Eine Million Wohnungslose: Uns doch egal
Die aktuellen Zahlen zu Wohnungslosigkeit sind alarmierend. Mehr als Betroffenheitsbekundungen haben Politik und Gesellschaft nicht übrig.
M acht hoch die Tür, die Tor macht weit“, wird es bald wieder durch Kirchen und über Weihnachtsmärkte schallen: die Adventszeit steht vor der Tür. Nehmen wir diesen christlichen Ruf nach Offenheit doch einmal ernst und übersetzen ihn in die heutige Zeit: Macht eure Wohnungstür auf und lasst die Menschen rein.
Am Montag sind die aktuellen Zahlen zu wohnungslosen Menschen veröffentlicht worden. Laut Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe sind eine Million Menschen in Deutschland ohne Wohnung. Warum also nicht jemanden bei sich zu Hause aufnehmen, und wenn es nur für eine Nacht ist? Gerade in der kalten Jahreszeit geht es prekär zu, Obdachlosen droht in kalten Nächten Lebensgefahr. Doch machen wir uns nichts vor: Wer hat so etwas schon mal wirklich gemacht?
Auch Sie, liebe:r Leser:in, werden dieser Tage wieder jemanden im Nasskalten zurücklassen. Vielleicht haben Sie ein schlechtes Gewissen dabei, vielleicht auch nicht – klar wird: Das Appellieren an Nächstenliebe ist aussichtslos. Was es braucht, ist eine politische Lösung – könnte man denken: Über mehr Wohnraum können sich ja eigentlich alle Parteien verständigen. Allein: Die letzte Bundesregierung hat ihr selbst ausgerufenes Ziel von 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr grandios gerissen.
Selbst das ist gar nicht das größte Problem. Denn gleichzeitig ist der soziale Wohnungsbau auf einem historischen Tiefstand. Wenn von „Wohnungsnot“ gesprochen wird, sind paradoxerweise nicht Wohnungslose gemeint. Gemeint ist die Konkurrenz um Wohnraum in Großstädten, die inzwischen bis in die Mittelschicht hinein regiert. Doch im Gegensatz zu obdachlosen Menschen sind sie diese Gruppen begehrte Wähler:innen.
Die taz ist eine unabhängige, linke und meinungsstarke Tageszeitung. In unseren Kommentaren, Essays und Debattentexten streiten wir seit der Gründung der taz im Jahr 1979. Oft können und wollen wir uns nicht auf eine Meinung einigen. Deshalb finden sich hier teils komplett gegenläufige Positionen – allesamt Teil des sehr breiten, linken Meinungsspektrums.
Wenn jetzt also die erwartbaren Reaktionen kommen, dann sollten wir so ehrlich sein und uns sowohl persönliche Betroffenheit als auch wohlfeile politische Appelle sparen. Am Ende lässt die Realität keinen anderen Schluss als diesen zu: Die Menschen auf der Straße sind der Mehrheit in dieser Gesellschaft offensichtlich vollkommen egal.
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert