Studie zu NS-Gedenken: Mehrheit in Deutschland will den „Schlussstrich“
Eine Mehrheit in Deutschland wünscht sich einen „Schlussstrich“ unter die NS-Zeit. Die neue Memo-Studie zeigt Wissenslücken und verzerrtes Erinnern.
Das Wissen über die NS-Zeit in Deutschland nimmt ab. Das ist ein zentrales Ergebnis der Studie „Multidimensionaler Erinnerungsmonitor“ (Memo), die am Dienstag veröffentlicht wurde. „In Deutschland zeigen sich besorgniserregende Wissenslücken und eine Verzerrung von Erinnerung, wenn es um den Nationalsozialismus geht“, sagt Studienleiter und Professor für Politische Psychologie an der Universität Bielefeld Jonas Rees der taz.
Seit 2017 erforscht die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) zusammen mit dem Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) in der Memo-Studie kontinuierlich, was und wie die Menschen in Deutschland die Zeit des Nationalsozialismus erinnern. Als Lernorte für die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte spielen Gedenkstätten laut der Studie eine zentrale Rolle.
So gaben 72 Prozent der knapp 4.000 Befragten mit Wohnsitz in Deutschland an, mindestens einmal eine Gedenkstätte besucht zu haben. Und, wie die repräsentative Online-Befragung zeigt, gibt es einen Zusammenhang zwischen Besuchen von Gedenkstätten, Wissen über die NS-Zeit und der Bereitschaft, sich mit der deutschen Vergangenheit, aber auch gegenwärtigen Entwicklung zu beschäftigen.
Dabei komme es vor allem auf die Freiwilligkeit an: „Je freiwilliger und je selbstständiger der Besuch wahrgenommen wurde, desto eher empfanden die Befragten ihn als emotional berührend und motivierend, sich mehr mit dem Thema NS zu beschäftigen, desto mehr Faktenwissen konnte vermittelt werden“, sagt Jonas Rees vom IKG.
Über die Hälfte der ersten Gedenkstättenbesuche finden im Rahmen von Schule statt. Schulbesuche wurden jedoch im Vergleich zu Besuchen mit Freund:innen oder der Familie als am wenigsten freiwillig und selbstbestimmt bewertet. Wie von dem Aufsuchen einer Gedenkstätte besonders profitiert werden könne, darüber lasse sich diskutieren, sagt Jonas Rees. „Aber so gut wie alle Befragten geben an, etwas von so einem Besuch mitgenommen zu haben.“
Jonas Rees, Studienleiter
Die Memo-Studie zeigt, Freiwilligkeit und Selbstbestimmtheit sind wichtige Faktoren dafür, ob Menschen ihren Besuch in einer Gedenkstätte positiv bewerten oder nicht. Das müssen Schulen bei der Planung mitdenken, findet Andrea Riedle, Direktorin der Stiftung Topographie des Terrors: „Im Idealfall werden Schülerinnen und Schüler in die Entscheidung, welche konkrete Einrichtung besucht wird, miteinbezogen.“
Wie wenig aus der Schulzeit hängen bleibt, belegt die Studie ebenfalls: „Nur ein Drittel der Befragten konnte erklären, was Euthanasie ist, die anderen beantworteten die Frage falsch oder gar nicht“, sagte Jonas Rees der taz. Nur wenige könnten zudem Schätzungen über Opfergruppen wie Sinti:zze und Rom:nja, Menschen mit Behinderung oder Zwangsarbeiter:innen abgeben, die dem realistischen Ausmaß nahekommen.
Auch über Erinnerungsorte in der eigenen Region sind die meisten nicht informiert: 63 Prozent der Befragten gaben an, wenig bis gar nichts über Gedenkorte am eigenen Wohnort zu wissen. 40 Prozent der Befragten gaben an, viel bis sehr viel über den Nationalsozialismus in der Schule gelernt zu haben – in den Jahren zuvor waren es noch bis zu sieben Prozentpunkte mehr.
„Dass viele Befragte angeben, sich intensiv mit der Geschichte des Nationalsozialismus beschäftigt zu haben und zugleich an Wissensfragen scheitern, deutet unter anderem auf Leerstellen in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit hin“, sagte Stephanie Bohra, Leiterin für Bildung der Stiftung Topographie des Terrors.
In vergangenen Memo-Studien habe sich gezeigt, dass neben Schulen und Gedenkstätten auch Filme zum Thema Nationalsozialismus eine wichtige Rolle in der Erinnerungsarbeit spielen. Diese würden als sehr prägend erlebt, sagt Rees.
Gedenken abseits von Täterschaft
Dass in der Memo-Studie von 2020 43 Prozent der Befragten – mit großem Abstand die meisten – angaben, ihnen sei der Film „Schindlers Liste“ besonders lange im Gedächtnis geblieben, findet Rees bezeichnend: „Das passt zur deutschen Erinnerungskultur, ein Film, in dem es ums Helfen geht und weniger um die Täterschaft“. Die NS-Erinnerung werde zunehmend zu Unpersönlichem, „etwas, was man aus dem Fernsehen kennt, das eventuell nach dem Tatort läuft“, kritisiert Rees.
Schon zwei Jahre zuvor gaben 54 Prozent der Befragten an, zu glauben, ihre Vorfahren seien Opfer des Nationalsozialismus gewesen. Darauf folgten Helfer:innen und Täter:innen mit jeweils 18 Prozent.
Auch in der aktuellen Studie zeigen sich ähnliche Ergebnisse: Der Aussage, der Wohlstand vieler Familien basiere bis heute auf Verbrechen aus der Zeit des NS, stimmten 19 Prozent der Befragten zu. Die gleiche Aussage über die eigene Familie bejahten jedoch nur 2,8 Prozent.
Bei der Wirtschaft zeigen sich vergleichbare Zahlen: Fast ein Drittel denkt, der Wohlstand vieler deutscher Unternehmen basiere bis heute auf NS-Verbrechen. Beim eigenen Arbeitgeber denken das nur acht Prozent der Befragten. In der kollektiven Erinnerung werden demnach systematisch Dinge verzerrt, für Jonas Rees vom IKG Bielefeld gibt es eine Erklärung: „Je näher es an die eigene Person geht, desto defensiver werden wir Menschen. Die Nazis waren immer die anderen.“
Mehrheit wünscht sich einen „Schlussstrich“
Diese systematische Verzerrung könne dort, wo Wissen verloren geht, auch den Diskurs beeinflussen, sagt Rees. Das zeigt sich auch an einem weiteren Ergebnis der Studie: Rund jede:r zehnte Studienteilnehmer:in stimmt antisemitischen Aussagen zu, zum Beispiel, dass jüdische Menschen in Deutschland zu viel Einfluss hätten oder „üble Tricks“ nutzten. Rund ein Viertel der Befragten stimmte der Aussage zu, jüdische Menschen würden den Holocaust zum eigenen Vorteil ausnutzen.
Erstmals seit Beginn der Memo-Studienreihe 2017 forderte mit 38 Prozent eine Mehrheit der Teilnehmer:innen einen „Schlussstrich“ unter die NS-Zeit. 37 Prozent lehnten dies zwar ab, jedoch waren sie zum ersten Mal in der Minderheit. „Manchmal macht man Studien und erwartet schon, dass bestimmte Dinge sich verschieben, aber wenn sich in der Haltung der deutschen Bevölkerung zur NS-Vergangenheit etwas so deutlich verschiebt, dann sollte uns das Sorgen machen“, so Studienleiter Rees.
Gleichzeitig zeigen die Studienergebnisse aber auch, dass eine Mehrheit (42 Prozent) es wichtig findet, an die Verbrechen des NS zu erinnern. Hier zeigt sich also auch ein Potenzial, Wissenslücken zu schließen. Der Ort, an dem laut Studie angesetzt werden muss, um Menschen zur Beschäftigung mit dem NS zu motivieren, ist die Schule. Freiwilligkeit und Selbstbestimmtheit seien hier die Stellschrauben.
Lehrkräften fehlt es an Fortbildung
Eine Idee, wie Gedenkstättenbesuche gelingen könnten, sind Schulprojekte. „In solchen könnte man über längere Zeit spezifisch zu bestimmten Opfergruppen arbeiten und die Schülerinnen und Schüler aktiv in die Planung mit einbeziehen“, sagt Stefan Düll, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Im Anschluss an das Projekt stünde dann der Besuch einer Gedenkstätte an. Dafür brauche man aber auch den zeitlichen Freiraum an der Schule, der sei aber beschränkt: „Wir haben einen bestimmten Schulverlauf, der unabänderlich ist“, so Düll.
Letztlich liege es einerseits an den zeitlichen Zwängen, andererseits auch am Problem des Lehrkräftemangels, sagt Anja Bensinger-Stolze, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und dort Verantwortliche für den Bereich Schule. „Wir haben einen akuten Lehrkräftemangel und es fehlt ebenfalls an entsprechender Fortbildung.“ Eine intensive Projektarbeit mit ausreichend Freiraum für Lehrer:innen ist aber möglich, sagt sie. „Viele Initiativen von Jugendlichen, die für ihr Engagement ausgezeichnet werden, sind aus sehr motivierenden Unterrichtssequenzen entstanden“, so Bensinger-Stolze.
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