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1.335 Tage Krieg in der UkraineWie sich die Ukrainer ihre Geschichte zurückholen

Nicht erst seit Kriegsbeginn ist das Interesse an historischen Themen stark gewachsen. Ein Youtube-Kanal klärt über südukrainische Geschichte auf.

Neues Geschichtsinteresse in der Ukraine: die Orangene Revolution (2004) Foto: Sergei Chuzavkov/ap

W er sind wir?“ Diese Frage wird in der Ukraine verstärkt gestellt, seit Russland versucht, nicht nur das Territorium der Ukraine, sondern auch die Erinnerung daran zu zerstören. Nach Beginn der russischen Vollinvasion haben Millionen Ukrai­ne­r:in­nen begonnen, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Nicht aus Nostalgie, sondern aus dem Bedürfnis nach starken Wurzeln. Familiengeschichten, Youtube-Kanäle zur Regionalgeschichte, Archive – all das wurde zu einer Form des Widerstands und der Therapie.

Nach Angaben der Internetplattform „Manifest“ gibt es heute in der Ukraine rund 270 Youtube-Kanäle mit historischem Content – neunmal mehr als noch vor fünf Jahren. Und das ist kein Zufall: Wir suchen nach Antworten für uns selber.

über leben

Für die Menschen in der Ukraine ist der Krieg zum Alltag geworden. Trotz der Todesangst vor Luftangriffen und Kämpfen geht das Leben weiter: Die Menschen gehen zur Arbeit, zur Schule und zur Uni. Sie lieben, lachen, heiraten, bekommen Kinder, machen Urlaub. Sie trauern, sorgen sich – und hoffen auf Frieden. ➝ zur Kolumne

Der Chersoner Lokalhistoriker Dementij Bilyj, der die russische Besatzung überlebt hat und weiter in der frontnahen Stadt arbeitet, sagt: „Das Geschichtsinteresse der Ukrainer gibt es nicht erst seit 2022. Es hat sich über Jahrzehnte entwickelt, schon in den 1980er – als erstmals Wissen über die stalinistischen Repressionen zugänglich wurde.“

In den Nullerjahren, als Russland wieder „auf die Beine kam“, begann eine neue Renaissance: die Orangene Revolution (2004), die Revolution der Würde (2013/14) und schließlich der Krieg. „Das Paradoxe daran ist“, sagt Bilyi, „dass gerade Putin zum Katalysator der ukrainischen kulturellen und historischen Renaissance wurde.“

Bild: privat
Yuliia Shchetyna

Ukrainische Journalistin und Produzentin aus der Region Cherson, 28 Jahre, lebt in Kyjiw. Master in Kulturwissenschaften. Seit 2022 arbeitet sie an einem Nachrichten- und Analyseprojekt über das Leben der Menschen im Süden der Ukraine während des Krieges. Als Produzentin erstellt sie das Geschichts-Projekt „Deokupowana istoriia“ (Befreite Geschichte) über russische Mythen im Süden der Ukraine.

Drei Hauptmythen

Die russische Propaganda hat jahrzehntelang drei Hauptmythen verbreitet: über die „Befreier“ im Zweiten Weltkrieg, über die „goldene“ Sowjetunion und über die „heldenhafte imperiale Vergangenheit“. Vor allem im Süden der Ukraine sind diese Konstrukte stark verwurzelt – mit den Mythen über den „russischen“ Ursprung dieser Region.

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Angeblich hat Zarin Katharina II unsere Städte „gegründet“, vorher habe es dort nur Steppe gegeben, ein „wildes Feld“. In Wirklichkeit hatten diese Gebiete eine ukrainische, kosakische und krimtatarische Geschichte, die Russland über Jahrhunderte ausgelöscht hat.

Genau mit diesem Mythos begann auch unser Projekt „Die Geschichte deokkupieren“. Wir bei „Novyny Priazovya“ (Azovseanews) haben beschlossen, die wahre Geschichte der Städte im Süden der Ukraine zu erzählen – ohne imperiale Narrative. Gleich die erste Folge wurde über 200.000-mal angesehen und schaffte es in die Youtube-Trends. Die Leute schrieben: „Danke, dass ihr die Geschichte von den russischen Lügen befreit.“ So entstand eine Serie, die nun schon im zweiten Jahr läuft.

In den letzten Jahren sehen wir nicht nur steigendes Interesse an Geschichte, sondern auch wie sich ein neues historisches Bewusstsein entwickelt. Viele Militärbrigaden tragen heute die Namen von Helden der Vergangenheit – von Kosaken, Aufständischen, Kämpfern für die Unabhängigkeit. Das ist keine Symbolik, sondern ein Versuch, den heutigen Kampf in der Geschichte zu verankern.

Wird dieses Interesse nicht wieder verschwinden? Historiker Bilyj meint: „Vielleicht wird es Ermüdungserscheinungen geben. Aber wenn die Geschichte eine neue Qualität erhält – eine tiefere, professionellere –, wird die Aufmerksamkeit dafür bleiben.“ Qualität bildet das Fundament. Und das Fundament verschwindet nicht.

Die Ukraine ist bereits jetzt mitten im Umbruch, das ist schmerzhaft aber auch sicher. Und die wichtigste Frage ist jetzt nicht, ob wir uns weiterhin für die Vergangenheit interessieren werden, sondern eine andere: Werden wir auf ihr eine Zukunft aufbauen können?

Aus dem Ukrainischen Gaby Coldewey

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