Gaza-Tagebuch: Mit bloßen Händen nach dem Freund graben
Bei einem der israelischen Angriffe auf den Gazastreifen wurde das Nachbarhaus unseres Autors getroffen. Unter den Trümmern lag sein Freund.

E s war vier Uhr morgens. Alle hatten gerade ihr Frühstück beendet und bereiteten sich auf das Fajr-Gebet vor. Wenige Augenblicke später hörten wir eine laute Explosion in der Nähe. Die Türen unseres Hauses gingen zu Bruch, sowie das, was von den bereits zerstörten Fenstern noch übrig war. Ich ging zum Fenster, um die Explosion zu sehen. Zuerst dachte ich, es sei das Haus unseres Nachbarn Abu Hossam. Dann gab es eine zweite Explosion, und unser Haus füllte sich mit Staub.
Mein Bruder fing an zu schreien. „Sie sind unter den Trümmern gefangen. Wir müssen ihnen helfen!“ Auch wir waren einmal unter Trümmern gefangen gewesen, damals hatten wir das Gefühl, dass niemand da war, um uns zu helfen.
Wir verließen unser Haus, aber das zerbombte Haus war nicht das von Abu Hossam, sondern das Haus unseres Freundes Hussein und seiner Familie. Die Straße war dunkel, das Haus brannte noch. Es war die gleiche Szene, die ich mit meiner eigenen Familie erlebt hatte.
Wir näherten uns dem Haus, und mein Bruder begann, Husseins Familie aus den Trümmern zu ziehen, während ich auf der Straße stand und denjenigen half, die herausgezogen wurden. Ich legte sie auf den Boden, entfernte alles, was ihnen das Atmen erschweren könnte, legte etwas unter ihren Kopf und wartete auf den Krankenwagen.
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Zwischen Treppe und Decke des Hauses eingeklemmt
Nach einer halben Stunde war immer noch kein Krankenwagen da, obwohl das Baptist Hospital nur zehn Minuten mit dem Krankenwagen entfernt ist, und die Straßen waren leer. Ich erinnerte ich mich an einen Freund von mir namens Osama, der für den Roten Halbmond arbeitet. Ich rief ihn an und erzählte ihm, dass das Haus unseres Nachbarn bombardiert worden war. Ich flehte ihn an, uns einen Krankenwagen zu schicken, und begann zu weinen.
Während ich mit ihm sprach, traf endlich der von den Nachbarn herbeigerufene Krankenwagen ein. Die Sanitäter begannen, die Verletzten und Getöteten aus dem Haus zu holen. Das Haus bestand aus sechs Stockwerken, und Husseins Familie war gerade im Keller, als alle Stockwerke über ihnen zusammenbrachen. Zivilschutzteams trafen ebenfalls ein, aber sie hatten kein schweres Gerät, um die Verletzten unter den Trümmern hervor zu holen.
Sie und wir, genauso wie die anderen Menschen aus der Nachbarschaft, gruben mit einfachen Werkzeugen, teils mit bloßen Händen, 12 Stunden lang, von vier Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags hatten wir schon gegraben und es noch immer nicht geschafft, die gesamte Familie aus den Trümmern zu befreien. Auch nicht meinen Freund Hussein, 25 Jahre alt. Er trug den Spitznamen „der brasilianische Ronaldo“, er war ein außergewöhnlich guter Fußballspieler. Während unserer Studienzeit habe ich viel mit ihm auf einem Platz in der Nähe meines Hauses gespielt. Aber das Glück war in Gaza nicht auf seiner Seite.
Als wir begannen, Husseins Familie aus dem Haus zu holen, konnten wir ihn zunächst nicht finden. Nach einiger Suche fanden wir ihn zwischen der Treppe und der Decke des Hauses eingeklemmt. Eine der Decken war auf seinen Hals gefallen und hatte ihn von seinem Körper getrennt, ein Betonpfeiler hatte seine Beine zerquetscht und sie von seinem Rumpf getrennt.
Wird das Sterben jemals aufhören?
Neben ihm wurden viele seiner Brüder und Schwestern von der Besatzung getötet. Diejenigen, die überlebt haben, haben sich alle das Becken gebrochen und befinden sich in einem kritischen Zustand.
Ich habe das Gefühl, mich selbst verloren zu haben. Ich kann nicht verstehen, was geschieht. Wann wird es aufhören, das Sterben? Wann wird es jemals aufhören?
Esam Hani Hajjaj (27) kommt aus Gaza-Stadt und ist Schriftsteller und Dozent für kreatives Schreiben für Kinder. Nach Kriegsausbruch ist er innerhalb des Gazastreifens mehrfach geflohen.
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