollte man aber auch nicht unterschlagen, dass Arbeit auch die Möglichkeit bietet, bestimmte Fertigkeiten zu entwickeln, und dass eine gewisse Selbstdisziplin einen größeren Handlungsspielraum eröffnet, als ihn jemand hat, der in seinen Reaktionsweisen immer nur dem Prinzip des geringsten Widerstands folgt und somit berechenbar und beeinflussbar ist. Es geht letzten Endes darum, der Arbeit etwas abzugewinnen - trotz der Arbeit und allem damit möglicherweise verbundenen Schikanen.
zum Beitrag19.12.2023 , 12:53 Uhr
Sie beziehen sich nun auf die eventuelle Stellungnahme eines Richters, ich hatte aber eher die von Laien geführte Debatte zu diesem Thema im Sinn. Mein Ansatz wendet sich auch nicht gegen das Recht als Institution (wobei es da, wie in vielen anderen Bereichen auch, aus meiner Sicht manches zu überdenken und zu verbessern gäbe), sondern gegen eine Form des politischen Diskurses, die Ansätze zur Veränderung im Namen eines vermeintlichen Pragmatismus beschneidet. Die Rechtsbrüche der LG interpretiere ich in diesem Zusammenhang so, dass man die Justiz benutzt, um gewissermaßen "über Bande zu spielen" und eine metapolitische Auseinandersetzung einzuleiten, die ansonsten rigoros abgewürgt würde. Ob freilich dazu Rechtsbrüche erforderlich sind, darüber kann man sich trefflich streiten. Ich persönlich meine, dass es genügen würde, auf einer Ebene unterhalb der Strafbarkeit Anstoß zu erregen. Um eine bisweilen unangenehme Konfrontation mit nicht kodifiziertem, aber von manchen Zeitgenosse als selbstverständlich erachtetem Gewohnheitsrecht wird man aber auch dabei nicht herumkommen.
zum Beitrag19.12.2023 , 10:39 Uhr
Es mag sein, dass Fluggesellschaften nicht gegen derzeit geltendes Recht verstoßen. Aber das Recht ist zum Glück nicht nur platte Anwendung von Gesetzestext oder womöglich gar das Durchsetzungsmittel des gemeinen Volksempfindens, sondern hat durchaus einen ideengeschichtlichen Hintergrund. Insofern geht es auch um eine Abwägung von Werten - Gewinnstreben und vermeintliches Gewohnheitsrecht auf der einen, vernunftgemäß und wissenschaftlich begründbare Forderungen auf der anderen Seite. Letztere haben aber mitunter im geltenden Recht keine Handhabe und werden auch auf politischer Ebene gerne unter den Teppich gekehrt, weil dort sogenannter Pragmatismus (oder anders ausgedrückt: Affirmtion des Bestehenden) als Maßstab von Vernunft betrachtet wird. Insofern geht es bei Aktionen wie der Flughafenblockade zunächst einmal darum, Aufmerksamkeit zu erhalten. Diese Aufmerksamkeit wird zunächst über die Medien, letzten Endes aber das rechtsstaatliche Procedere generiert, das sich - anders als die Politik - in sachlicher Auseinandersetzung mit dem "Fall" befassen muss. Somit wird die politische Auseinandersetzung auf die Ebene des Diskurses verlagert. Damit ist aus meiner Sicht genau erreicht, was - ob von der LG beabsichtigt oder nicht - das Ziel sein sollte: Eine Debatte darüber, ob Fluggesellschaften und andere Verursacher des Klimawandels nicht viel mehr zur Verantwortung dafür gezogen werden müssen, dass sie ihr Geschäftsmodell auf Kosten eines Gemeinguts - erhaltenswerter klimatischer Bedingungen - betreiben. Insofern ist das Angebot eines Ausgleichs, das die LG der Fluggesellschaft gemacht hat, ein geschickter Schachzug. Man mag ja zu Flughafenblockaden stehen, wie man will; wer sich aber in der daraus resultierenden diskursiven Auseinandersetzung auf die Seite der Fluggesellschaft stellt und dabei auf die Rechtslage verweist, ideologisiert geltendes Recht und leistet damit dem neokonservativen, affirmativen Pragmatismus Vorschub, der ein Grundübel unserer Zeit ist.
zum Beitrag18.12.2023 , 22:47 Uhr
"A company has no social responsibility to the public or society; its only responsibility is to its shareholders" - diese Sichtweise hat Milton Friedman dem Neoliberalismus ins Stammbuch geschrieben. Dass daraus Absurditäten resultieren, wird an dem beschriebenen Beispiel deutlich. Auch das Recht wurde dahingehend instrumentalisiert, zumindest in Teilaspekten wie hier dem Aktienrecht. Theoretisch betrachtet, geht es um einen Konflikt von Gewohnheitsrecht und Vernunftrecht. Entlang dieser Konfrontationslinie scheint mir, nebenbei bemerkt, auch die Auseinandersetzung zu verlaufen, wenn es darum geht, ob die CSU zutreffender als Verbotspartei zu bezeichnen ist als etwa Die Grünen. In Zusammenhang mit dem Klimaschutz wird es zunächst darauf ankommen, möglichst bald wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Auf längere Sicht werden wir aber über die Notwendigkeit von Klimaschutz mit Fragen grundsätzlicher Art konfrontiert werden. Da auch - wie in Ihrem Beitrag beschrieben - die ins Bestehende Integrierten zunehmend die Absurdität systemischer Zwänge erkennen, besteht durchaus Hoffnung, dass auch über die Klimaproblematik hinaus früher oder später ein Umdenken stattfindet. Freilich kann dies nur in Konfrontation mit denjenigen gelingen, die bemüht sein werden, ihre eigenen fragwürdigen Narrative einzubringen und den Diskurs in eine ganz andere Richtung zu lenken.
zum Beitrag27.11.2023 , 20:07 Uhr
Korrektur: "not true=false", tut aber nichts zur Sache.
zum Beitrag27.11.2023 , 19:59 Uhr
Wenn Sie meine Beiträge nochmal aufmerksam durchlesen, werden Sie feststellen, dass ich die Thematik hauptsächlich dahingehend aufgreife, um zu einer grundsätzlichen Gesellschaftskritik überzuleiten. Diesen Schritt würde ich auch der LG anempfehlen, gewissermaßen als freundschaftlichen Rat. Denn man kann durchaus ein Stachel im Fleisch dieser Gesellschaft sein, ohne Gesetze zu übertreten. Nichtsdestotrotz kritisiere ich die Einstellung, alle Gesinnungen auf die gleiche Stufe zu stellen, und diese Kritik bezieht sich weniger auf die Justiz als Institution - diese funktioniert eben offenbar nach diesem Prinzip -, sondern auf eine Einstellung, die eine Ideologie daraus macht und somit dem ohnehin schon verbreiteten Relativismus und Opportunismus Vorschub leistet. Aus meiner Sicht liegt einer solchen Einstellung zugrunde, dass man den mündigen Bürger auf eine Art Pawlowschen Hund reduzieren möchte. Oder man geht davon aus, wenn der Rechtsstaat nur einen Moment lang die Augen schließt, würde gleich die grauenhafteste Barbarei ausbrechen - das wäre dann ein Armutszeugnis für die Gesellschaft, ist aber vermutlich eher eine Projektion derjenigen, die diese Befürchtung haben. Oder man ist durch und durch Opportunist und findet beispielsweise, dass die Sklaverei eine begrüßenswerte Institution war, bevor ein gesetzliches Verbot bestand. Danach erst war sie durch und durch verwerflich. Ich will hier niemandem solche Ansichten unterstellen, aber ich habe schon Leute kennengelernt, die tatsächlich so argumentiert haben. "The statement murder is wrong is nonsense" - sicher, wenn man es vom Standpunkt der Aussagenlogik betrachtet, so wie "true x true=false". Wie auch immer, jeder hat seine Gründe für die eigene Sichtweise, Sie haben ihre, ich habe meine.
zum Beitrag27.11.2023 , 13:26 Uhr
Ich selbst ziehe Formen der Kritik vor, die sich innerhalb des demokratisch vorgesehenen Diskurses halten. Andererseits kann ich auch verstehen, dass manche es leid sind, auf diesem Weg weiterzugehen, der in all den Jahren und Jahrzehnten zu wenig geführt hat, und die nun als ultima ratio den zivilen Widerstand wählen. Besser wäre es freilich, wenn Kritik grundsätzlich viel freimütiger geäußert würde, anstatt immer nur den lieben Frieden wahren zu wollen. Dann wäre es vermutlich gar nicht erst zu dem Dilemma gekommen, von dem die Kontroverse um die Aktionen der LG nur ein Symptom ist. Allerdings hat die Gesellschaft im Lauf der Zeit gut funktionierende Abwehrmechnismen entwickelt, welche den Kritiker mitunter geradezu als Hanswurst erscheinen lassen. Nun gut, wer das eigene Anliegen nur nachdrücklich genug verfolgt, wird letzten Endes in Erinnerung bleiben als "der Hanswurst, der sich ernst nehmen machte" (Nietzsche). So war es schon immer, von Sokrates bis zu Gustl Mollath, denen beiden aus fragwürdigen Motiven der Prozess gemacht wurde, wobei im Fall des Letzteren die bayerische Justiz eine unrühmliche Rolle gespielt hat (aber die bayerische Justiz macht ja bekanntlich keine Fehler). Da stellt sich für mich schon die Frage, inwieweit dieser Fall Schule gemacht hat und ob es sich die Justiz leisten kann, leisten darf, missliebige Personen oder Organisationen in übertriebener Weise abzukanzeln und gleichsam aus einer Mücke (die durchaus lästig und auf der Agenda nicht vorgesehen sein mag) einen kriminellen Tatbestand vom Gewicht eines Elefanten zu machen. Recht ist immer auch eine Frage der Auslegung innerhalb eines gegebenen Interpretationsspielraums. Und ich war schon immer der Meinung, dass Rechtsnormen im Einklang mit ethischen Überlegungen stehen sollten, anstatt nur die normative Kraft des Faktischen einmal mehr zu bestätigen.
zum Beitrag27.11.2023 , 10:31 Uhr
Na Hauptsache, das formale Procedere bleibt gewahrt, dann sind alle zufrieden und glücklich. Und Demokratie und Gesetzgebung leiten sich selbstverständlich von einem quasi-göttlichen Auftrag her und nicht etwa aus der Vernunft. Eine solche Art von Demokratie hätte selbst einem Sören Kierkegaard behagt, der neben viel Anregendem und Bedenkenswertem auch Blödsinn wie den geschrieben hat, dass die Demokratie ganz im Gegensatz zur Monarchie die tyrannischste Staatsform sei, weil sie dem Einzelnen eine immense Verantwortlichkeit abverlange und ihn dadurch von einem biedermeierlichen Rückzug ins Private abhalte. Nun, aus meiner Sicht muss Demokratie diesen ach so furchtbar tyrannischen Anspruch stellen, weil sie sonst den Namen nicht verdient. Ich will nicht das Kind mit dem Bad ausschütten und wende mich ausdrücklich gegen antidemokratische Fehlinterpretationen, aber es muss möglich sein, auch an der vermeintlich besten aller Welten Kritik zu üben. Darüber, wie sich solche Kritik idealerweise artikulieren sollte, lässt sich freilich trefflich streiten.
zum Beitrag26.11.2023 , 21:20 Uhr
Ein Problem ist, dass viele offenbar ein Recht auf Ignoranz einfordern und mit nichts konfrontiert werden wollen, was ihren privaten Horizont übersteigt. Es geht aus meiner Sicht nur vordergründig um die vermeintlichen Straftaten, im Grunde spielt der Ärger darüber eine größere Rolle, hören zu müssen, was man nicht hören will. Dafür spricht, dass etwa das Verständnis für Demonstrationen der Klimabewegung Umfragen zufolge nicht wesentlich ausgeprägter ist als das für Verkehrsblockaden. Diejenigen, die sich selbst daran stören, machen es sich eindeutig zu leicht. Wenn dann aber irgendwann die Auswirkungen des Klimawandels nicht mehr zu ignorieren sind, dann werden die gleichen Leute sich damit herausreden, dass diejenigen, die es zu einem früheren Zeitpunkt schon genau gewusst haben, nicht noch viel lautstärker aufgetreten sind. Irren ist menschlich, und im Grunde war man ja schon immer überzeugter Klimaschützer, aber damit konnte man sich nicht im persönlichen Umfeld durchsetzen, und so hat man sich eben gefügt, weil einem beigebracht wurde, dass es das beste für einen ist. Mit einer solchen Auffassung von Vernunft verhält man sich aber auf übergeordneter Ebene maximal unvernünftig, und daran ändert es auch nichts, wenn ein Gerichtsurteil die Gegebenheiten als alternativlos festschreibt und damit letzten Endes Politik macht.
zum Beitrag20.11.2023 , 23:10 Uhr
Ob das Einkommen aber in jedem Fall in einem angemessenen Verhältnis zum gesamtgesellschaftlichen Nutzen steht, halte ich für fragwürdig. Außerdem wirkt sich bei hohen Einkommen eine Verringerung weniger drastisch auf die Lebensqualität aus als bei niedrigen. Wer Wohlstand und persönliche Entfaltung nicht in dem eng gefassten Sinn eines FDP-Scheuklappen- Individualismus sieht, könnte sogar auf die Idee kommen, dass etwas höhere Abgaben im eigenen Interesse sind. Denn wenn den Letzten die Hunde beißen, wirkt sich das auch auf das gesellschaftliche Klima aus: Dadurch wird Konformität gefördert, nicht Individualität, wie es der (Wirtschafts)liberalismus verspricht. In letzter Konsequenz läuft das auf "gated communities" hinaus, wo die einfach Gestrickten unter den Wohlhabenden ihren abgeschmackten Vergnügungen nachgehen können, um ihre innere Leere zu kaschieren.
zum Beitrag23.09.2023 , 12:39 Uhr
Da ist sie wieder, die viel gescholtene Neiddebatte, die freilich nur dann verteufelt wird, wenn sich der Neid auf die Wohlhabenden bezieht. In Gestalt der Transferleistungsempfänger hat sich offenbar ein geeigneter Blitzableiter gefunden. Aber worum genau beneidet man diese? Nur um das Geld oder um das vermeintlich leichte Leben? Es mag da ja viele Arten von Böcken und Schafen geben, aber im Allgemeinen ist das Dasein von Leistungsempfängen nicht gerade beneidenswert, weil es durchaus Gründe hat, dass sie für den Arbeitsmarkt nicht attraktiv sind - diese werden nur nicht immer offen zur Schau getragen. Abgesehen davon hat Arbeit nicht nur eine ökonomische Komponente. In vielen Fällen ist durchaus ein Stück Begeisterung dabei, auch die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Selbstdarstellung spielt oft ebenfalls eine Rolle, oft getarnt als Aufopferung. Woran liegt es also, wenn die Arbeit manchmal als Bürde erscheint? Aus meiner Sicht liegt es an den Arbeitsbedingungen, an kleinlichen Vorgaben, die rein gar nichts mit den Leistungsanforderungen zu tun haben, an bisweilen engstirnigen Kollegen oder Chefs und daran, dass Autoritarismus heutzutage vor allem in der Arbeitswelt überlebt hat. Dagegen gilt es einzutreten, anstatt sich gegen die Empfänger von Bürgergeld ausspielen zu lassen.
zum Beitrag20.09.2023 , 22:57 Uhr
Was die Auseinandersetzung mit Diskriminierung, insbesondere im postkolonialen Zusammenhang angeht, war diese Folge durchaus vielschichtig. Allerdings hat sie eben auch diejenigen bedient, denen an der Bestätigung von Klischees gelegen ist, um ihre Ressentiments zu unterfüttern. Es mag durchaus sein, dass "Wokeness", wenn sie ad absurdum geführt wird, manchen auf die Nerven geht. Auch kann der Vorwurf der Diskriminierung in passiv-aggressiver Weise genutzt werden, um jemand in die Enge zu treiben, der sich vielleicht einfach nur unbedacht verhalten oder missverständlich ausgedrückt hat. Perfider Missbrauch der Rolle eines vorgeblichen Opfers oder Beschützers ist nicht ausgeschlossen. Aber ich verstehe andererseits auch nicht, was dagegen sprechen sollte, sich etwa mit eigenen Privilegien - ob nun ethnisch oder anderweitig bedingt - reflektiert auseinanderzusetzen. Entweder scheint dies an einer antiintellektualistischen Abneigung gegen Reflexion als solche zu liegen, oder den betreffenden Leuten liegen ihre Privilegien eben ungemein am Herzen, auch wenn sie letztlich auf (freilich historisch verjährten) Begebenheiten beruhen, die heute vom Standpunkt der Menschenrechte aus betrachtet als Unrecht erscheinen müssen. Aber viele sind offenbar der Meinung, dass durch Gewohnheitsrecht rückwirkend die Mittel geheiligt werden. Was allgemein verbreitet ist und gesellschaftlich als Kavaliersdelikt durchgeht - Diskriminierung im Alltag und struktureller Rassismus - wie kann es das wert sein, den braven Bürger in seiner behaglichen Selbstgefälligkeit zu irritieren? Nun, er wird es sich gefallen lassen müssen, wobei es freilich auch den Kritikern gut ansteht, nicht selbst in eine solche Rolle, nur mit umgekehrten Vorzeichen zu verfallen. Und so bleibt eine Feststellung Adornos zeitlos aktuell: "Die rastlose Selbstzerstörung der Aufklärung zwingt das Denken dazu, sich auch die letzte Arglosigkeit gegenüber den Gewohnheiten und Richtungen des Zeitgeistes zu verbieten."
zum Beitrag03.08.2023 , 23:25 Uhr
Erst vor kurzem hat CDU-Generalsekretär Linnemann als Sprachrohr des Vorsitzenden Merz verlauten lassen, dass es im Fall einer zukünftigen Regierungsbeteiligung Änderungen beim Bürgergeld geben soll. Der Zeitpunkt war wohl nicht ganz zufällig gewählt. Synergieeffekte werden offenbar gerne genutzt, auch wenn eine Abgrenzung nach rechts die offizielle Richtlinie ist. Es wird jetzt viel über das Thema diskutiert, und die Befürworter der Kürzungen sind auch hierzulande besonders lautstark mit dabei. Es ist sicherlich richtig, dass für viele die Erwerbstätigkeit kein Zuckerschlecken ist und daher ein gewisser Neid gegenüber denjenigen entstehen kann, die es sich vermeintlich besonders leicht machen. Aber bei genauerer Betrachtung ist dann der Wunsch doch nicht mehr so groß, mit den Empfängern von Sozialleistungen zu tauschen. Irgendeine Beeinträchtigung haben die meisten, und die Rolle als Sündenböcke ist mit den staatlichen Zuwendungen nicht gerade üppig bezahlt - zumal sie eine wichtige Funktion erfüllen: Wenn Leute als abschreckendes Beispiel hingestellt werden, wie sich die Lebenssituation bei sozialem Abstieg gestaltet, werden die Beschäftigten eher bereit sein, Zumutungen hinzunehmen. Und damit meine ich nicht nur die Leistungsanforderungen, auch wenn es da durchaus Grenzen des Zumutbaren gibt, sondern insbesondere Praktiken, die durchaus an die Leibeigenschaft erinnern: Einmischung in persönliche Angelegenheiten und der Versuch, Mitarbeiter so zu formen, dass sie voll und ganz das politisch-weltanschauliche Mindset übernehmen, das Vorgesetzte oder andere Mitarbeiter von ihnen erwarten. Jeder, der da mitspielt, trägt zur Normalisierung solcher Missstände bei. Insofern bin ich froh darüber, in letzter Zeit öfter zu lesen, dass die Generation Z durchaus Ansprüche an den Arbeitgeber stellt. Das geht leichter, wenn vom sozialen Netz aufgefangen wird, wer in Ungnade fällt. Insofern können Abgaben, die in die Sozialkassen fließen, durchaus im eigenen Interesse sein.
zum Beitrag03.08.2023 , 00:39 Uhr
Was die Rechten ihren Anhängern zu bieten haben, ist symbolisches Kapital (Pierre Bourdieu hat diesen Begriff geprägt). Es gibt viele, denen es ungeheuer wichtig ist, auf der Seite der Macht zu stehen. Da kommt dann die Identifikation mit dem Vaterland, mit einer autoritären politischen Befehlsgewalt und mit wirtschaftlichen Eliten gelegen. Viele Arbeitgeber wiederum freuen sich, wenn ihre Beschäftigten sich damit abspeisen lassen und für Gottes Lohn und als Dienst am Volk unbezahlte Mehrarbeit leisten. "It's the economy, stupid", war mal ein Slogan. Schön wär's. Zutreffender müsste es heißen: "It's the hegemony of the stupid."
zum Beitrag12.06.2023 , 22:57 Uhr
Ich frage mich, was "Arbeitsmoral" an sich für einen Eigenwert haben soll. Vermutlich dass man am Ende des Tages die Schwielen (oder was auch immer bei geistiger Arbeit zu diesen äquivalent ist) stolz vorzeigen kann und den Bewunderern einige Ah's und Oh's entlockt. Und natürlich - nicht zu vergessen - die stolze Rolle des stets ums Wohlergehen der Schutzbefohlenen besorgten Hausherren, die inzwischen auch viele Frauen für sich entdeckt haben. Bei allem Respekt: Das sind letzten Endes Eitelkeiten, die rein gar nichts damit zu tun haben, ob eine Tätigkeit sinnvoll ist und einen Nutzen bringt - und darum, und um nichts anderes sollte es bei der Arbeit doch gehen, so meine bescheidene Meinung.
zum Beitrag28.02.2023 , 20:57 Uhr
Anhand der Klimakrise zeigen sich auch toxische gesellschaftliche Strukturen. Die zugrundeliegende Problematik ist allerdings lange bekannt. Schon Wilhelm Reich hat das Konzept der "emotionalen Pest" des Menschen entwickelt, derzeit häufiger verwendet ist aber der von Marie-France Hirigoyen geprägte Begriff der narzisstischen Perversion. Es sollte schon zu denken geben, dass viele "Führungspersönlichkeiten", auch solche auf der internationalen politischen Bühne, als maligne Narzissten einzuschätzen sind. Das Problem liegt allerdings tiefer: Es hängen alle irgendwie mit drin, es kann sich wohl niemand rühmen völlig frei von toxischen Verhaltensmustern zu sein, vielmehr sind diese geradezu erforderlich, um in der Gesellschaft zu bestehen. Insofern stellt sich die Aufgabe, auf politische Veränderung hinzuwirken und zugleich an sich selbst zu arbeiten. Aus diesem Grund – und nicht etwa, um irgendwelchen Gegnern Konzessionen zu machen - tun Aktivisten für den Klimaschutz gut daran, auch an sich selbst hohe Maßstäbe anzulegen. Selbst wenn es, wie Adorno festgestellt hat, kein richtiges Leben im falschen gibt, so kann man doch zumindest versuchen, selbst etwas besser zu sein als "das Ganze" - nicht um irgendeine Außenwirkung zu erzielen, sondern weil man es sich selbst schuldig ist. Wer zur Selbstüberwindung imstande ist, kann auch mehr erreichen, wenn es darum geht, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern.
zum Beitrag27.02.2023 , 22:36 Uhr
Es wäre sinnvoll, den Arbeitsbegriff weiter zu fassen und auch die Arbeit an sich selbst sowie gesellschaftliche Arbeit im weitesten Sinn einzubeziehen. Gerade davor flüchten sich viele in die Arbeit im herkömmlichen Sinn, weil sie prestigeträchtiger und mitunter auch leichter ist. Manche brauchen ihre Arbeit auch als eine Art Beschäftigungstherapie. Keine Sorge, die Möglichkeiten, sich irgendwie sinnvoll zu betätigen und einzubringen, werden nicht ausgehen. Wenn es aber um die notwendige und sinnvolle Arbeit geht, die eben von irgendwem erledigt werden muss, sollte man ökonomisch denken - allerdings in einem umfassenderen Sinn, der auch Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen sowie ökologische Gesichtspunkte berücksichtigt, was dann auf Verteilungsfragen führt und letzten Endes auch auf die Frage: Können wir uns das bisherige Konzept von Arbeit überhaupt leisten? Denn eines ist sicher: All die Arbeitsstunden, die nur dazu dienen, einen guten Eindruck zu machen, eine aufgesetzte Rolle zu spielen und sich ungemein wichtig vorzukommen, sind gesellschaftlich absolut verzichtbar. Diejenigen, die daran Gefallen finden, wären besser beraten, ihrer schauspielerischen Neigung in einem Laientheater nachzugehen. Überhaupt ist die Zeit, die in Überstunden und lange Arbeitszeiten investiert wird, besser genutzt, wenn sie beispielsweise in Bemühungen um eine nachhaltigere Lebensweise fließt. Auch in dieser Hinsicht kann man durchaus Ehrgeiz entwickeln, unabhängig von jeglichen Karriereambitionen.
zum Beitrag16.02.2023 , 21:38 Uhr
Aus meiner Sicht reden diejenigen, die in den Aktionen der LG den Tatbestand der Nötigung sehen, und die anderen, denen vielmehr eine schlichte Behinderung des Verkehrsflusses in Verbindung mit zivilem Ungehorsam vorzuliegen scheint, aneinander vorbei. Um zivilen Ungehorsam handelt es sich insofern, als die Aktivisten der stillschweigend als gesellschaftlichen Konsens vorausgesetzten Erwartung nicht nachkommen, an der reibungslosen Gestaltung von Alltagsabläufen mitzuwirken. Von Vorkommnissen mit vergleichbarem Ergebnis, wie sie etwa an Fasching und Halloween oder nach Fußballspielen zu beobachten sind, unterscheidet sich die Motivlage. Es geht darum, ein Anliegen derart nachdrücklich ins Bewusstsein zu rufen, dass es schlicht unmöglich zu ignorieren ist. Eine Nötigung kann ich darin nicht erkennen, da eine einzelne Aktion vom Verhalten der Autofahrer - und übrigens auch "der Politik", denn Beschlüsse in einem derartigen Eilverfahren sind wohl kaum zu realisieren - völlig unbeeinflusst bleibt. Letzten Endes ist also die Gesinnung der Stein des Anstoßes, wobei vor allem der Verstoß gegen das Eingefahrene und Gewohnte als Provokation empfunden wird. Dazu gehört leider auch die verbreitete Akzeptanz eines Konzepts von Politik, bei dem man es mit Versprechen und selbst mit eingegangenen Verbindlichkeiten - wie in Zusammenhang mit Klimaschutz - nicht so genau nimmt. Viele werden einwenden, man müsse akzeptieren, dass es "eben so läuft". Aber es regt sich eben zugleich auch Widerstand dagegen, und so wird die Justiz aufgrund der unvermeidbaren Verfahren gegen die LG-Aktivisten zu einer Instanz, die sich schon aufgrund ihrer Funktionsweise auf eine argumentative Auseinandersetzung einlassen muss, wie sie im politischen Betrieb rigoros abgewürgt würde. Wenn man denn von einem Nutzen der Blockadeaktionen sprechen kann, dann ist es die Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen und Metapolitik zu betreiben - ob im Gerichtssaal oder auf der Ebene des gesellschaftlichen Diskurses.
zum Beitrag02.02.2023 , 21:34 Uhr
Die Rolle des individuellen Verhaltens in Zusammenhang mit dem Klimaschutz würde ich nicht als nachrangig gegenüber der gesellschaftlich-politischen Dimension des Problems betrachten. Beide Aspekte sind eng miteinander verbunden, man kann persönliche Verhaltensänderung durchaus als Vorübung für die dadurch nicht geschmälerten politischen Visionen im Rahmen der eigenen Lebenswelt betrachten. Dass dabei einer Person dieses umzusetzen leichter fällt, der anderen jenes, muss kein Grund sein, das eine gegen das andere auszuspielen. Auf politische Wirkung abzielender Aktivismus hat ebenso seine Berechtigung wie Konsequenz und Selbstkritik im persönlichen Bereich. Erstrebenswert wäre es, beides zu verbinden, wie es sicherlich schon bei vielen Aktivisten der Fall ist. Auch gegen diese wird aber, wer unbedingt Kritik anbringen möchte, irgendeinen Einwand finden. Es gibt eben letzten Endes kein richtiges Leben im Falschen, was aber trotzdem niemanden davon abzuhalten soll, zumindest zu versuchen, etwas besser zu sein als "das Ganze". Wenn die beiden Urlauber es ernst meinen, dass der Rückflug der letzte ihres Lebens sein soll, sind sie zumindest auf dem richtigen Weg und können in dieser Hinsicht anderen ein Beispiel geben, die ebenfalls noch nicht das Nonplusultra der klimafreundlichen Lebensweise erreicht haben, aber diesbezüglich an sich arbeiten. Insofern lässt sich der Angelegenheit noch ein positiver Gesichtspunkt abgewinnen: Auch Klimaschützer kochen nur mit Wasser, und wer sich bisher nicht "qualifiziert" genug dafür gefühlt hat, darf sich somit eingeladen sehen, auf den Zug aufzuspringen. Es geht um Transformation, sowohl auf gesellschaftlicher, als auch auf individueller Ebene, und in diesem Sinn gilt es den Gedanken des lebenslangen Lernens ernstzunehmen.
zum Beitrag30.01.2023 , 20:17 Uhr
Ein Problem bei der Veränderung der Gegebenheiten ist die Hegemonie, die sich in der öffentlichen Meinung zu erkennen gibt und diese zugleich verfestigt. Die Menschen werden in ihrem jeweiligen Umfeld auf eine bestimmte Denkweise getrimmt, wie an den Beiträgen in verschiedenen Foren zu beobachten ist (dieses hier ist da eher die Ausnahme). Solche Effekte verzerren die demokratische Willensbildung, denn diese setzt in ihrer Reinform souveräne Individuen voraus, die sich in einem herrschaftsfreien Diskurs auf die bestmöglichen Lösungen einigen. Tatsächlich hat man es aber mit einer gegenseitigen Beeinflussung zu tun, bei der sich Einzelne und gesellschaftliche Gruppen wie Struktureinheiten in einem magnetischen Material gegenseitig polarisieren und ausrichten. Eine spontane Umorientierung ist da nicht zu erwarten, vielmehr braucht es eine Erschütterung oder Temperaturerhöhung, was in der gesellschaftlichen Analogie darauf hinausläuft, durchaus auch anstößig zu wirken und die Gemüter zu erhitzen. In dieser Hinsicht kann Aktivismus etwas voranbringen. Ob eine nachhaltige Veränderung, entsprechend einer neu ausgerichteten Magnetisierung, letztlich gelingt, hängt aber davon ab, ob diese energetisch günstig ist, also sichtbare Vorteile mit sich bringt. Dabei kommt es dann darauf an, welche Lösungen diejenigen anzubieten haben, deren selbstgewählte Aufgabe es ist, den Diskurs in eine geeignet Richtung zu lenken, um die Freisetzung der ansonsten im Alltagstrott gebundenen Kräfte konstruktiv nutzbar zu machen. Es ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass die meisten Menschen letzten Endes konsequenten Klimaschutz als Bestandteil ihres eigenen Interesses erkennen - darauf deuten auch die Ergebnisse von Umfragen zu diesem Thema hin. Aber es ist erforderlich, die Hürden, die in der jeweiligen Lebenswelt der konsequenten Verfolgung dieses Ziels im Weg stehen, zu identifizieren und zu überwinden. Dabei können noch alle ihre Rolle finden, ob Aktivisten oder Politiker.
zum Beitrag29.01.2023 , 18:11 Uhr
Mir ist nicht bekannt, dass es sich um eine Forderung der LG handelt, aber es lohnt sich dennoch, diesen Ansatz aufzugreifen. Internationale Verbindlichkeiten für Klimaschutzziele sind nämlich angesichts der Weigerung eines Großteils der Einzelpersonen, gesellschaftlichen Gruppen und Staaten, mit gutem Beispiel voranzugehen, durchaus eine Option. In ihrer Ausgestaltung müssen sie keineswegs eine Ähnlichkeit mit der chinesischen Staatsführung haben. Wenn es um wirtschaftliche Fragen geht, sehen offenbar nur wenige ein Problem darin, wenn etwa einzelne Länder der EU schulmeisterlich in die Verantwortung genommen werden, ihre "Hausaufgaben" zu machen. Warum ist das in der Klimapolitik anderes? Vermutlich liegt es daran, dass man in Fragen der Wirtschaft "harte Fakten" sieht, während das Thema Klimaschutz als Konstrukt betrachtet wird. Das ist eine krasse Umkehrung der tatsächlichen Begebenheiten, zumal die Erhaltung der klimatischen Bedingungen und einer intakten Natur zwar nicht alles ist, aber ohne diese Erhaltung alles nichts - insbesondere die Wirtschaft, letzten Endes ein von der Allgemeinheit anerkanntes Hirngespinst. Was die Rolle des Wohlstands angeht, so muss man bedenken, dass viele Bedürfnisse erst künstlich geschaffen und heraufbeschworen werden, nicht zuletzt durch die Funktionsweise der Arbeitswelt, für deren Zumutungen sich viele meinen entschädigen zu müssen. Mit Veränderungen in diesem Bereich würden viele vermeintliche Bedürfnisse hinfällig. Den Ehrgeiz und die Eigeninitiative, die durch eine Abkehr vom Erfolgs- und Karrieredenken von ihrer vorherigen Funktion entbunden werden, lassen sich in anderer Hinsicht nutzbar machen: Kulturell im weitesten Sinn, und nicht zuletzt im Einsatz für die Regeneration der natürlichen Umwelt. Damit es sich nicht allzu sehr wie eine Ohrfeige anfühlen muss, wenn manche vorausgehen und andere sich zurückfallen lassen, können Verbindlichkeiten auf internationaler Ebene durchaus ihre Berechtigung haben.
zum Beitrag21.01.2023 , 17:57 Uhr
Die Idee an sich halte ich für sehr gut. Das Problem ist nur, dass mit privatwirtschaftlichen Unternehmen nicht gut Kirschen essen ist, wenn sie ihre Profite bedroht sehen. Dann lässt sich auch der Staatsapparat bereitwillig für deren Interessen einspannen, wie man es beobachten konnte, als nachdem eine Ölraffinerie Ziel der Aktionen geworden war: Dies wurde zum Anlass genommen, um den Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung lautwerden zu lassen. Es gibt aber andererseits die Möglichkeit, das Konzept der in dieser Hinsicht weniger heiklen Straßenblockaden mit Aktionen gegen die Tierindustrie zu verbinden: Dann nämlich, wenn Tiertransporte unterwegs sind. In einem Stau ist es relativ leicht möglich, die Transportbedingungen beispielsweise zu filmen und so der Öffentlichkeit Einblicke zu ermöglichen. Abgesehen davon gab es als Reaktion auf die niedrigen Lebensmittelpreise und den daraus resultierenden wirtschaftlichen Druck auf Bauernhöfe und landwirtschaftliche Betriebe - auch dies steht in Zusammenhang mit der Massentierhaltung - bereits Protestaktionen, die an Blockaden erinnern (www.lebensmittelze...144481?crefresh=1). Es lassen sich für die Aktionen der LG mehr potentielle Verbündete finden, als man zunächst meint - und selbst wenn es zu keiner direkten Zusammenarbeit mit denjenigen kommt, die in eigener Sache aktivistisch unterwegs sind, sind zumindest Synergieeffekte möglich.
zum Beitrag19.01.2023 , 21:00 Uhr
Das grundsätzliche Problem ist, dass die etablierte Politik ebenso wie ein Großteil der Gesellschaft sich nicht auf eine klare Stellungnahme zu Fragen der Klimakrise einlassen möchte. Ermöglicht wird dies durch die Fixierung auf die "eigenen Gesetze" des Politikbetriebs und des gesellschaftlichen Lebens. Ironischerweise wird dadurch im Gegenzug die Sphäre der Rechtsprechung politisiert, zu deren Wesen es gehört, den Begebenheiten auf den Grund zu gehen. Genauer betrachtet, geht es um das Rechtsverständnis als solches. Es ist eine Tendenz in der Rechtsauffassung zu beobachten - der im Artikel genannte Richter steht da im Einvernehmen mit landläufig verbreiteten Sichtweisen -, das Recht in konkreten Fragen von untergeordneter Relevanz eng auszulegen, während man es in Hinblick auf Abstrakteres wie den Handlungsbedarf in Fragen des Klimaschutzes nicht so genau nimmt. Wenn allerdings auf die Gefahr hingewiesen wird, durch weniger rigide Auslegung im Konkreten das Vertrauen in das Recht als solches zu untergraben, dann ergibt sich diese Gefahr umso mehr bei laxer Handhabung des Rechts in weniger greifbaren Zusammenhängen mit größerer Tragweite. Zumindest wäre bei mündigen Bürgern, die nicht hoffnungslos verkürzt denken, davon auszugehen. In der Praxis ist allerdings die Neigung verbreitet, sich unreflektiert an einer "normativen Kraft des Faktischen" oder einer "Sittlichkeit der Sitte" zu orientieren, und was dem einen erlaubt ist, soll auch jedem anderen zustehen, ungeachtet der Umstände. Eine solche Auffassung legt nahe, dass man es mit ethisch nicht allzu hochentwickelten, eher kindischen Wesen zu tun hat. Die Gesellschaft täte gut daran, in dieser Hinsicht etwas höhere Ansprüche an sich zu stellen. Der Rechtsprechung wiederum würde es gut anstehen, dem ethischen Kern des Rechts zu mehr Geltung zu verhelfen und Politik und Gesellschaft an ihre Verantwortung zu erinnern. Ohne Fortschritte in dieser Hinsicht bleiben Aktionen wie die der LG ein unvermeidbares Korrektiv.
zum Beitrag17.01.2023 , 21:52 Uhr
Je nach Betrachtungsweise lässt sich in den Protesten der "Letzten Generation" vieles sehen. Als positiv darf sicherlich gelten, dass schon einiger Mut dazugehört, diese Aktionen durchzuziehen. Aber es lässt sich auch Rührendes finden, schon allein aufgrund der Bereitschaft der Aktivisten, sich einzusetzen, auch wenn es ihnen keinen unmittelbaren Vorteil, sondern vielmehr Anfeindungen und Scherereien einbringt. Insofern ergibt sich vieles aus der Situation, unabhängig von der konkreten Aktionsform. Berührende Momente kann es bei einer Straßenblockade und im Nachspiel der Strafverfolgung ebenso geben wie solche, in denen Unnachgiebigkeit und Selbstbeherrschung erforderlich sind. Zu einer Strategie gemacht, würde aber das Setzen auf Charisma Gefahr laufen, ins Fadenscheinige, Unglaubwürdige, Kitschige zu kippen, während andererseits das Erscheinungsbild einer heroischen Unbezwingbarkeit den Verdacht heraufbeschwört, es ginge darum, sich etwas zu beweisen. Daher scheint die beste Lösung, sich daran zu orientieren, was nach kritischer Selbstprüfung als das einzig Richtige erscheint - alles andere ergibt sich daraus.
Noch eine Mutmaßung am Rande: Wenn man sich auf das Gebiet der psychologischen Interpretation begeben möchte, dann könnte man im Auflegen der Hand auf den Asphalt die verborgene Absicht sehen, der Gesellschaft auf den Puls zu fühlen und herauszufinden, ob sich unter einer verhärteten Schicht aus Ignoranz von der Dicke eines Straßenbelags manches Unverhoffte befindet, was nur noch nicht aus der Versenkung vorzudringen vermochte. Die Antwort darauf muss die Gesellschaft selbst finden, ausgehend von den Einzelnen.
zum Beitrag07.01.2023 , 17:29 Uhr
Ich halte die Argumentation, mit der sich Frau Lemme dem Vorwurf entzieht, eine elitäre Sichtweise zu vertreten, für fragwürdig. Ohne eine Lanze für diejenigen brechen zu wollen, die durch unsachgemäße Verwendung von Feuerwerkskörpern andere gefährden, muss man doch festhalten, dass antisoziales Verhalten unterschiedlichster Art in der gesamten Gesellschaft zu finden ist, insbesondere auch in vermeintlich gehobenen Kreisen. Bestimmte marginalisierte Gruppen nicht mehr als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu betrachten, während man alle anderen von jeglicher Kritik ausnimmt, entspricht einer sehr willkürlichen Grenzziehung. Da würde ich mir lieber den Vorwurf gefallen lassen, elitär zu sein, ohne dies freilich in dem historisch vorbelasteten negativen Sinn zu verstehen, sondern vielmehr positiv: Dass wohl jeder Mensch anderen irgendetwas an Fähigkeiten, Einsichten oder Haltungen voraus hat und in dieser Hinsicht als Vorbild gelten kann, ohne dass sich daraus zwangsläufig eine privilegierte gesellschaftliche Stellung ergeben muss.
zum Beitrag06.01.2023 , 20:04 Uhr
Während einerseits von vielen die strikte Einhaltung gesetzlicher Vorgaben eingefordert wird und andererseits die Verstöße bei Aktionen der "Letzten Generation" - meist Bagatelldelikte - zu einer Infragestellung des Rechts als solchem stilisiert werden, nimmt man es in anderer Hinsicht nicht so genau, beispielsweise wenn es um Verbindlichkeiten zum Klimaschutz geht. Dies sollte man zum Anlass nehmen, das Rechtsverständnis als solches zu hinterfragen. Das geltende Recht ist immer auch ein Spiegel von Machtverhältnissen. Gerade deshalb kommt es darauf an, die Frage nach dem ethischen Kern des Rechts zu stellen, aus dem es letztlich seine Rechtfertigung bezieht. Rechtsnormen sollten dazu nicht im Widerspruch stehen, tun sie es doch, hat man es mit einer Schieflage zu tun, die nach Korrektur schreit. Doch diejenigen, die eine solche Korrektur zu verhindern wissen, sitzen oft in ihren eigenen Reihen. Daher bleibt der - im Einzelfall abzuwägende - Bruch mit dem Recht als ultima ratio, um die Glaubwürdigkeit des Rechts als solchem zu erhalten.
zum Beitrag03.01.2023 , 22:50 Uhr
Ohne die Bedeutung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Lösungsansätze für die Bewältigung der Klimakrise schmälern zu wollen, sehe ich dabei doch die Gefahr einer fortschrittsgläubigen Vertröstung. Ein unmittelbarer Ansatzpunkt liegt hingegen in der Konzentration auf die gesellschaftlichen Aspekte des Problems, wobei den durchaus notwendigen Aktionen in der Praxis eine theoretische Begleitung zur Seite stehen sollte, damit diese nicht ins Leere laufen. Selbst Studienobjekt zu sein, sich ein Hinterfragen der eigenen Verhaltensweisen und Ansichten gefallen lassen zu müssen, ist freilich für viele Menschen unangenehmer als die Rolle des vermeintlich objektiven Beobachters und Gestalters von Naturvorgängen. Man könne in Anlehnung an Freuds Konzept der drei Kränkungen der Menschheit (kosmologisch durch Kopernikus, biologisch durch Darwin und psychologisch durch Freud selbst) von einer vierten Kränkung sprechen: der ökologischen, die in der Erkenntnis besteht, dass die natürlichen Lebensbedingungen gegenüber jedem vermeintlichen Fortschritt, der nicht selten mit Regression in anderer Hinsicht verbunden ist, das letzte Wort behalten.
zum Beitrag29.12.2022 , 20:42 Uhr
Ein interessanter Bezug zu den Kipppunkten im Klimasystem: Es muss etwas in einem Menschen kippen, um sich an den von der LG praktizierten Aktionen des zivilen Ungehorsams zu beteiligen und dabei auch persönliche Risiken einzugehen. Eine ähnliche Sichtweise ist auch auf das Zusammenspiel des Großteils der Bevölkerung und der bislang relativ kleinen Gruppe der Klimaaktivisten möglich. Das Anliegen des Klimaschutzes findet zwar in der Bevölkerung breite Zustimmung, aber es fehlt - um eine naturwissenschaftliche Analogie zu bemühen - die notwendige Aktivierungsenergie, um Veränderungen umzusetzen. Durch die Aktionen wird nun ein politischer Prozess vorangetrieben, für den zwar einerseits beste Voraussetzungen bestehen, für den aber andererseits gewisse Barrieren zu überwinden sind. Es muss ein "Ruck" durch die Gesellschaft gehen, und paradoxerweise eignen sich offenbar gerade Blockaden, um den Diskurs zu beleben. Nun geht es vor allem auch für andere (politische) Akteure darum, dies als Steilvorlage zu begreifen und eigene Konzepte einzubringen.
zum Beitrag28.12.2022 , 18:31 Uhr
Wie die Klimaaktivisten auch vorgehen, sie können es den meisten in keinem Fall recht machen. Man sieht es an einem aktuellen Artikel eines Nachrichtenmagazins, das für Werbung mit dem Slogan "Fakten, Fakten, Fakten" bekannt ist. Die Fakten: Eine Psychologin war undercover bei einem Seminar der LG dabei und musste entsetzt feststellen, dass da ja Methoden wie bei einer Sekte angewandt werden. Es geht dabei um Visualisierungstechniken zur Vorbereitung auf Blockaden, wie man sie in anderem Zusammenhang bei Seminaren zum (Selbst)management, die der Leserschaft des betreffenden Magazins hinlänglich bekannt sein dürften. Dann werden da außerdem noch - man höre und staune - keine Feindbilder aufgebaut. So eine Unverschämtheit aber auch! Da läuft der Reflex der Empörung ins Leere - und Menschen so auflaufen zu lassen, das grenzt ja schon fast wieder an Gewalt. Bedauerlich, aber wahr: Man kann es nicht allen recht machen, einem bestimmten Typus von Gegner schon gar nicht. Kierkegaard kannte sich mit solchen Ambivalenzen und Paradoxien aus und schrieb: "Verheirate dich, du wirst es bereuen; verheirate dich nicht, du wirst es auch bereuen. [...] Dieses, meine Herren, ist der Inbegriff aller Lebensweisheit." Und er kam zumindest für sich selbst letzten Endes zu einer Lösung: "Frage dich und frage dich wieder und wieder, bis du die rechte Antwort gefunden hast; [...] denn nur die Wahrheit die dich erbaut, ist Wahrheit für dich."
zum Beitrag28.12.2022 , 16:47 Uhr
Das Problem ist aus meiner Sicht, dass viele Menschen das Anliegen des Klimaschutzes unterstützen, aber nicht die Aktivierungsenergie aufbringen, die Barrieren zur Umsetzung möglicher Handlungsoptionen (z.B. Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, Transformation von Wirtschaft und Industrie hin zu mehr Nachhaltigkeit) voranzubringen. Woran liegt das? Um nicht hinlänglich Bekanntes zu wiederholen (Einfluss von Lobbyinteressen etc.), möchte ich hier auf etwas anderes hinweisen, nämlich auf häufig wiederkehrende Argumentationsmuster, mit denen sich die Mehrheitsgesellschaft aus der Verantwortung herauswindet. Da gibt es beispielsweise die Vorstellung, Kritik wäre an sich etwas Negatives, es komme auf das Machen an. Machen, machen, machen! Diese Denkweise wird den Leuten durch die Arbeitswelt eingebläut. Dass so manches "Machen" in bestimmten Wirtschaftssektoren gesamtgesellschaftlich mehr Probleme verursacht als löst, scheint ein weitgehend unbekannter Gedankengang zu sein. Auch immer wieder zu hören ist, dass zu radikaler Protest dem Anliegen des Klimaschutzes schaden würde. Nun, er schadet vor allem der Ignoranz, und das tut weh und darauf reagieren die Leute dann mit Trotz und sagen: "Dann kümmer' ich mich eben gar nicht mehr um den Klimaschutz und lass' mich ohne Ende gehen. Warum? Weil ich's kann." Sehr reif und erwachsen, alle Achtung! Aber das Totschlagargument schlechthin lautet: Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Liebe Leute, es gibt Untersuchungen dazu, wie oft der Durchschnittsmensch am Tag lügt, und das ist nicht selten. Warum nehmt ihr es da nicht so genau? Oder geht es nur um das, was gesetzlich festgeschrieben ist? Aber da gibt es doch so ein Urteil vom BVG, das auch nicht die gebührende Beachtung findet. Man darf sich auch fragen, ob die betreffenden Leute das allgemeine Wahlrecht und die Aufhebung der Rassentrennung gerne annullieren würden, weil diese Errungenschaften nicht im besten Einvernehmen mit der damaligen Obrigkeit zustande gekommen sind.
zum Beitrag27.12.2022 , 18:38 Uhr
Wünschenswert wäre eine Selbstanzeige der Leugner des Klimawandels, von denen es - den Beiträgen in manchen Foren nach zu urteilen - immer noch recht viele gibt. Wenn diese schon so überzeugt sind, dann kann man doch wohl erwarten, dass sie auch dafür geradestehen und die Kosten für die Konsequenzen für ihre Fehlinformation übernehmen - bis hin zum Abarbeiten ihrer Schulden auf vertrockneten, staubigen Feldern bei strenger Wasserrationierung bis an ihr Lebensende. Ähnliches gilt für diejenigen, die in Kommentaren ihren Hass auf die LG freien Lauf lassen. Denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich mit dem meteorologischen Klima sich auch das gesellschaftliche verändert, bis der Wind sich dreht und ihnen ihr eigenes ausgespucktes Gift von einer steifen Brise ins ratlos dreinschauende Gesicht geklatscht wird.
zum Beitrag27.12.2022 , 17:19 Uhr
Es kommt vor allem darauf an, dass diejenigen, die Sie als "Klimaschützer-light" bezeichnen, es auch mal wagen, sich gegen die vorherrschende öffentliche Meinung zu stellen. Ob bei Diskussionen im Bekanntenkreis oder bei der Arbeit - es sind meiner Erfahrung nach die Verteidiger des Status quo, die das große Wort führen. Sie haben eine mächtige Verbündete, nämlich die Ignoranz, weshalb es sich nicht empfiehlt beim Dagegenhalten kleinlaut zu sein. Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil. Selbst wer sich mit seiner Meinung nicht zu weit vorwagen möchte, kann immer noch stillschweigend die Haltung eines Götz von Berlichingen einnehmen. Vor allem ist es Unsinn, sich bei der Meinungsbildung daran zu orientieren, was Umfragen suggerieren und Politiker anmahnen. In der Mehrheit zu sein und sich gemäßigt zu positionieren, ist an sich kein Wert, sondern eine Norm, mit der man sich eine Selbstbeschränkung auferlegt. Ich kann nur jedem raten, sich zuerst eine Meinung zu bilden, ohne danach zu schielen, welche Aussichten auf Umsetzung der betreffenden Ziele sich daraus ergeben, und dann mit den zur Verfügung stehenden Mitteln dafür einzutreten. Das ist der feine Unterschied, der die Spreu vom Weizen trennt: den bequemen Opportunismus von der mitunter unbequemen Haltung.
zum Beitrag27.12.2022 , 03:39 Uhr
Wer sich von der Unterstützung des Klimaschutzes abbringen lässt, weil er die Aktionen der LG für kontraproduktiv hält, hatte nie ein wirkliches Interesse an Klimaschutz. Das ist eine alberne Trotzreaktion, wie sie leider für viele Mitglieder dieser Gesellschaft mit ihrer Regression ins Infantile typisch ist. Man soll sie doch bitteschön von Kritik verschonen, die sie in ihrer heilen Welt stören könnte, meint der Herr Bundespräsident in seiner Weihnachtsansprache sinngemäß. Sancta simplicitas und Halleluja! Aber so leicht wird man diejenigen nicht los, die erkannt haben, worauf es ankommt, und die sich nicht von den Verlockungen der Konsumgesellschaft einlullen lassen.
zum Beitrag26.12.2022 , 22:15 Uhr
Der Großteil der Bevölkerung ist eben harmoniesüchtig, und Steinmeier hat die passende Weihnachtsansprache dazu geliefert. Ein bisschen Klimaschutz möchte man ja schon ganz gerne, aber man will dafür nicht den Unmut von Industrie, Autofahrern oder sonst irgendwem auf sich ziehen. Mit anderen Worten: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. Deshalb muss es jetzt vor allem darum gehen, die Leute aus der Lethargie ihrer heilen Welt zu holen - bei Diskussionen im Bekanntenkreis, am Arbeitsplatz oder wo auch immer. Wo es darauf ankommt, der heilen Welt im Realen auch nur ansatzweise eine Chance zu geben, kann es keine Rücksicht auf den schönen Schein geben, in dem sich viele so gemütlich eingerichtet haben.
zum Beitrag23.12.2022 , 01:22 Uhr
Aus meiner Sicht ist der springende Punkt, ob man zur Selbstkritik bereit ist. Die steht allerdings in einer Zeit, in der so viel auf Außenwirkung Wert gelegt wird, nicht unbedingt hoch im Kurs. Wer aber zur Selbstkritik bereit ist, ist auch weniger in Gefahr, in die Eskalationsdynamik der Zweck-Mittel-Relation zu geraten. Wer Kants kategorischem Imperativ konsequent folgt und sich Rechenschaft über die eigenen Handlungen ablegt, kann schon mal im Eifer des Gefechts neben dem Zebrastreifen über die Straße gehen, ohne deswegen gleich in die völlige Gesetzlosigkeit hineinzuschlittern. Um allerdings jenem postulierten Gesetz zu folgen, das erst durch seine Befolgung Gültigkeit erlangt, braucht es schon ein wenig Unvernunft - denn das widerspricht dem Zweckrationalismus. Dabei ist es allerdings wenig hilfreich, wenn man, wie Kant es gefordert hat, räsonniert, so viel man mag, aber letzten Endes doch gehorcht. Dann weiß man es zwar insgeheim besser, aber es führt zu nichts. Besser scheint es mir, durchaus auch mal Grenzen zu überschreiten, aber die Überschreitung nur in dem Maß zu betreiben, wie sie erforderlich ist, um eingefahrene Bahnen zu durchbrechen und zu einer neuen, besseren Praxis zu gelangen. Das kann man, wenn man möchte, im persönlichen Leben ausprobieren, und ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es zumindest für mich funktioniert. Von daher leiste ich mir den Analogieschluss, zu behaupten, dass es auch bei einer sozialen Bewegung wie der "Letzten Generation" funktionieren kann, solange eben Selbstreflexion im Spiel ist. Da sich die Gruppe außerdem auf eine gewaltfreie Vorgehensweise festgelegt hat (sofern man nicht "Sturheit" als Gewalt betrachten möchte - aber dann müsste man auch "Ignoranz" als Gewalt betrachten und hätte es somit eher mit Gegengewalt auf vergleichbarer Ebene zu tun), sehe ich keine zwangsläufige Entwickung hin zu einer Eskalation. Diese würden allenfalls andere herbeiführen.
zum Beitrag21.12.2022 , 21:33 Uhr
Das ist schon richtig, um genau zu sein müsste man schreiben: Merz lässt durch seine Äußerungen die Absicht erkennen, Reichsbürger (und andere Rechte) wohlwollend zu behandeln. Allerdings bin ich auch der Meinung, dass Politik nicht nur im Augenblick der Verabschiedung eines Gesetztes gemacht wird, sondern von der Positionierung unterschiedlichster Akteure - übrigens auch aus der Zivilgesellschaft - abhängt. Daraus ergibt sich überhaupt erst der Rahmen, in dem Regierungshandeln zum Zug kommt. Daher kann auch Merz als Vorsitzender der größten Oppositionspartei Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen, man hat es ja bei der Entscheidung über das Bürgergeld gesehen. Aber man kann dem Beispiel folgen und sich die indirekte Einflussnahme als Taktik zu eigen machen - dies ist auch auf diskursiver Ebene möglich, um auf meinen vorherigen Beitrag zurückzukommen.
zum Beitrag20.12.2022 , 19:35 Uhr
Merz und Konsorten behandeln die "Damen und Herren" Reichsbürger und ihre geistigen Verwandten aus dem rechten Spektrum vermutlich deshalb so wohlwollend, weil sie noch als Drohkulisse dienen könnten, falls die Anliegen der "Letzten Generation" doch noch mehr Zuspruch in der Bevölkerung finden als zu Beginn der Aktionen in diesem Herbst mit einer anfangs fast durchweg abwertenden Berichterstattung durch die Medien. Es war in den letzten Jahren ein Argumentationsmuster vor allem der Konservativen, man dürfe im Klimaschutz nicht zu weit gehen, um keine von rechten Wutbürgern ausgehenden sozialen Unruhen zu riskieren. Damit wird sofort erkennbar, wer im Zweifelsfall über den Ausnahmezustand bestimmt. Den Klimaaktivisten ist man nicht durch vorauseilenden Gehorsam entgegengekommen, wohl wissend, dass von deren Aktionen keine wirkliche Gefahr ausgeht - es sei denn, man wollte die durch den angestoßenen Diskurs vorangetriebene Bewusstseinsbildung als die Gefahr betrachten, als welche sie sich für die verschanzte und vernagelte Weltsicht mancher Bürgerlicher sicherlich subjektiv darstellt. Denn darin liegt die Hauptwirkung der Aktionen, unabhängig davon, ob die von den Aktivisten beabsichtigen Ziele erreicht werden oder nicht. Die Aufmerksamkeit wurde geweckt, jetzt kommt es daraus an, den Kampf auf der argumentativen Ebene weiterzuführen und Überzeugungsarbeit für den Klimaschutz zu leisten. Es steht auch denjenigen frei, sich daran zu beteiligen, die die Aktionen der "Letzten Generation" eher kritisch sehen.
zum Beitrag18.12.2022 , 12:36 Uhr
Im Artikel wurde kritisiert, dass die "Letzte Generation" zwar Aufmerksamkeit generiert, aber keine Anknüpfungspunkte für andere politische Akteure bieten. Wer oder was hindert politische Gruppierungen oder Einzelpersonen eigentlich daran, diese Aufmerksamkeit als Steilvorlage zu nutzen, um eigene Positionen einzubringen und bekannt zu machen? Carola Rackete zum Beispiel hat dies bereits getan. Ich halte es allerdings für sinnvoll, wenn die "Letzte Generation" sich auf die Aktionen an sich beschränkt und den weiterreichenden politischen Diskurs anderen überlässt. Sonst würde der Vorwurf der Instrumentalisierung laut, und ein eventuelles Verbot der Organisation wäre leichter zu rechtfertigen. In dieser Hinsicht getrennt zu marschieren, kann also durchaus im Sinn eines gemeinsamen Ziels sein. Im Übrigen halte ich das Konzept einer Avantgarde nicht für verwerflich, weil es vielleicht elitäre Züge hat. Einer der Gründe, warum ein Fortschritt im egalitären Sinn sich so langsam entwickelt, liegt aus meiner Sicht in einem Kippen von in der Gesellschaft durchaus vorhandenen egalitären Bestrebungen - dass es "sozialer" zugeht - in den Konformismus. Deshalb erhalten eher konservative Parteien auch mehr Zuspruch als solche aus dem linken Spektrum. Die beste Lösung scheint mir zu sein, wenn alle sich bemühen, etwas besser zu sein als "das Ganze", ohne sich davon eine exponierte soziale Stellung zu erhoffen. In diesem Sinn ist es durchaus möglich, avantgardistisch und egalitär zugleich zu sein.
zum Beitrag06.09.2022 , 21:59 Uhr
Bei einem Blick auf die Artikel zu diesem Thema in vorgeblich "linksliberalen Leitmedien" (und ich meine hier nicht die taz), kann man den Eindruck gewinnen, dass die Befindlichkeit der Konservativen den Verfassern ungemein am Herzen liegt. Nur zur Erinnerung: Es war ein Putsch gegen eine demokratisch gewählte linke Regierung, der zu der bisherigen Verfassung in Chile geführt hat, und gewisse neoliberale Ökonomen haben die Situation in unverschämter Weise ausgenutzt, um das Land zu ihrem Versuchslabor zu machen. Gewisse deutsche Politiker hatten nichts besseres dazu zu sagen, als dass es bei einem Putsch eben nicht zugeht, "wie wenn Franziskaner Suppe verteilen." Und jetzt stören sich manche Artikelschreiber in ihrer unübertrefflichen Empathie für diejenigen, denen das alles schon ganz recht war und die sich gut darin eingerichtet hatten, an den Zumutungen der neuen Verfassung: Rechte für Indigene? Da werden die am Ende noch ganz frech! Recht auf gesunde Ernährung? Bei schmalem Geldbeutel genügt Ketchup als Gemüse! Gar Recht auf Müßiggang? Wer nicht ständig eingespannt ist, macht sich eigene Gedanken und stellt am Ende weltanschauliche Gewissheiten in Frage, die Konservativen heilig sind! Das vermaledeite Recht auf Abtreibung? Die territorialen Ansprüche des Nationalstaats beginnen am Uterus! Genug davon. Die Artikelschreiber hierzulande, die sich für die ihnen wohl im Geiste verwandten chilenischen Konservativen stark machen, hätten diesen besser einen Rat geben sollen: Bei der Abstimmung über die Verfassung, wenn ihnen schon aus verständlichen Gründen eine Zustimmung gar zu schwer fallen mag, sich zumindest der Stimme zu enthalten. Damit hätten sie etwas bewiesen, was sich Konservative so gern zugute halten und doch so selten an den Tag legen: Anstand.
zum Beitrag18.10.2021 , 22:49 Uhr
Für diejenigen, die ein Interesse daran haben, andere zu schikanieren und auszunutzen, ist jeder, der in Hartz IV abrutscht, ein Gewinn. Es liegt nicht allein daran, dass die Betroffenen wenig Wahlmöglichkeit haben, bei wem sie arbeiten: auch diejenigen, die ihren Job noch nicht verloren haben, werden durch den drohenden Abstieg ungemein handzahm, können dem Arbeitgeber keinen Wunsch mehr abschlagen, arbeiten "freiwillig" am Wochenende und richten ihre persönlichen Meinungen "freiwillig" nach denen von Chefs und Kollegen. Erstaunlicherweise gibt es über solche Enteignung an persönlicher Freiheit, Integrität und ideellen Werten weit weniger Aufregung, als wenn Enteignungen irgendwelcher anonymer Wohnungskonzerne zur Debatte stehen. Man weiß in dieser Gesellschaft eben genau, worauf es im Leben wirklich ankommt und mit wem man sich identifizieren muss, um sich ganz groß zu fühlen: mit etablierten Machtstrukturen und mit "Führungspersönlichkeiten", die genauso geltungssüchtig und durchtrieben sind wie der durchschnittliche "kleine Mann" es von sich selbst in seinem kleinen Wirkungskreis zur Genüge kennt.
zum Beitrag02.10.2021 , 23:51 Uhr
Wenn es wirklich so sein sollte, dass sich potentielle Wähler der Linken dadurch haben beeinflussen lassen, dass die Partei mit dem "C" im Namen ihnen "ins Gewissen geredet" hat, dann zeigt sich darin ein allgemeines gesellschaftliches Problem. Es gibt ein übermäßiges Bedürfnis, dazuzugehören und sich nicht etwa durch eine abweichende politische Meinung ins Abseits zu stellen - und insbesondere die Union scheint diese gesellschaftliche Hegemonie für sich gepachtet zu haben. Insofern kann man auch Laschets Abgabe des falsch gefalteten Stimmzettels interpretieren als ein Statement nach dem Motto: "Seht her, ich habe so gewählt, wie es zum guten Ton gehört, ich habe mein Kreuz bei der CDU gemacht und habe somit nichts zu verbergen." Ein freundschaftlicher Rat an all diejenigen, die mal wieder der "bürgerlichen" Moral auf den Leim gegangen sind: Stellt euch vor, ihr sitzt in der Wahlkabine. Schaut auf den Stimmzettel, sucht die Stelle aus, wo ihr selbst euer Kreuz machen wollt. Dann denkt an alle, bei denen dies größtes Missfallen erwecken würde - ob Nachbarn, Kollegen, der Chef, die Eltern oder vermeintliche "Freunde". Und nun macht euch klar, was sie euch (Dativ) können: nämlich nichts. Und zeigt ihnen durch Nichtbeachtung eventueller Erwartungen auch, was sie euch (Akkusativ) können und vor allem wie: ... kreuzweise. Vielleicht klappt's so bei der Nächsten Wahl in vier Jahren.
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