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Weihnachten ohne FamilieSolidarität statt Familienzwang und Einsamkeit

An den Feiertagen wird in der Familie gern Geborgenheit simuliert. Zum Glück gibt es Angebote für alle, die da nicht mitmachen können oder wollen.

Dass Weihnachten Müll ist, fanden schon De­mons­tran­t:in­nen bei den Protesten in Athen im Dezember 2008 Foto: picture-alliance/dpa

E s gibt diese schöne Schlussszene in der Erzählung „Wassilissa Malygina“ der kommunistischen Feministin Alexandra Kollontai. In dem Roman ringt die Protagonistin Wassilissa mit dem Scheitern ihrer Ehe. Sie und ihr Partner hatten sich im Sturm der Oktoberrevolution verliebt, doch dann voneinander entfernt. Er geht ihr fremd, die Ehe liegt in Scherben. Im Roman entscheidet sich Wassilissa für die Trennung – und damit dagegen, das kaputte Konstrukt der ehelichen Gemeinschaft fortzuführen.

Auf den letzten Seiten stellt sich allerdings heraus, dass Wassilissa schwanger ist. Ihre Freundin Gruscha stellt ihr deshalb die bedeutungsschwere Frage, ob sie ihr Kind denn nun alleine großzuziehen gedenke. Es scheint nur diese zwei Optionen zu geben: Die kaputte Ehe fortzuführen oder in der Isolation überfordert zu sein. Doch dann macht Kollontai ihren Clou. „Es wird eben unser Kindchen sein, unser gemeinsames“, sagt Wassilissa – und meint damit ihr Arbeiter:innenkollektiv. „Ein kommunistisches?“, fragt Gruscha. „Selbstverständlich!“. Beide lachen.

Abermals bricht Wassilissa damit aus der bürgerlichen Familienidee heraus. Sie erkennt: Es gibt nicht nur die kaputte Familie und die Einsamkeit. Denn Gemeinschaft und Fürsorge können auch kollektiv organisiert werden.

In der Weihnachtszeit, die Stunde der bürgerlichen Kernfamilie, resoniert Kollontai besonders. Denn nicht nur die Berliner Straßen sind an diesen Tagen leer, weil es alle zurück auf die Dörfer zieht, aus denen sie einst in die große Stadt geflüchtet sind. Nein, leer sind dieser Tage auch die Kalender für alle, die an Weihnachten keine familiäre Geborgenheit simulieren können, weil die Festtage für sie eine Zeit der Einsamkeit, der Angst oder der Eskalation sind. Weil es eine Familie schlicht nicht mehr gibt, weil sie gewalttätig oder krank ist oder weil sie die eigene Identität und Lebensweise nicht anerkennen will.

Orte gegen den Zwang der Familie

Doch zum Glück gibt es linke Strukturen, die auch an den dunkelsten Tagen des Jahres den Gedanken der selbstbestimmten Solidarität hochhalten. Auf der Antifamilia Shitmas Gala im Friedrichshainer Hausprojekt Schreina47 (Schreinerstr. 47) gibt es an Heiligabend ab 18 Uhr einen großen (Mitbring-)Festschmaus. Ab 19 Uhr startet ein Shitmas-Varieté mit Bescherung, Gedichten, Liedern und Spielen, ab 22 Uhr geht es auf den Dancefloor mit gepflegter Trash- und Trap-Eskalation. Und weil die Solidarität der Antifamilia tatsächlich ernst gemeint ist, gehen die Einnahmen an Opfer rechter Gewalt.

Auch am Stadtrand gibt es Angebote: Das Hellersdorfer Hausprojekt La Casa (Wurzener Str. 6) organisiert einen Anti-Xmas-Tresen, der um 20 Uhr losgeht. Zurück in Friedrichshain gibt es im Zielona Góra am Boxhagener Platz eine gemeinschaftliche Volksküche (Grünbergerstr. 73, ab 14 Uhr). Und in der Tristeza in Neukölln ist ein stinknormaler Kneipenabend (Pannierstr. 5, ab 20 Uhr).

Auch an den Folgetagen bieten Hausprojekte und Jugendclubs Unterstützung an. In der Rigaer Straße 78 gibt es am ersten Weihnachtstag das Feiertagsjammer-Konzert im Abstand, eine Soliparty für ein klandestines Hausprojekt im Kiez (ab 20 Uhr). Und wer danach immer noch Erinnerungen zu verdrängen hat, dem wird bei der zweitägigen „Weihnachten Vergessen“-Konzertreihe im Café Köpenick (Seelenbinderstr. 8) geholfen. Da spielen am 26. und 27. Dezember ab 19 Uhr Punkrockbands. Sie beweisen damit, dass es auch an Weihnachten nicht nur kaputte Familie und Einsamkeit gibt – sondern auch Orte, an denen sich für freie Solidarität entschieden werden kann.

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Timm Kühn
Redakteur
Chef vom Dienst bei der taz Berlin. Schreibt für die taz über soziale Bewegungen und mehr.
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