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Steinmeiers SozialstaatsmahnungenNeoliberaler Pastor

Kommentar von Gunnar Hinck

Der Bundespräsident fordert eine Reform des Sozialstaats. Seine Thesen sind wohlig verpackt, atmen aber den Geist der Agenda 2010.

In sanftem Ton predigt Frank-Walter Steinmeier den Sozialabbau Foto: Oliver Berg/Pool/reuters

K urz vor Weihnachten 2002 wurde aus dem Kanzleramt ein Thesenpapier lanciert, das es in sich hatte und die Grundlage der späteren „Agenda 2010“ bildete. Autor: Gerhard Schröders Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier. Es folgte: der Zwang für Arbeitslose, unabhängig von ihrer Qualifikation jeden Job anzunehmen, die Etablierung eines unter den reichen Volkswirtschaften einmaligen Niedriglohnsektors, soziale Massenproteste und eine SPD, die unter einem Massenexodus litt.

Heute fühlt sich Steinmeier wieder bemüßigt, in die aktuelle Sozialstaatsdebatte einzugreifen. Dieses Mal aber hat er seine Forderungen bei einer Rede in Erfurt diese Woche in wohlig-staatstragende Präsidentenworte verpackt. Natürlich mit dem rhetorischen Kniff, erst mal das Positive herauszustellen: „Unser Sozialstaat ist ein Schatz.“

Aber die Punkte, die Steinmeier wohlig verpackt, haben es in sich: Der Sozialstaat sei „nicht dazu da“, die Lebenslagen von Normalverdienern leichter zu machen. Wirklich nicht? Die schmutzigen Details, was das konkret bedeutet (Streichung des Elterngeldes? Streichung der steuerfinanzierten Rentenleistungen?), überlässt Steinmeier natürlich der Tagespolitik. Bei der Rente mahnt Steinmeier in scheinbar sanftem Ton an, dass „gegebenenfalls ergänzende Säulen hinzugefügt werden“ müssten, um diese Systeme „zukunftsfähig“ zu machen. Er hätte auch Klartext reden können: Steinmeier will eine kapitalgedeckte Rentensäule, was bedeutet, das Risiken auf den Einzelnen abgeladen werden und diese Rente von den Launen des Kapitalmarkts abhängig ist.

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Kein Wort verliert Steinmeier über die eklatante Vermögensungleichheit in Deutschland, obwohl einem von der SPD gestellten Bundespräsidenten klar sein sollte: Wer über den Reformbedarf des Sozialstaats redet, sollte über absurde Ausnahmen bei der Besteuerung von hohen Erbschaften und eine damit zementierte Ungleichheit nicht schweigen. Aber Steinmeier bleibt sich treu, er ist und bleibt ein Neoliberaler im Gewand des säuselnden evangelischen Pastors. Das Gute ist: Er befindet sich nicht mehr an den Schalthebeln der Macht.

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ist Redakteur im taz-Ressort Meinung.
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5 Kommentare

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  • Daß Steinmeier mit dem Geist der Agenda 2010 nicht gerade auf Kriegsfuß steht, nachdem er an dem Werk einen nicht zu unterschätzenden Anteil hatte, solle eigentlich niemanden überraschen. www.spiegel.de/pol...ief-a-1121171.html

  • Vereinfacht gesagt, ist Präsident Steinmeier auch nur ein „Präsident der Bosse“. Als Nachtschattengewächs aus dem Kosmos Gerhard Schröders liegt ihm der Sozialstaat als Instrument sozialen Ausgleichs und Voraussetzung für demokratische Teilhabe noch weniger am Herzen, als der alten Tante SPD. Die hat sich schon im Kaiserreich für für den „Weg durch die Institutionen“ entschieden, mit dem „Godesberger Programm“ die Marktwirtschaft in ihr Herz geschlossen und sich mit der „Agenda 2010“ an die Spitze des deutschen Neoliberalismus gestellt. Das echter Sozialismus notwendig demokratisch sein muss und egalitäre demokratische Mitbestimmung ohne echte Wirtschaftsdemokratie undenkbar ist, dafür steht heute nicht einmal mehr die „DieLinke“ ein. Alle sind von den Verlockungen des zuckersüßen Liberalismus infiziert und halten sozialdarwinistischen Wettbewerb für die natürliche Ordnung.

  • Dieser Beitrag mag ja dem Autor zu einer gewissen Befriedigung verholfen haben, nur habe ich weder von ihm noch generell von links bisher irgendeinen praktikablen Vorschlag gehört, wie wir BALD aus der Schuldenfalle kommen können – abgesehen von Zusatzsteuern, Erbschaftssteuern usw. für "die Reichen". Das ist zu wenig, siehe Frankreich.



    Ich will hier keineswegs das Gesäusel von Herrn Steinmeier verteidigen, aber statt sich über ihn zu mokieren, wären auch mal belastbare Initiativen von links angesagt, die berücksichtigen, dass Investitionen attraktiv sein müssen und Bürokratieabbau, Schuldentilgung usw. gerade denen zugute kommen, denen es in unserem Land nicht so gut geht.



    Aber ich lasse mich gerne belehren, wenn jemand Ideen hat, die nicht einfach Umverteilung propagieren, sondern Probleme lösen.

    • @HaKaU:

      Sie verkennen, dass es nicht Aufgabe des Autors ist praktikable Vorschläge zu machen. Seine Aufgabe ist es, das „Geseusel“ (ihre Worte) des H. Steinmeier zu kommentieren.

  • Ich zitiere hier mal aus´m Wiki :

    "Seine Rolle im politischen System des Staates liegt meist jenseits der Tagespolitik (Art. 55 GG).[7] Auch wenn es keine verfassungsrechtliche Vorschrift gibt, die dem Bundespräsidenten tagespolitische Stellungnahmen verbietet, hält sich das Staatsoberhaupt mit solchen traditionell zurück."