Künstliche Intelligenz in der Medizin: Ambivalente Datenmassen
KI in der Medizin ist überlegen, wenn es um winzige Abweichungen geht. Aber ihr Einsatz kann auch zu weit gehen. Zwei KI-Projekte in Kiel und Hannover.

Welcher Leberfleck ist harmlos, welcher birgt Krebs-Potenzial? Bei welchen frisch Operierten droht die Gefahr einer Infektion? Kann in Zukunft die Technik die Entlassungsbriefe für die Patient:innen schreiben und so Ärzt:innen entlasten?
Die Möglichkeiten für künstliche Intelligenz (KI) in der Medizin sind vielfältig. Im Norden werden einige Verfahren bereits getestet. Im Fokus stehen aber auch ethische Fragen. „Maia“ heißt die neue Mitarbeiterin, die seit Januar am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) zum Einsatz kommt. Der Name steht für „Medical Artificial Intelligence Assistant“, Medizinische KI-Assistent:in.
Das System erfasst alle Vorerkrankungen sowie aktuelle Werte von Patient:innen und kann daraus bisher nicht diagnostizierte Krankheiten ableiten oder auf Risiken hinweisen – etwa, ob nach einer Operation die Gefahr besteht, dass die Patient:in beim Gang zur Toilette stürzen könnte.
Dieser Einsatz direkt für die Versorgung von Kranken sei etwas Besonderes, sagt Dirk Schädler, Professor für Operative Intensivmedizin am Kieler Uniklinikum. Denn „die meisten KI-Projekte in Deutschland bewegen sich im Bereich der Forschung und Entwicklung“, sagt Schädler, zu dessen Schwerpunkten Telemedizin und neue Technologien wie Virtual Reality in der Klinik gehören.
Bereits im Jahr 2022 startete die Uni ein Pilotprojekt, um Maia zu testen. Dazu arbeitete das UKSH mit dem Hamburger Software-Unternehmen Tiplu zusammen, eine Firma, die speziell für den Medizinbereich technische Lösungen entwickelt. „Künstliche Intelligenz kann vieles nicht. Aber bei Entscheidungen alle Informationen im Blick behalten und jede Eventualität berücksichtigen, liegt in ihrer Natur“, heißt es auf der Homepage des Unternehmens.
Alle Informationen im Blick behalten – in der Arbeit mit großen Datenmengen, also „Big Data“, liegt die Stärke von KI in der Medizin. Das Fraunhofer Institut für Kognitive Systeme in München listet eine ganze Reihe von Bereichen auf, in denen diese Fähigkeit sinnvoll angewendet werden kann. Dazu gehören die Überwachung chronischer Krankheiten ebenso wie das Datenmanagement im Krankenhaus. Roboter-Chirurgen sollen präzise schneiden und behandeln lernen, indem sie auf einen großen Datenschatz zurückgreifen können.
Der Vergleich schier unendlicher Einzelbilder macht die KI auch überlegen, wenn es darum geht, Abweichungen zu erkennen. In Schleswig-Holstein soll diese Fähigkeit unter anderem bei der Brustkrebsvorsorge zum Einsatz kommen. Frauen, die wegen familiärer Vorbelastung ein erhöhtes Risiko tragen, werden in das Programm der Qualitätsgesicherten Mamma-Diagnostik (QuaMaDi) aufgenommen. Dieses Projekt läuft seit 2001. Bisher schauten sich mindestens zwei Ärzt:innen die Bilder an. Zukünftig soll eine KI einen Teil der Arbeit übernehmen.
Doch kann der Einsatz der neuen Technik auch zu weit gehen? Welche ethischen und rechtlichen Fragen stellen sich hier eigentlich? Und wie verändert sich das Verhältnis zwischen Ärzt:innen und Patient:innen durch den Einsatz des digitalen Docs?
Orientierungshilfe aus Hannover
Um Fragen wie diese zu beantworten, veranstaltete die Medizinische Hochschule Hannover unter der Überschrift „Mein Doktor, die KI und ich“ eine Reihe von Workshops und Diskussions-Foren. Am Ende der Veranstaltungsreihe, die vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur gefördert wurde, stehen eine Reihe von Tipps, die Ärzt:innen und Patient:innen „eine praktische Orientierungshilfe für den Umgang mit KI-basierten Systemen bieten“ sollen, heißt es in einer Pressemitteilung der Hochschule.
„Die Handlungsempfehlungen basieren auf einem intensiven Dialogprozess“, erläutert Projektleiter Frank Ursin, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethik, Geschichte und Philosophie der Medizin. Rund 170 medizinische Laien und Expert:innen beteiligten sich an den Veranstaltungen, aus denen die Forschungsgruppe dann die Kernpunkte herauskristallisierte. Zu den Ratschlägen an die Erkrankten gehört, dass sie Informationen über KI einfordern und nachfragen sollten, wie die Technik ihnen konkret helfen könne. Am besten mit gezielten Fragen, etwa „Wie zuverlässig sind die Ergebnisse der KI?“ Auch Datenschutz müsse eine Rolle spielen.
Außerdem – auch das war ein Ergebnis der Workshop-Reihe: Trotz aller neuen Daten besteht weiter das Recht auf Nicht-Wissen und der Verzicht auf zu viele Details über Therapie und Heilungschancen. Die wichtigste Empfehlung für die Ärzt:innen lautet: Die Verantwortung bleibt bei ihnen, auch wenn eine noch so gute KI eine Therapie vorschlägt: „Die KI entbindet nicht von der Sorgfaltspflicht, sondern ergänzt Entscheidungen um datenbasierte Empfehlungen“, sagt Ursin. Dies sollten die Behandler:innen auch so erklären und Risiken und Unsicherheiten nicht verschweigen.
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