Komplizierte Familiengeschichte: Historische Schränke rücken
In dem Roman „Eine Handvoll Dollarscheine“ erzählt Esther Dischereit eine komplizierte jüdisch-christliche, deutsch-amerikanische Familiengeschichte.

Je weniger Familie man zu haben glaubt, desto umfangreicher ist sie am Ende. Es treten neben den Gespenstern der Toten vermisste Onkel und Tanten auf, die es nach Südamerika geschafft haben, aber von dort auch solche, die man noch gar nicht kannte. Und eben der Großvater in den USA, der seinen Briefen nach Deutschland immer genau einen Dollar beilegt, was den „Haufen Dollarscheine“ ergibt, nach dem Esther Dischereit ihren Roman benennt.
Das Häuschen mit den Rosen, das die Großeltern in Philadelphia mit den Wiedergutmachungsleistungen erworben haben, vermacht der Großvater seiner christlichen Haushaltshilfe, die er in zweiter Ehe geheiratet hat. Die Enkelin erinnert sich, dass sie ihren Sohn nicht mitnehmen durfte, wenn sie ihn besuchte. Der Großvater wohnte in einem weißen Viertel.
Gerade hat sie das Flugzeug nach Rom bestiegen. Ihr Sohn und ihre Schwester haben sie nach Tegel begleitet. Sie sitzen noch im Limbus der Flughafenlounge, essen Erdnüsse, knabbern Schokoladenkekse und trinken Segafredo-Kaffee. Und wenn sie in dieser VIP-Vorhölle den Besuch der Romreisenden in Gedanken noch einmal Revue passieren lassen, folgen wir den Erzählstimmen der „Tante“ und des „Neffen“, wie sie auf je eigenen Abwegen die komplexen Familienverhältnisse zu rekonstruieren und zu imaginieren versuchen – seit dem Zeitpunkt, an dem sie durch die nationalsozialistische Machtergreifung lebensgefährlich kompliziert wurden.
Wie Scott Fitzgerald es einmal formulierte, ist Nachdenken fürchterlich anstrengend, als würde man schwere Schränke rücken. Und ob sie dann schon an der richtigen Stelle stehen? Mit ihrer den Familienverhältnissen entsprechenden, also nicht minder komplexen Kunst der Erzählung fordert Esther Dischereit uns auf, mitzurücken, bis wir die handelnden Personen und all die Orte – um nur Berlin, Rom, Oxnard, Chicago, Managua oder Heppenheim zu nennen – richtig sortiert haben.
Esther Dischereit: „Ein Haufen Dollarscheine“. Maro Verlag, Augsburg 2024, 312 Seiten, 24 Euro
Zwar gibt sie uns mit einer anonymen, kommentierenden Stimme am Anfang und am Ende des Romans Hilfestellung. Allerdings ihr sehr deutscher Ton naseweiser, abgeklärter Distanziertheit trifft uns und schlägt uns peinlich aufs Gemüt. Wir sind eines anderen Tons bedürftig, der Trauer und Melancholie, des Witzes und des Sarkasmus in den Stimmen der „Tante“ und des „Neffen“, die uns sofort in den Bann ziehen.
Die fortgesetzte Ungeheuerlichkeit
Der naseweise Kommentar kennt nur das zynische Eingeständnis: „Sie wissen genauso gut wie ich, dass andere Menschen auch sterben, wenn auch nicht an Hitler. Manche sind an Hitler genesen, stehen auf mit Hitler, essen Hitler und legen sich mit Hitler zu Bett: Im Häuschen ihrer Großeltern, als sie noch in Berlin waren, beispielsweise.“ Genau diese Ungeheuerlichkeit setzt sich nach dem Krieg in den Erfahrungen der Nachkommen von Holocaust-Überlebenden fort: in der verweigerten Anerkennung von Zwangsarbeit und dem verweigerten Zugang zu einem Bankdepot, für das die seit 1942 ausstehenden Depotgebühren noch zu zahlen sind.
Sie setzt sich fort im Rechtsstreit um das Wiedergutmachungserbe des Vaters. Seine zweite, arische Frau brachte einen Sohn mit in die Ehe, der dann mit ihrer Hilfe die überlebende jüdische Tochter aus der ersten Ehe des Vaters um dieses Erbe betrogen hat.
Diese Ungeheuerlichkeit setzt sich fort in der Unmöglichkeit, die Gebeine der Mutter, die 1942 mit der Tochter in den Untergrund ging und dort mit ihr überlebte, auf einem jüdischen Friedhof in Berlin umzubetten, wie es die „Tante“ versucht hat. Sie muss aber erst einmal die Gebeine finden, da das Grab der Mutter und ihres dritten katholischen Ehemanns undokumentiert aufgelassen wurde.
Doch auch der „Neffe“ scheitert, als er seine Mutter, die Romreisende, nach ihrem Tod durch Brustkrebs in einem noch existierenden Familiengrab väterlicherseits in Berlin-Weißensee bestatten möchte. Er könne es für 20.000 Euro zurückkaufen, denn es gehöre der Familie nicht mehr, wo doch die Mutter kein Gemeindemitglied ist, erklärt der russischstämmige Rabbi dem „Neffen“, der verstört meint, er habe doch „von Enteignung immer nur auf arischer Seite gehört“.
Dabei möchte der „Neffe“, dessen Vater der namentlich genannte US-amerikanische schwarze Künstler und Bürgerrechtsaktivist Harold Bradley ist, sein Judentum in ganz strenger Form leben. Seinem Wunsch, Mitglied der Lubawitscher zu werden, steht jedoch der fehlende Nachweis jüdischer Vorfahren bis 1800 entgegen.
Eine engagierte Freidenkerin
Seine „Tante“ ist da wenig hilfreich, bleibt sie doch „uneinsichtig, was das Interesse an jüdischer Reinrassigkeit betrifft“ – als politisch in den 1970er Jahren sozialisierte und weiterhin politisch engagierte Freidenkerin. Ein Porträt der Autorin, deren außergewöhnliches Vermögen, politische, poetologisch-literarische und feministische Argumente sowohl parallel wie kontrovers zu führen, in Gedichtbänden wie „Als mir mein Golem öffnete“, in Erzählungen, Essays wie „Mit Eichmann an der Börse. In jüdischen und anderen Angelegenheiten“, in Theaterstücken und Ausstellungen und nicht zuletzt in ihrer Klage über die Mordopfer des NSU „Blumen für Otello“ schon lange begeistert.
Mit ihrer Geschichte als Kinder überlebender Mütter gehen die beiden also ganz unterschiedlich um. Dabei treffen sie auf die Idiotie und die paternalistische Heuchelei einer Gesellschaft, die sich zugutehält, noch immer ihre Vergangenheit zu bewältigen, und sich gar nicht genug über Antisemitismus ereifern kann, bei weitgehender Ahnungslosigkeit, wie und wo er sich – auch bei ihnen – zeigt.
Sie treffen dabei aber auch auf eine jüdische Gemeinde und jüdische Gesellschaft, die meint, in der Illegalität überlebt zu haben, gut und schön, was tatsächlich interessiert, ist doch wirkliche Jüdischkeit. Es waren eben „die deutschen Überlebenden und ihre Kinder für die in Deutschland gestrandeten und Importierten so unwahrscheinlich wie für die Nicht-Juden, sodass ihre bloße Existenz einen Makel darstellte, den sie schwerlich loswerden konnten, und eigentlich zweifelten sie selbst daran, dass sie Juden waren“, resümiert die „Tante“ ihre Erfahrung.
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