Wiederaufführung von „Schindlers Liste“: Die Würde des Menschen

Unser Autor schrieb über Steven Spielbergs Holocaust-Film vor 25 Jahren in der taz. Nun, zum Jubiläum, denkt er noch einmal über ihn nach.

Schwarz-weiß-Szene aus dem Film

Zum Feilschen um Menschenleben gezwungen: Szene aus „Schindlers Liste“ Foto: Verleih

Der optimistische und deshalb in Farbe gedrehte Ausblick des Films endet mit einem Anachronismus: Während eine Totale zeigt, wie die befreiten Männer und Frauen in breiter Front in die Freiheit schreiten, ertönt das Lied „Jerushalajim shel Zahav“ : „Jerusalem von Gold“. Das Lied wurde im Mai 1967, kurz vor dem Sechstagekrieg, zum ersten Mal vorgetragen und nach der Eroberung Ostjerusalems durch die israelische Armee in der Interpretation von Naomi Shemer zu einem beispiellosen Erfolg.

Die Shoah lag damals mehr als 20 Jahre zurück. Oskar Schindler wurde auf eigenen Wunsch 1974 auf dem nun israelischen Zionsberg beerdigt. Spielbergs Film „Schindlers Liste“ wiederum wurde knapp 20 Jahre danach uraufgeführt – etwas weniger als 50 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz.

Schnell wurde die Hollywoodproduktion von namhaften Autoren, von Imre Kertész und Claude Lanzmann seines optimistischen Endes und seiner „deutschen“ Per­spektive wegen verrissen. Die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch argumentierte zudem, dass „Schindlers Liste“ eine erinnerungspolitische Wende einleitete: von der anamnetischen Solidarität mit den Ermordeten zu einem denn doch zu optimistisch getönten Interesse an den Überlebenden.

Der Autor dieser Zeilen schrieb damals in dieser Zeitung: „Aber auch dieser Film als optisches Medium mit meist narrativer Grundstruktur wird sich früher oder später der Frage stellen müssen, wieweit das Unvorstellbare wirklich gezeigt werden kann.“

Die Anzahl der Opfer

Heute – weitere 25 Jahre später – stelle ich mir die Frage, was genau die geläufig gewordene Rede vom „Unvorstellbaren“ der Shoah bedeuten soll: das kaum nachvollziehbare Leiden der ausgebeuteten und ermordeten Jüdinnen und Juden, der lustvolle Sadismus von Tätern wie Amon Göth, der jüdische Menschen abknallte wie Hasen, während sich seine nackte Geliebte im Bett räkelte, oder die damals bei den meisten erwachsenen Deutschen beobachtbare Kälte …

Das ist denn doch ein großartiger Film

Bei der Rede vom „Unvorstellbaren“ der Shoah scheint es um Folgendes zu gehen: um die welthistorische Singularität dieses arbeitsteiligen Massenmordes sowie um die Schwierigkeit, das Verbrechen zu erklären und moralisch einzuordnen. Freilich ist beides – seine Erklärung sowie seine moralische Einordnung – ohne besondere Schwierigkeit möglich. Der Soziologe Stefan Kühl hat dazu mit seiner Studie „Ganz normale Organisationen“ einen entscheidenden Beitrag geliefert. Was aber die „Singularität“ der Shoah betrifft, dürfte inzwischen klar sein, dass es jedenfalls nicht um die Anzahl der Opfer gehen kann: Stalinismus und chinesische Kulturrevolution haben quantitativ mehr Opfer gefordert – die Revolution der Roten Khmer in Kamputschea wiederum war bei halb so vielen Opfern allemal ebenso grausam.

Fabrikmäßiges Töten

Allenfalls die „moderne“, fabrikmäßige Form der Tötung – zuerst bei der Ermordung von Geisteskranken erprobt – war in diesem Sinne singulär. Singulär aber war zudem, dass Täterinnen und Täter den als fortgeschritten und zivilisiert geltenden Nationen vor allem Deutschlands und Österreichs entstammten – nicht wie die jugendlichen Massenmörder der Roten Khmer dem Dschungel.

„Schindlers Liste“. Regie: Steven Spielberg. Mit Liam Neeson, Ben Kingsley u. a. USA 1993, 194 Min., am 27. 1. im Kino

Vor diesem Hintergrund beweisen die Lernprozesse des ebenso durchschnittlichen wie außergewöhnlichen Menschen Oskar Schindler, dass es möglich war, die ansozialisierten, konventionellen Prinzipien der Moral nicht zu vergessen.

Heute, 25 Jahre nach der deutschen Uraufführung, sehe ich in diesem denn doch großartigen Film vor allem eine moralphilosophische Studie: über die Bedeutung dessen, was die Verfassung dieses Landes, das Grundgesetz, postuliert. In eindringlichen Szenen feilschen Schindler, Göth und andere SS-Chargen über den Preis von Menschen, trauert Schindler am Ende darüber, nicht mehr Menschenleben gekauft zu haben. Es waren – das scheint inzwischen historisch erwiesen – etwa 1.100 Männer und Frauen.

Damit stand Schindler nicht allein: Auch der „jüdische Rettungswiderstand“ bediente sich des Kaufs von Leben gegen Geld. So gelang es dem zionistischen Emissär Nathan Schwalb seit 1939 von Genf aus, 200.000 Juden zu retten. Joel Brand wiederum wurde 1944 auf Geheiß Himmlers nach Istanbul geschickt, um mit den Alliierten darüber zu verhandeln, die Leben von bis zu einer Million Juden zu verschonen, sofern die Alliierten dem Reich 10.000 Lastwagen lieferten: für einhundert Menschenleben ein Lastwagen! Der Deal scheiterte.

Wer kein Mensch mehr ist

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Immanuel Kant, der Philosoph der Aufklärung, hatte geschrieben: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ Daraus folgte für Kant: „Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen bloß als Mittel, sondern muss jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden.“

Niemals zuvor in der Weltgeschichte hat ein Staat, nein, ein staatsähnliches Gebilde so gegen dieses Prinzip verstoßen wie das nationalsozialistische Deutschland und zu viele seiner BürgerInnen. Und die Opfer? „Mensch ist“, so notiert Primo Levi am 26. Januar 1945, einen Tag vor der Befreiung von Auschwitz, „wer tötet, wer Unrecht zufügt oder erleidet; kein Mensch ist, wer jede Zurückhaltung verloren hat und sein Bett mit einem Leichnam teilt. Und wer darauf gewartet hat, bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter entfernt als der roheste Pygmäe und der grausamste Sadist.“ Unter diesen Bedingungen schwindet dann auch die natürliche Neigung zur Nächstenliebe. Levi fährt fort: „Ein Teil unseres Seins wohnt in den Seelen der uns Nahestehenden: darum ist das Erleben dessen ein nicht-menschliches, der Tage gekannt hat, da der Mensch in den Augen des Menschen ein Ding gewesen ist.“

Bei allen Einwänden gegen Spielbergs Film stellt er denn doch eine Anerkennung dieses Mannes und damit der Verdeutlichung der Prinzipien der deutschen Verfassung dar. Artikel 1 des Grundgesetzes lautet: Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

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