30 Jahre Friedensabkommen: Dayton ist gescheitert
Das Abkommen vom 21. November hat Bosnien und Herzegowina Frieden gebracht. Doch das Denken entlang ethnischer Grenzen wurde verfestigt.
D as Abkommen von Dayton am 21. November 1995 hat den fast vier Jahre währenden Krieg in Bosnien und Herzegowina beendet und war für die USA und Präsident Bill Clinton ein Erfolg. Dass dieser Erfolg 30 Jahre danach in den USA aber immer noch den damals regierenden Demokraten zugeschrieben wird, scheint den jetzigen Präsidenten Donald Trump herauszufordern. Den Ruhm für den „Frieden“ in Bosnien den Demokraten zu überlassen, darf ja nicht sein.
Die Friedensverhandlungen in Dayton in Ohio haben unter US-Aufsicht eine Verfassung geschaffen, die das Land in ein Korsett presst, das keine ernsthaften Reformen zulässt. Indem das Land entlang streng „ethnisch“ definierter Zonen aufgeteilt und mit einer komplizierten Verfassung ausgestattet wurde, versuchte die Internationale Diplomatie damals um des Friedens willen den Kriegsparteien aus Serben, Kroaten und Bosniaken entgegenzukommen – mit dem Resultat, dass das Denken in Ethnien, die ideologische Basis des Krieges, verfestigt wurde.
Und die serbischen Angreifer konnten so fast alle ihrer Eroberungen absichern. Die serbische Republika Srpska erhielt 49 Prozent des Territoriums, 51 Prozent die Kroatisch-Bosniakische Föderation, die wiederum in zehn Kantone unterteilt ist. 2 Prozent entfallen auf das selbstverwaltete Sondergebiet Brčko. Die Struktur des Staates ist kompliziert, jeder Teilstaat hat eigene Parlamente, eigene Exekutiven, ein eigenes Gerichtssystem. Sie eröffnet viele Möglichkeiten der (Selbst-)Blockade.
Zwar sollte der per UN-Resolution eingesetzte Hohe Repräsentant die Entwicklung zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit überwachen und demokratische Strukturen durchsetzen, doch all dies blieb Stückwerk. Die hoffnungsvolle Perspektive scheiterte nicht nur am Widerstand der Nationalisten und der hinter ihnen stehenden Staaten, sondern auch an den Widersprüchen der internationalen Institutionen selbst. Die meisten Diplomaten und Unterhändler haben die komplexe Geschichte des Landes gar nicht verstanden.
Noch kurz vor dem Angriff serbischer Truppen und Freischärler aus Serbien war die überwältigende Mehrheit der bosnisch-herzegowinischen Bevölkerung davon überzeugt: „Bei uns kann es keinen Krieg geben, wir leben doch alle so gut zusammen.“ Über Jahrhunderte lebten Muslime, Katholiken und Orthodoxe, Juden und noch weitere Minderheiten friedlich zusammen.
Ja, es gab sie, die Jahrhunderte währende bosnischen Tradition des friedlichen Zusammenlebens. Doch genau diese Positionierung der Gesellschaft war für die aufkommenden Nationalisten aus Serbien und Kroatien ein rotes Tuch, sie wollten diese Gesellschaft zerschlagen. Nationalisten können sich einen Staat nur vorstellen, in der ihre Volksgruppe dominant ist. Sie können eine tolerante, nicht nationalistische Gesellschaft nicht ertragen.
Die taz ist eine unabhängige, linke und meinungsstarke Tageszeitung. In unseren Kommentaren, Essays und Debattentexten streiten wir seit der Gründung der taz im Jahr 1979. Oft können und wollen wir uns nicht auf eine Meinung einigen. Deshalb finden sich hier teils komplett gegenläufige Positionen – allesamt Teil des sehr breiten, linken Meinungsspektrums.
Vieles spricht dafür, dass dies der wichtigste Grund für den Krieg war. Schon im März 1992, noch vor dem Krieg in Bosnien und Herzegowina, hatten sich die Präsidenten Franjo Tudjman und Slobodan Milošević getroffen, um über die territoriale Aufteilung von Bosnien und Herzegowina zu sprechen. Als die serbischen Truppen im April 1992 losmarschierten und in wenigen Monaten über 60 Prozent des Territoriums Bosnien und Herzegowinas eroberten, sicherten die Kroaten nur ihre Mehrheitsgebiete in der Herzegowina.
Die Verbrechen der ethnischen Säuberungen mit ihren über 100.000 Opfern haben sich bei Bosniaken und den anderen Minderheiten bis heute tief eingeprägt. Fast die Hälfte der Bevölkerung wurde zur Flucht ins Ausland oder in die noch nicht okkupierten Gebiete Bosnien und Herzegowinas gezwungen. Nach diesen Erfahrungen sollte in Dayton eigentlich ein Neuanfang durchgesetzt werden. Dem UN-Tribunal gegen Kriegsverbrechen gelang es zwar, die Verbrechen zu dokumentieren und einige Verantwortliche zu verurteilen.
Doch die Nationalisten taten und tun bis heute alles, um mit Geschichtslügen die eigenen Verbrechen zu minimieren und die Schuld der Gegenseite in die Schuhe zu schieben. Leider ist heute, 30 Jahre danach, der Kenntnisstand der Öffentlichkeiten so niedrig, dass die falschen Narrative der Nationalisten auch auf internationale Resonanz stoßen. Nicht einmal die Gerichtsurteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg, der seit 2009 die Dayton-Verfassung wiederholt als unvereinbar mit europäischen Werten definiert hat, drang durch. Die EU und der Hohe Repräsentant waren nicht in der Lage, diese Position nachdrücklich durchzusetzen.
Wenig Rechte für Minderheiten
Russland dagegen unterstützte ohne Wenn und Aber von Beginn an die nationalistischen Extremisten in Bosnien und Herzegowina, auch im UN-Sicherheitsrat. In der EU setzte sich zwar die Haltung durch, das Land habe eine Chance für die Integration in die EU. Sie nahm aber immer die Positionen der nationalistischen Extremisten hin, die genau dies verhindern wollen. So konnte Bosnien kein normaler Staat, keine normale Demokratie werden.
Dazu gehört ein Wahlsystem, dass die Kollektivrechte der großen Volksgruppen (Serben, Kroaten und Bosniaken) über Individualrechte setzt, zugleich aber Rechte von Minderheiten – Roma etwa – zu wenig berücksichtigt. Als Richard Holbrooke, der Schöpfer von „Dayton“, einmal forderte, ein „Dayton 2“ zu verhandeln, um grundlegende demokratische Freiheiten und rechtsstaatliche Strukturen durchzusetzen, fand er keine Unterstützung. Dayton, das muss nach 30 Jahren konstatiert werden, ist gescheitert.
Doch keiner weiß, wie es weitergeht. Auch nicht der deutsche Außenminister Wadephul, der gerade das Land besucht hat. Und was Donald Trump eigentlich vorhat, weiß auch niemand so genau. Spekulationen allerdings, er wolle Bosnien in drei ethno-nationalistisch definierte Gebiete aufteilen, sind wohl nicht völlig aus der Luft gegriffen.
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert