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Anwältin über Abkommen zum Völkermord„Sie verhandeln über ein Volk, das nicht mit am Tisch sitzt“

Die Verbrechen des Völkermords der Deutschen an den Herero und Nama sind bis heute spürbar, sagt Ngutjiua Hijarunguru-Kuṱako. Sie fordern Reparationen.

Ngutjiua Hijarunguru-Kuṱako: „Im Abkommen wird der Völkermord nicht aufgearbeitet“ Foto: privat
Interview von Leila van Rinsum

taz: Frau Hijarunguru-Kuṱako, was waren die ersten deutschen Wörter, die Sie kannten?

Ngutjiua Hijarunguru-Kuṱako: Als ich in Frankfurt am Main ankam, hörte ich andere Passagiere im Zug deutsch sprechen und fragte mich, woher sie diese Herero-Wörter kennen. Da wurde mir klar, dass wir als Herero einige deutsche Wörter in unsere Umgangssprache aufgenommen haben. Zum Beispiel: Sowieso, Grippe, Nachtisch, Danke. Ich erinnerte mich daran, dass meine Großmutter mir als Kind verboten hat, diese Begriffe zu verwenden. Damals verstand ich nicht, warum. Aber meine Oma hat früher auf einer deutschen Farm gearbeitet und konnte daher etwas Deutsch sprechen und verstand den Ursprung der Wörter.

Im Interview: Ngutjiua Hijarunguru-Kuṱako

ist Anwältin und Dozentin. Derzeit arbeitet sie an ihrer Dissertation an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie ist die Ur-ur-ur-Enkelin des Herero-Widerstandskämpfers Hosea Kuṱako und wirkte beim ZDF-Dokumentarfilm „Der Vermessene Mensch“ mit.

taz: Als Sie kürzlich auf einer englischsprachigen Veranstaltung sprachen, haben Sie ein auch deutsches Wort verwendet: „Vernichtungsbefehl“.

Hijarunguru-Kuṱako: Die meisten Herero können es aussprechen. Das ist ein Wort, von dem schon die Kinder lernen, dass es die praktische Ausrottung unseres Volkes bedeutet hat. Als der deutsche Befehlshaber Lothar von Trotha den Vernichtungsbefehl erteilte, vergifteten die Deutschen die Wasserbrunnen und trieben die Herero und Nama in die Wüste und weiter nach Botswana. 80 Prozent der Herero wurden getötet und die Hälfte der Nama-Bevölkerung.

taz: Erinnern Sie sich, wann Sie zum ersten Mal vom Genozid gehört haben?

Hijarunguru-Kuṱako: Ich war etwa neun, als meine Großmutter begann, mir Geschichten über den Völkermord und die Vergewaltigungen zu erzählen. Sie sprach über die tiefen Narben in unserer Gesellschaft, insbesondere über das Leid und Trauma, das die Frauen durch die Vergewaltigungen durch deutsche Soldaten erlitten haben.

taz: Ein Abkommen soll Wiedergutmachung für den Völkermord an den Herero und Nama regeln, den die Deutschen zwischen 1904 und 1908 in Namibia begangen haben. Wie weit ist es?

Hijarunguru-Kuṱako: Der Prozess läuft seit etwa 10 Jahren. Es gab ein ständiges Hin und Her zwischen der deutschen und der namibischen Regierung. Aber es sieht so aus, als würden sie sich auf den Abschluss des Abkommens zubewegen. Sobald die Regierungen es unterzeichnet haben, muss das namibische Parlament es annehmen. Wir hoffen, dass es dem Parlament nicht vorgelegt wird, bevor unsere Klage gegen die namibische Regierung abgeschlossen ist. Als Herero und Nama haben wir gefordert, an den Verhandlungen beteiligt zu sein. Im Abkommen wird der Völkermord nicht aufgearbeitet. Deutschland bekennt sich nicht dazu, dass es in das Land der Menschen eingedrungen ist und deren Vieh gestohlen, ihre Frauen vergewaltigt und ihre Männer getötet hat.

taz: Weshalb genau verklagen Sie die namibische Regierung?

Hijarunguru-Kuṱako: Wir als Herero und Nama klagen, weil die Regierung es versäumt hat, die betroffenen Gruppen im Sinne der UN-Konvention über die Rechte indigener Völker zu vertreten. Artikel 18 beinhaltet das Recht auf angemessene Vertretung. Sowohl Namibia als auch Deutschland sind dieser Konvention beigetreten. Und sie wurden bereits von UN-Sonderberichterstattern für den Ausschluss der Herero und Nama an dem Verhandlungsformat kritisiert. Sie verhandeln über ein Volk, das nicht mit am Tisch sitzt. Das ist so, als würden Russland und die USA über einen Friedensvertrag für die Ukraine verhandeln, ohne dass die Ukraine mit am Tisch sitzt. Die Regierung von Namibia hat zwar einzelne Personen als Vertreter der Herero und Nama ernannt. Diese repräsentieren aber nicht unsere nach unseren eigenen Traditionen anerkannten Meinungsbildungs- und Führungsstrukturen.

taz: Deutschland und Namibia bestehen darauf, dass dies eine Angelegenheit zwischen Staaten ist. Aber auch die namibische Regierung hat die Fassung des Abkommens von 2021 kritisiert. Laut der namibischen Präsidentin Netumbo Nandi-Ndaitwah hat Deutschland im vergangenen Jahr hinter den Kulissen mehr Zugeständnisse gemacht. Sie sagte, man habe sich darauf geeinigt, von Völkermord ohne den umstrittenen Beisatz „aus heutiger Sicht“ zu sprechen. Was meinen Sie dazu?

Hijarunguru-Kuṱako: Man braucht keine bestimmte kategorisierte Definition, um zu begreifen, dass der Versuch, einen Stamm zu säubern, in der Tat ein Völkermord ist. Die Ereignisse von 1904 bis 1908 auf diskutable Begriffe in der englischen Sprache zu reduzieren, untergräbt die Schwere des deutschen Verhaltens.

wochentaz

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taz: Die Präsidentin sagte auch, dass Deutschland zugestimmt habe, den Betrag von 1,1 Milliarden Euro zu erhöhen, der in 30 Jahren als Entwicklungshilfe gezahlt werden soll. Sie hat aber nicht gesagt, wie viel. Wissen Sie mehr?

Hijarunguru-Kuṱako: Ich frage mich, ob man uns mit Geld bewirft, damit die namibische Regierung der Erklärung endlich zustimmt. Ich möchte mich daher nicht auf das Geld fokussieren, da es von der Bedeutung des Themas ablenkt. Es gibt keinen Preis für die Menschen, die ihr Leben verloren haben und vergewaltigt wurden. Das kann man nicht beziffern. Und es geht uns nicht darum, Geld für Entwicklungszwecke zu bekommen. Wir sprechen hier von verlorener Kultur. Wir sprechen von Menschen, die von ihrem Land enteignet wurden und nie wieder auf das Land ihrer Vorfahren zurückkehren können. Etwa 70 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzflachen in Privateigentum ist in den Händen europäischer Nachkommen, die oft riesige Viehfarmen haben. Für viele Menschen geht es nicht um Geld. Es geht um Fairness, Gerechtigkeit und Gleichheit.

taz: Wie würde Wiedergutmachung aussehen?

Hijarunguru-Kuṱako: Sie kann keine Entwicklungshilfe im üblichen Verständnis sein. Sie würde auch die Rückgabe von Land an unser Volk bedeuten. Und den Verlust von Vieh ersetzen, das unserem Volk gestohlen wurde. Fur uns Herero und Nama ist die Viehzucht immer noch ein wichtiger Lebensaspekt, wirtschaftlich und kulturell. Als ich für mein Promotionsstudium nach Frankfurt kam, habe ich Vieh verkauft, um hierher zu kommen. Eine Kuh ist bis zu 800 Euro wert. Die Deutschen verstehen diesen Wert vielleicht nicht, aber Vieh ist ein wertvoller Besitz. Sowohl für den Lebensunterhalt als auch für unsere kulturelle Identität. Westliche Gesellschaften interpretieren unsere Sitten und Gebräuche oft falsch. Weil wir in der Wildnis lebten, betrachteten sie uns wie Tiere. Aber wir lebten ein völlig anderes Leben, weil es zu unserer Umwelt und unserer Kultur passte. Der Versuch, Wiedergutmachung zu definieren oder sie nur auf Entwicklungshilfe zu beschränken, damit sie in den Kontext des westlichen Denkens passt, ist keine Wiedergutmachung in unserem Sinne.

taz: Reden wir über Land. Deutschland war Teil der UN-mandatierten „Westlichen Kontaktgruppe“, die in den 1980er Jahren dafür sorgte, dass die Neuverteilung von Land nicht Teil der Unabhängigkeitsverhandlungen war. Klauseln zum Schutz des Landes weißer Siedler wurden sogar in die Verfassung geschrieben. Trotz dieser historischen Ungerechtigkeit wäre es nun die Aufgabe Namibias, auf Landreformen zu drängen. Warum haben die Regierungen das nicht getan?

Hijarunguru-Kuṱako: Die neue Regierung Namibias nach der Unabhängigkeit bestand aus den Gemeinschaften, die damals in der Mehrheit waren. Die Zahl der Herero und Nama war durch den Völkermord, der einige Jahre zuvor stattgefunden hatte, reduziert worden. Deshalb wurde eine Landreform nicht auf den Tisch gelegt. Bis heute sind die Herero und Nama marginalisiert.

taz: Welchen Beitrag könnte Deutschland leisten? Etwa deutsche Nachkommen für Land kompensieren?

Ich weiß nicht, wie praktikabel das ist. Deutschland hält sich jetzt schon nicht an die internationalen Standards, wenn es um unsere Beteiligung bei den Verhandlungen um die Wiedergutmachung geht.

taz: Auch beim neuen gemeinsamen Wasserstoffprojekt sagt Deutschland, es ist die Aufgabe Namibias, die Zivilgesellschaft und Gemeinschaften dort miteinzubeziehen. Eine Sorge ist der Ausbau des Hafens für den Wasserstoffexport bei der Haifischinsel, wo die Deutschen das erste Konzentrationslager für die Herero und Nama errichtet haben. Deutschland sagt, der Ausbau wird die Gedenkstätte nicht beeinträchtigen. Was meinen Sie dazu?

Hijarunguru-Kuṱako: Die Stätte trägt die Geschichte dieses Völkermordes in sich. Ich war vor kurzem für einen Dokumentarfilm mit einer Frau auf der Haifischinsel, die mir erzählte, was ihre Ur-Großmutter durchgemacht hat. Sie wurde in einer Zelle festgehalten, wo sie mehrmals am Tag vergewaltigt wurde. Irgendwann bat sie darum, versetzt zu werden, um die Schädel von getöteten Gefangenen zu schälen und zu reinigen, die dann nach Deutschland geschickt wurden. Sie war der Meinung, dass es besser sei, einen menschlichen Schädel zu schälen, als jeden Tag vergewaltigt zu werden. Die mündliche Überlieferung besagt, dass man ihr, als sie darum bat, den Schädel ihres Mannes brachte, um ihn zu schälen. Daraufhin beging sie Selbstmord. Durch die derzeitige Infrastruktur und die Erschließung droht diese Geschichte zu verschwinden. Nach 35 Jahren Unabhängigkeit Namibias wird diese historische Stätte immer noch als Campingplatz benutzt, was die Missachtung des Völkermordes durch unsere eigene Regierung bezeugt.

taz: In Namibia wurden kürzlich Wahlen abgehalten. Wird sich mit der neuen Regierung oder dem neuen Parlament etwas ändern, um die Herero und Nama in ihrem Streben nach gerechter Entschädigung zu unterstützen?

Hijarunguru-Kuṱako: Die Swapo-Partei regiert seit 35 Jahren. Wir haben zum ersten Mal eine Präsidentin, die Zusammensetzung des Parlaments hat sich verändert, andere Parteien sind stärker vertreten und es gibt mehr junge Leute, was für Namibia gut ist. Das könnte uns zu Gute kommen, aber es ist ein schmaler Grat.

taz: Glauben Sie, dass es einen Unterschied macht, dass Deutschland bald eine eher rechtsgerichtete Regierung hat?

Hijarunguru-Kuṱako: Manche sind der Meinung, das Abkommen in der jetzigen Form ist das Maximum, was wir erreichen konnten. Aber ob die politische Ausrichtung in Deutschland eher rechts oder links ist, hat keinen Einfluss auf unsere Haltung, das für uns Richtige voranzutreiben. In der Geschichte ist unbestritten, was zwischen 1904 und 1908 in Namibia geschehen ist. Die Position Deutschlands könnte sich auf die Geschwindigkeit auswirken, mit der wir vorankommen, aber es wird uns nicht im Geringsten aufhalten.

taz: Wenn das Abkommen in der jetzigen Form verabschiedet wird, was wären dann die nächsten Schritte?

Hijarunguru-Kuṱako: Das Abkommen wäre im Grunde genommen null und nichtig. Für Deutschland bedeutet dies, dass ein Vertrag mit einer Partei geschlossen wird, die nach der UN-Konvention über die Rechte indigener Völker rechtlich nicht zum Abschluss eines solchen Abkommens befugt ist. Das hätte rechtliche Folgen.

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19 Kommentare

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  • Nichts hindert Deutschland daran, das Richtige zu tun: Im ersten Schritt alle (!) kolonialen Verbrechen einzugestehen und dann mit Namibias Regierung über eine zwischenstaatliche Form der Wiedergutmachung zu verhandeln.



    Parallel dazu braucht es den zweiten Schritt, der darin besteht, den gezielten Völkermord an den Nama und Herero einzugestehen und mit den Nama und Herero darüber zu verhandeln, was man diesbezüglich unternehmen kann.



    Was Deutschland nicht leisten kann und sich auch nicht herausnehmen darf: Sich in die inneren politischen Vorgänge in Namibia einmischen. Es wird jedoch sicherlich Wege geben, die Nama und Herero dabei zu unterstützen, selbstbestimmt ihre kulturellen Traditionen zu dokumentieren und zu vermitteln, ebenso die Auswirkungen der Verbrechen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!



    Und selbstverständlich kann Deutschland versuchen, mit Namibia gute Geschäfte zu machen, von denen beide Seiten profitieren, ohne sich dabei wie der Elefant im Porzellanladen zu benehmen. Aber halt: Das wäre von Deutschen zu viel verlangt!

  • Die aktuellen Forderungen von Stammesvertretern der Herero und Nama liegen bei 2 BILLIONEN Euro (2000 Milliarden), oder 45% des jährlichen BIP.



    www.bbc.com/news/world-africa-57961151

    Was soll man dazu noch sagen..?

  • Mir wird im Interview nicht klar, was genau Deutschland zusätzlich beitragen oder veranlassen soll, um die sehr berechtigten Ansprüche zu befriedigen.

  • Diese Gräueltaten wurde von einem Reich begangen, das nicht mehr existiert. Sein Nachfolger (die Weimarer Republik) besteht auch nicht mehr. Nazideutschland auch nicht. Wir sind also 3 Staaten von diesen Taten entfernt. Nach der gleichen Logik könnte Hessen von Frankreich Reparationen für die Verbrechen von Napoleons Armee fordern.

    • @Sybille Bergi:

      Your argument conveniently ignores a fundamental principle of historical justice: accountability does not dissolve with time. The genocide against the Herero and Nama was not an abstract crime committed by some vanished empire—it was a deliberate act of extermination by the German state, the legal and historical predecessor of modern Germany. Successor states inherit not only the assets and privileges of their predecessors but also their responsibilities. This is why Germany continues to pay reparations for Nazi crimes and why corporations like Deutsche Bank and Deutsche Bahn still acknowledge their roles in past atrocities.

      Comparing our demand for justice to Hesse seeking reparations from France for Napoleonic wars is both ahistorical and misleading. The Herero and Nama Genocide was a systematic, state-sponsored attempt to exterminate entire peoples, with direct consequences that persist today, including land theft and economic marginalization. Moreover, Germany has directly benefited from the colonial wealth extracted from Namibia, while the descendants of the victims continue to suffer.

      If Germany is willing to acknowledge its role in other historical atrocities, why should o

    • @Sybille Bergi:

      Nach Napoleons Niederlage musste Frankreich hohe Reparationen zahlen.



      Außerdem hat Napoleon keinen Völkermord in Hessen begangen und der Großteil des hessischen Landbesitzes gehört nicht den Nachfahren französischer Soldaten.

      • @Jesus:

        Dann nehmen wir doch die Sowjets als Beispiel.

  • „Sie verhandeln über ein Volk, das nicht mit am Tisch sitzt“

    Traurig, dass diese Überschrift auf so viele Ereignisse in der Weltpolitik zutrifft.

  • "Die Position Deutschlands könnte sich auf die Geschwindigkeit auswirken, mit der wir vorankommen"

    Offiziell haben BuPrä und Außenpolitik die Anerkennung des Genozids bzw. Völkermordes kund getan. Bei einem anderen Genozid, bei dem Deutschland Mitwisser war, aber gewisse Anteilnahme durch Intellektuelle wie Stefan Zweig zeigte, gabs sogar ne Entschließung des Deutschen Bundestages, also unserer Volksvertreter und nicht bloß die des formellen Volksrepräsentanten vom Schloss Bellevue, um jenes Verbrechen offiziell als Völkermord zu brandmarken. Der ebenfalls v.a. als gewaltsame Vertreibung vorgenommene Völkermord an den Armeniern durch Vorfahren der Bevölkerung eines heutigen NATO-Mitgliedes und EU-Anwärters. Anlass war das 100jährige Gedenken an den Genozid.

    Warum beschloss der Bundestag nicht schon vorher, also 2008, den entsprechenden Völkermord an Herero und Nama in einer Entschließung als Völkermord anzuerkennen? Auch die anderen deutschen Exkolonien hatten großteils entsprechende genozidale Momente deutscher Kolonialherrschaft erlitten. Jeder dieser Genozide hätte der Anerkennung des dt. Bundestages bedurft. Soviel Ehrlichkeit hätte dem Armenienbeschluss erst Gewicht gegeben.

  • Es steht ausser Frage, dass Deutschland bei der namibischen Regierung stärker für eine direkte Beteiligung der Nachkommen der Opfer hätte werben müssen. Wenn sich diese aber nicht dazu bewegen lässt, kann Deutschland, unabhängig vom Willen der gegenwärtigen Bundesregierung, nichts dagegen tun. Namibia ist eine stabile, rechtstaatliche Demokratie noch dazu eine ehemalige Kolonie des Kaiserreichs, deren Souveränität über Land und Bevölkerung respektiert werden muss.

    Das es in Namibia keine Bemühungen um eine Landreform gab ist zudem falsch. Die Regierung hat im grösserem Mass Land von weissen Farmern, von denen die überwiegende Mehrheit nicht deutscher sondern südafrikanischer Abstammung ist, gekauft und umverteilt, leider vieles davon an Minister und deren Familien. Das Land welches an Landlose verteilt wurde, lag danach oft brach weil den Kleinbauern in spe die landwirtschaftliche Ausbildung fehlte um es nutzen zu können, weshalb es nicht viel brachte.

    Trotz aller Sympathie macht die Weigerung die erwartete Wiedergutmachung zu definieren misstrauisch. So könnten bis in fernste Zukunft immer neue Forderungen gestellt werden. Kein Land würde/sollte sowas zustimmen.

  • Diese Probleme beweisen, Reparationen sind der falsche Weg mit Gräultaten umzugehen, die solange zurück liegen, dass nicht nur keine direkten Täter und Opfer mehr leben, sondern auch deren direkte Folgenutznießer und Folgegeschädigte. Statt dessen muss Verantwortung über nachhaltigere Formen organisiert werden, als über einen Mechanismus der als einmaliger Ablass gedacht war.



    Denn wer legt fest, dass genau dieser Eine auch weiteren Generationen genügen wird, die nichts bekommen, aber dennoch Ansprüche erheben oder anbieten wollen? Mit Polen oder Griechenland ist ja auch das gleiche Problem: Geschlossene Abkommen werden negiert, weil Gezahltes längst verbraucht und politische Rahmenbedingungen vergangen sind. ´Ja aber das waren Abkommen mit Undemokraten´ wäre nur ein Argument, wenn die Abkommen absichtlich mit Diktaturen geschlossen wurden, um demokratische Ansprüche abzulehnen. Dass Vertreter der Opfer nicht mit verhandelten ist auch ein ambivalentes Argument, da selbst wenn sie dabei gewesen wären, wären Beschwerden legitim, dass Frauen oder die Nicht-Stammesnomenklatura unterrepräsentiert waren und wer legt ad aeternum fest, wer Anspruchsberechtigt ist?

    • @Euromeyer:

      "´Ja aber das waren Abkommen mit Undemokraten´ wäre nur ein Argument, wenn die Abkommen absichtlich mit Diktaturen geschlossen wurden, um demokratische Ansprüche abzulehnen." Reparationsabkommen wie die erwähnten mit Polen oder Griechenland wurde eben in der Zeit mit den real existierenden Regierungen geschlossen. Man kann mit solchen Verträgen schlecht warten, bis eine Regierung da ist, die jeweils allen am Tisch sitzenden Parteien genehm ist. Oder die Abkommen wieder und wieder neu verhandeln.



      Einige der im Interview angesprochenen Fragen betreffen die aktuelle namibische Regierung und deren Staatsbürger. Wer worüber verhandeln darf, müssen sie selbst regeln. Ditschl könnte gar nicht über den Kopf der Regierung hinweg direkt mit den Nachkommen der Betroffenen eine völkerrechtlich verbindliche Vereinbarung treffen, ohne sich in irgendeiner Form den Vorwurf des Neokolonialismus einzuhandeln.



      Die zweite grundsätzlichere Frage wäre, wie lange zurück solche Forderungen erhoben werden können oder sollten. Wir sprechen hier von 120 Jahren oder 4-5 Generationen. Und: Es ist ja jetzt nicht so, als hätte Dt. sich gänzlich vor allem aus der finanziellen Verantwortung herausgezogen.

      • @Vigoleis:

        Reparationen machen nur zwischen Tätern und Opfern Sinn, sie sind ja ein einmaliger Ablass und somit kein Instrument um in jeder Generation auftauchende Folgetraumata zu kompensieren. Bekommt der Askarinachkomme keinen Cent, weil Kollaborantenenkel? Wird es sein wie hier, wo es drauf ankommt, ob ein Naziopfer nur sein Leben oder auch Eigentum verlor, Entschädigungen also vom sozialen Status abhängen können? Ich denke, dass jede Generation darauf für sich Antworten finden muss, weswegen Reparationen als Schlussstrichaktion nie funktionieren können.



        Eine Festlegung ob Ansprüche nur eine bestimmte Zeit geltend gemacht werden sollen hat damit erst mal nichts zu tun, wäre aber sinnvoll, wenn auch Schulden etc z.B. nach 99 Jahren verfallen, denn in anderen Bereichen wurde das Recht der Toten Hand längst überwunden.

  • Ich wundere mich bei solchem Forderungen immer über die Einigkeit zwischen Herero und Nama. Die Herero waren erst wenige Jahre bevor die Deutschen kamen mit Gewalt aus dem Norden in die Ländereien der Nama eingefallen, und haben die Bewohner flächendeckend vertrieben oder massakriert. Die Zahl der Nama-Opfer dieses Feldzugs wird auch von seriösen Wissenschaftlern als deutlich höher als durch die deutschen Kolonialisten eingeschätzt. Wie wird das in Namibia historisch verarbeitet?

    • @TheBox:

      Es wird nicht erwähnt, weil es kein Geld gibt.



      Die Opfer von Stammeskriegen, Gruppenkonflikten, religiösem Wahn, aber auch die Versklavung durch andere Afrikaner, sind kein Thema.



      Nicht in Afrika und nicht hier.

      • @Octarine:

        Das ist zwar ziemlich zynisch, aber nicht ganz von der Hand zu weisen. Namibia wurde bekanntermassen deutlich länger durch Südafrika kontrolliert als durch das deutsche Kaiserreich, was auch der Grund dafür ist, dass sich die Mehrheit des von den beiden Gruppen geforderten Landes im Besitz von Buren/Afrikaanern befindet. Wenn es um die Forderung geht, dass das moderne Deutschland Farmland zurückkaufen und abgeben muss ist deswegen auch von "weissen Farmern" die Rede statt von "deutschen Farmern".

        Es wird zumindest implizit erwartet, dass Deutschland Land von weissen Südafrikanern kauft, um es den Herero und Nama zu geben. Land, welches diese Farmer in der Regel lange nach Ende der deutschen Kolonialzeit gekauft haben. Dafür wurde oft Land deutschstämmiger Farmer beschlagnahmt und an Buren übertragen bzw. verkauft/verpachtet.

        Warum Deutschland zahlen soll? Weil Südafrika jede Kontinuität und damit Verantwortung für die Taten der Apartheidzeit von sich weist. Das kann man zwar nachvollziehen, muss sich dann aber die Frage gefallen lassen, weshalb die moderne Bundesrepublik für die Taten des Kaiserreichs (finanziell) verantwortlich gemacht werden kann.

        Ein pikantes Thema.

        • @Claudio M.:

          So pikant ist das Thema nicht. Es gibt so etwas wie eine Rechtsnachfolge auch international. Die "moderne Bundesrepublik" ist die Rechtsnachfolgerin von Nazideutschland, Weimarer Republik, Kaiserreich. Und nimmt daher auch die Rechte und Pflichten wahr.



          Es scheint offenbar hingenommen zu werden, dass andere Regierungen eine derartige Rechtsnachfolge ablehnen, auch wenn sie sie, wie die aktuelle südafrikanische Regierung, de facto haben. Rechtsfreier Raum?



          Pikant wird es in und für Deutschland, weil sich die wechselnden Bundesregierungen mal mehr, mal weniger auf diese Diskussion einlassen (bzw. sich die Regeln dafür aus historischen Gründen vorgeben lassen) und dann eben solche bizarren Konstrukte wie das oben beschriebene entstehen.

          • @Vigoleis:

            Genau das ist ja der Knackpunkt an dieser (und eigentlich den meisten postkolonialen Debatten die mir bekannt sind). Man kann sich nicht einmal auf grundlegende Konzepte und ihre Definitionen wie "Rechtsnachfolge" oder "Wiedergutmachung" einigen. Meistens heisst es, auch im postkolonialen akademischen Diskurs, diese Konzepte und ihre Definitionen seien "westlich" geprägt und den Betroffenen aufgezwungen worden, was natürlich auch stimmt. Leider führt diese Haltung auch Verhandlungen auf der Basis dieser Konzepte ad absurdum. Wie will man sich auf Wiedergutmachung einigen, wenn die eine Seite nicht mal sagen will oder kann, was genau sie sich darunter vorstellt? Oder wenn sie sich seit Jahrzehnten darüber streitet wer überhaupt mit wem über was verhandeln soll?

          • @Vigoleis:

            Ich verweise auf einen Kommentar von Henry Broder, der auch nach Erklärungen für dieses seltsame Verhalten sucht:

            "Der Schriftsteller Wolfgang Pohrt hat das geniale Wort vom »Täter als Bewährungshelfer« in Umlauf gebracht, der darauf achtet, daß »seine Opfer nicht rückfällig« werden. Der Philosoph Hermann Lübbe spricht vom »Sündenstolz der Deutschen«, die zu ihren Untaten stehen wie andere zu sportlichen Leistungen."

            www.spiegel.de/pol...-0000-000009221663