Verdrängung aus Hamburger Szeneviertel: „Die Schlacht ist verloren“
Einer der letzten Gewerbehöfe in Hamburg-Ottensen löst sich auf. Der neue Eigentümer ist am Start, der Kampfgeist der letzten Mieter ist gewichen.

Hohenesch 68, die Adresse muss man sich merken, zu schnell hat man die enge, mit Graffiti versehene Einfahrt verpasst, die durch die Hausfassade durchgeht, oben drüber ist eine Wohnung.
Drinnen öffnet sich der Innenhof, geradeaus eine Wäscherei, daneben ein Loft, in dem eine Designagentur arbeitet, und dann, zur Rechten: Schuppen, Treppen, Holzverschläge, gekachelte Wände über einer Kellertreppe, die irgendwohin führt. Vor einem verschlossenen Tor steht eine Ansammlung von Motorrädern, Mofas und Rollern, und wenn man sich umdreht, steht man in der Werkstatt von Jan Hempel. Die Tür steht offen, er arbeitet gerade hinten an einer seiner stylischen metallenen Leuchten, die er „Lichtsubjekte“ nennt. „Ach, die Presse? Schade, dass ihr jetzt erst kommt!“
Denn eigentlich ist es schon zu spät, „die Schlacht verloren“, wie Jan Hempel sagt. Lange haben sie gekämpft, hinter den Mülltonnen stand bis vor Kurzem eine Plakatwand: „Gewerbehof Hagen bleibt“, war da zu lesen, darunter Fotos der Leute, die hier ihr Kleingewerbe betrieben: die Malerin, die großformatige Hafenbilder malt, die Gitarrenbauer, der Schlagzeuger mit eigenem Studio, der Siebdrucker, die Landschaftsarchitektin, der Saxofonist, der Schrauber, der die Mopeds und Motorräder repariert, die Leute hinten vom Getriebedienst und eben Jan Hempel, der ein bisschen so was wie der Sprecher des Gewerbehofs war, also seiner Mieter*innenseite.
Arbeiten, ohne das große Geld zu verdienen
Es ist ein Hinterhof, wie es nicht mehr viele gibt in Ottensen. Die meisten, die hier arbeiten, verdienen nicht das große Geld, aber die Mieten sind niedrig, dank der alteingesessenen Eigentümer der Familie Hagen, die den Gewerbehof erhalten wollten, und so hatten die Mieter*innen hier einen Ort, an dem sie bleiben konnten.
Bis vor gut zehn Jahren eine neue Eigentümerin, Anke-Doreen Heinze, das Nachbarhaus kaufte, und dort Ferienwohnungen einrichtete. Die Einfahrt in den Innenhof, klagte sie, gehe über ihr Grundstück und sei einsturzgefährdet, darunter liege ein Keller, dessen Decke marode sei. Von den Eigentümern des Gewerbehofs fordert sie seither, eine neue Zufahrt zu bauen – durch deren Seite des Vorderhauses hindurch. Derzeit befindet sich dort ein Tanzstudio, und dahinter die Werkstatt von Jan Hempel. Der Streit beschäftigt seit Jahren die Gerichte.
Plötzlich Vorschriften überall
2019 ließ die Nachbarin einen Poller mitten in der umkämpften Durchfahrt errichten. Inzwischen ist er einem Betonblock gewichen, aber der Effekt ist derselbe: Lieferwagen können den Innenhof nicht mehr anfahren, was besonders für den „Getriebedienst Altona“ bitter ist, der ganz hinten im Gewerbehof seine Werkstatt hat.
Bis zu zwei Tonnen schwere Getriebe stapeln sich hier hinter einer Metalltür, auf deren Innenseite „Jürgen“ steht. Früher konnten sie direkt vor die Werkstatt gefahren werden. Heute müssen die Mitarbeiter sie auf der Straße entladen und per Handwagen über den Innenhof karren. „Die Nachbarin ficht den Streit auf unseren Schultern aus“, sagt Volkmar Grünkern, der Inhaber des Getriebedienstes, der in seinem kleinen Büro-Verschlag die Abrechnungen macht.
Volkmar Grünkern will nur noch weg, weg aus dem Hinterhof, weg auch aus Hamburg. Im schleswig-holsteinischen Horst habe er einen neuen Standort in Aussicht, sagt er, ein bisschen weiter weg, na und? „Wenn man Getriebe braucht, schafft man das super auch nach Horst.“
Tagsüber kommt die Feuerwache
Denn der Streit hier im Hinterhof hat sich ausgeweitet, längst geht es nicht mehr allein um die Zufahrt. Wie es eigentlich mit dem Brandschutz aussehe, wollte die Nachbarin, die von Beruf Architektin ist, vom zuständigen Bezirksamt Altona wissen. Der Gewerbehof Hagen ist um die 100 Jahre alt, es war lange nicht viel gemacht worden.
In vielen Hinterhöfen sei das so, sagt Volkmar Grünkern, die Frage sei, ob die Behörden hinschauten oder nicht. Dank der Nachbarin schauten sie nun hin, und seitdem sitzt neben der Werkstatt von Jan Hempel tagsüber immer jemand mit roter Warnweste, das ist die Feuerwache.
Vorschriften, die noch gar nicht existierten, als die Werkstätten und Schuppen gebaut wurden, machen nun Probleme: Was ist mit den Leitungen für die Brandmelder, sind sie feuerfest? Was ist mit den Fenstern? Werden die Mindestabstände zum Nachbarhaus eingehalten?
„Lügen, falsche Behauptungen, Täuschung“
Und es stellt sich die Fluchtwegfrage, denn die Zufahrt, um die sich der Streit die ganze Zeit dreht, ist der einzige Fluchtweg raus aus dem Hinterhof. Einer aber ist zu wenig.
Nachzulesen ist das alles auf einer Homepage unter der Adresse gewerbehof-hagen-bleibt.de, die allerdings nicht etwa von den Mieter*innen des Gewerbehofs, deren Slogan dies ja eigentlich ist, sondern von dem Partner der Nachbarin betrieben wird, der dort noch mal ihre Argumente auffährt: „kein Brandschutz, keine Fluchtwege, keine Genehmigungen“ steht dort in fetten Buchstaben, der Gegenseite und ihren Anwälten werden „Lügen, falsche Behauptungen, Täuschung“ vorgeworfen.
Unter dem Druck der Prozesse und Auflagen haben die Alteigentümer der Hagen-Familie, so erzählen es die Mieter*innen des Gewerbehofs, einen Investor zur Hilfe geholt, ein Brüderpaar mit weit gestreutem Immobilienbesitz, das man nur vom Hörensagen kennt und das nun die Mehrheit der Anteile halten soll. Neuer Ansprechpartner ist nun eine Hohenesch Verwaltungs GmbH mit Sitz im Hamburger Schanzenviertel, von deren Geschäftsführer bekamen sie die Kündigung und neue Mietverträge – mit einem Monat Kündigungsfrist.
„Ein Monat!“ Jan Hempel lacht heiser, in der Zeit kann man als Gewerbetreibender gerade mal seine Sachen packen, hat aber noch nichts Neues. Der Geschäftsführer, der für die taz nicht erreichbar ist, sei im Umgang eigentlich ganz nett, aber was er oder die neuen Eigentümer vorhaben, wisse niemand.
Und so wächst die Zahl der Mieter*innen, die den Gewerbehof verlassen. Der Siebdrucker ist schon länger weg, zum Jahreswechsel sind auch die beiden Gitarrenbauer ausgezogen, deren Werkstatt unter Sanierungsvorbehalt stand: zu unsicher, fanden sie.
Nach und nach verschwanden die akustischen und E-Gitarren von den Wänden, bis nur noch ein Zettel an der Tür hing mit der neuen Adresse in Hamburg-Wilhelmsburg, auf der anderen Seite der Elbe. „Wir sind ganz gut angekommen hier in Wilhelmsburg“, sagt Robin König, einer der beiden, der seine Handynummer hinterlassen hat, bevor sie umzogen. Für einige alte Kunden sei es schade, dass sie so weit weg seien, „aber für andere wieder gut“.
Andere Mieter*innen sitzen die Entwicklung aus, sei es, weil sie sowieso bald in Rente gehen, sei es, weil sie keine Alternative sehen. „Wo soll ich denn jetzt noch hin?“, fragt Ingo Köster, der jetzt am Nachmittag seine Werkstatt wieder geöffnet hat. Es ist die, vor der die vielen Mopeds und Motorräder stehen.
Dass er wieder da ist, konnte man an einem Knattern hören, das die Stille auf dem Hof kurz unterbrach. Ingo Köster ist 75, in vielen Jahren hat er sich eine Stammkundschaft aufgebaut. Wenn er noch mal woanders von vorn anfinge, sei er 95, sagt er und legt den öligen Lappen weg, den er eben noch in der Hand gehalten hat.
Abgesehen davon gebe es im weiteren Umkreis keinen Ort, wo er noch hin könnte. Die Gewerbehöfe verschwinden überall in Altona und machen Agenturen Platz oder Ferienwohnungen, wie die Nachbarin und ihre Partner sie anbieten. Auf der linken Seite des Innenhofs ist ihr Terrain, dort stehen auf dem Asphalt Gartenmöbel und eine Hollywoodschaukel.
Die Website, auf der die Wohnungen zu finden sind, preist Ottensen als „kleines Paris an der Elbe“ und konstatiert sehr treffend: „Einst war Ottensen ein großer Industriestandort in Hamburg, heute ist der Stadtteil im Bezirk Altona eine der attraktivsten Wohngegenden der Hansestadt.“
Vorkaufsrecht liegt auf Eis
Genau so ist es, wobei die Bezirkspolitik in Altona versucht, das Gewerbe im Stadtteil zu halten. Als der Streit um die Zufahrt 2019 mit der Installation des Pollers eskalierte, versuchte die rot-grün dominierte Bezirksversammlung den rot-grünen Senat dazu zu bewegen, eine Vorkaufsrechtssatzung zu erlassen, damit die Stadt einsteigen und die Zukunft des Gewerbes an diesem Ort sichern kann.
Der Senat lehnte das ab mit dem Hinweis aufs Baugesetzbuch, das ein Vorkaufsrecht in diesem Fall nicht vorsehe. Seit einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts liegt das städtische Vorkaufsrecht inzwischen sowieso größtenteils auf Eis. „Sehr bedauerlich“ findet Christian Trede von der Grünen-Fraktion in Altona die derzeitige Entwicklung, schließlich handele es sich um einen der letzten Gewerbehöfe in Ottensen.
Was die neuen Eigentümer des Gewerbehofs vorhaben, weiß auch er nicht, er kennt sie nicht einmal. Eigentumswohnungen gingen an dieser Stelle zwar nicht, sagt er, aber wenn sie wie im Nachbarhaus Ferienwohnungen bauen wollten, wo jetzt Werkstätten und Garagen sind, wäre das laut Bebauungsplan vermutlich möglich, „leider“.
So lange rätseln die verbliebenen Gewerbetreibenden weiter, was die Zukunft bringen wird. Was sind die Pläne? Was bleibt, was soll weg? Manchmal werden Gruppen von Menschen gesichtet, sie gehen durch den Innenhof, bleiben stehen, schauen sich um. Was sie wollen, sagen sie nicht.
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