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Der fast vergessene Gefangene

Am 28. August wird die diesjährige Goethe-Medaille an den türkischen Kulturmäzen Osman Kavala, die chinesische Sprachwissenschaftlerin Li Yuan und den belgischen Autor David Van Reybrouck verliehen. Das Goethe-Institut ehrt so Personen, die sich besonders um die internationale kulturelle Zusammenarbeit und die Förderung der deutschen Sprache verdient gemacht haben. Für den Gefangenen Kavala wird seine Frau Ayşe Buğra den Preis entgegennehmen

Von Wolf Wittenfeld

Ungefähr 50 Kilometer westlich Istanbuls liegt eines der berüchtigtsten Gefängnisse der Türkei: das Hochsicherheitsgefängnis Silivri. Der riesige Knastkomplex, zu dem auch ein Gerichtssaal für die Prozesse ­gegen die Insassen gehört, wurde in der Regierungszeit von Präsident Recep Tayyip Erdoğan extra für politische Gefangene gebaut.

Von der Autobahn gibt es eine Abfahrt zum Gefängnis. Rund um den Komplex liegt eintöniges offenes Land. Die derzeit bekanntesten Gefangenen sind der im März verhaftete Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu und der Journalist Fatih Altaylı. Nach İmamoğlu wurden seit März noch eine ganze Reihe weiterer CHP-Politiker in Silivri eingeliefert, aber auch andere Journalisten, Künstler und Demokratieaktivisten, die gegen­ die massive Repression der letzten Monate protestierten. Im Vergleich zu diesen Neuzugängen sitzt ein anderer, fast so bekannter Gefangener wie İmamoğlu, gefühlt schon ewig in Silivri: der Mäzen, Menschenrechtsaktivist und Vorkämpfer für einen Dialog zwischen den Unterschiedlichen in der Türkei, Osman Kavala.

Osman Kavala, 1957 in Paris geboren, wuchs in einer großbürgerlichen Familie als Erbe eines großen Unternehmens, der Kavala Company, auf. Er ging in Istanbul auf das amerikanische Robert College, studierte später in England und den USA. Als sein Vater 1982 starb, kehrte er aus New York nach Istanbul zurück. Zügig nutzte er sein Erbe dazu, sich in linken und linksliberalen Projekten zu engagieren. So gründete er 1983 zusammen mit Freunden den linken İletişim-Verlag. Die Türkei stand da noch ganz im Schatten des Militärputsches von 1980.

In den neunziger und nuller Jahren engagierte sich er sich bei der Gründung etlicher NGOs, von Naturschutz über eine Geschichtsstiftung bis zu Amnesty International. Er wurde Gründungsmitglied der Open-Socie­ty-Stiftung in der Türkei, die vom amerikanischen Milliardär George Soros nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gegründet worden war. Erdoğan nannte Kavala deshalb einmal den „roten Soros von Istanbul“.

Bis zu dem misslungenen Putsch gegen Recep Tayyip Erdoğan im Juli 2016 war Osman Kavala ein international gut vernetzter, parteiunabhängiger Aktivist, der auch mithilfe seines Erbes viel für die demokratische Kultur in der Türkei tat. Zuletzt gründete er 2002 den Verein „Anadolu Kültür“, der kulturelle Aktivitäten in den kurdischen Gebieten finanziert, sich um das armenische Erbe der Türkei kümmert und viel auch mit ausländischen Institutionen wie dem Goethe-Institut und vergleichbaren amerikanischen und britischen Instituten zusammenarbeitet. Er wurde von den Nationalisten angefeindet, ansonsten aber in Ruhe gelassen.

Das eigentliche Drama um Kavala begann mit dem Putschversuch 2016. Bereits vor dem Putsch hatte es im Sommer 2013 mit den Gezi-Protesten, benannt nach dem gleichnamigen Park im Zentrum Istanbuls, die bis dahin größten Proteste gegen den immer autoritärer auftretenden Erdoğan gegeben. Dieser behauptete, dass sowohl die Gezi-Proteste wie auch der Putsch von Teilen der Armee durch das westliche Ausland initiiert worden wären. Um dieser Behauptung eine Spur von Glaubwürdigkeit zu verleihen, musste er Drahtzieher präsentieren, die auf Anweisung des Auslands handelten. Für den Putsch war das die islamistische Gülen-Bewegung, deren Chef in den USA im Exil saß, für die Gezi-Proteste Osman Kavala.

Kavala wurde im Oktober 2017 verhaftet und angeklagt, mit ausländischen Agenten den „Gezi-Aufstand“ geplant zu haben. Außer dass er durch sein Engagement viele Kontakte zu westlichen Kulturinstitutionen und zur Open Society pflegte, hatte die Anklage nichts gegen ihn in der Hand. Es dauerte bis zum 17. Juni 2019, bis der Gezi-Prozess begann. Da die Gerichte damals noch nicht völlig unter der Kontrolle der Regierung standen, wurden Osman und acht weitere Angeklagte im Februar 2020 freigesprochen.

Es hätte das Ende der Geschichte sein können, doch Osman Kavala hatte das Gefängnistor von Silivri kaum verlassen, als er am gleichen Tag erneut verhaftet wurde. Dieses Mal wegen der angeblichen Beteiligung am Putschversuch.

Das eigentliche Drama um Kavala begann mit dem türkischen Putschversuch im Jahr 2016

Spätestens jetzt war klar, dass Präsident Erdoğan persönlich Osman Kavala nicht freilassen wollte. Im Dezember 2020 begann der zweite Prozess gegen Osman in dem sich auch bald abzeichnete, dass seine angebliche Agententätigkeit frei erfunden war. Doch mittlerweile war der Freispruch im Gezi-Prozess von einem Berufungsgericht aufgehoben worden, und sein erneuter Freispruch wegen angeblicher Spionage nutzte ihm nichts.

Der Gezi-Prozess wurde neu aufgerollt und Kavala, ganz wie Erdoğan es gefordert hatte, im April 2022 als Rädelsführer des „Gezi-Aufstandes“ zu lebenslanger, erschwerter Haft verurteilt. Osman Kavala verschwand endgültig hinter den Mauern von Silivri. Wie sehr der kosmopolitische, säkulare Kulturförderer Kavala dem Präsidenten verhasst ist, zeigte sich an dessen Reaktionen auf die Kritik aus Straßburg und etlichen westlichen Hauptstädten. Zweimal hatte der Menschenrechts­gerichtshof während Kavalas langandauernder U-Haft interveniert und seine sofortige Freilassung gefordert. Dem schloss sich der Ministerrat des Europarates an und drohte damit, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Türkei einzuleiten. Ein Ausschluss aus dem Europarat könnte die Folge sein. Doch Erdoğan ignorierte das alles und sagte, Europa könne der türkischen Justiz, seiner Justiz, keine Vorschriften machen.

Der Höhepunkt der Auseinandersetzung um Kavala zwischen Erdoğan und dem Westen kam im Oktober 2021. Ein knappes halbes Jahr vor seiner Verurteilung forderten Botschafter aus zehn Ländern (Deutschland, Frankreich, USA, Kanada, Niederlande, Neuseeland, Finnland und die drei skandinavischen Staaten) in einem gemeinsamen Appell, Osman Kavala freizulassen. Erdoğan reagierte umgehend. Er drohte, alle zehn Botschafter auszuweisen und zu unerwünschten Personen zu erklären, wenn die sich für ihre „unzulässige Einmischung“ in die inneren Angelegenheiten der Türkei nicht entschuldigen würden. Es folgten hektische Verhandlungen hinter den Kulissen und eine etwas verdruckste Erklärung über die formalen Zuständigkeiten ausländischer Botschafter, die womöglich überschritten worden seien, bis Erdoğan seine Drohung zurückzog.

Seitdem ist auf zwischenstaatlicher Ebene nicht mehr viel passiert. Der Europarat hat den Ausschluss der Türkei nicht weiterverfolgt, und bei bilateralen Treffen mit europäischen Regierungen wird Osman Kavala immer weniger erwähnt. Seit der Verhaftung von Ekrem İmamoğlu und vielen anderen Kritikern Erdoğans in den letzten Monaten ist auch innenpolitisch das Schicksal des angeblichen Gezi-Drahtziehers in den Hintergrund getreten.

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