Massenprotest in Belgrad: Party der Demokratie
In Serbien demonstrieren so viele Menschen wie nie zuvor gegen das Regime von Präsident Vučić. Der versucht alles, um sie zu diskreditieren.

Dass man einem historischen Ereignis beiwohnte, konnte man schon am frühen Nachmittag merken: Das Zentrum Belgrads war so vollgestopft mit Demonstranten, dass Menschen aus Neubelgrad Stunden brauchten, um die 450 Meter lange Brücke über die Save zu überqueren. Und immer noch zogen kilometerlange Autokolonnen aus dem ganzen Land in die serbische Hauptstadt.
Was dort am Samstag stattfand, war die größte Kundgebung in der Geschichte Serbiens. Die unabhängige Organisation Archiv der öffentlichen Veranstaltungen sprach von 275.000 bis 325.000 Menschen. Das Innenministerium setzte die Zahl auf 107.000 herab.
Und das, obwohl gleichgeschaltete Medien tagelang versuchten Panik zu schüren, heimtückische Pläne ausländischer Geheimdienste, insbesondere des BND, „aufdeckten“, den freiheitsliebenden Staatspräsidenten Aleksandar Vučić, der unermüdlich für das Wohlergehen der Serben kämpfe, mit Gewalt zu entmachten. Vergebens.
Sergej Trifunović, Schauspieler
Alle Fernsehsender mit nationaler Reichweite, alle Radiosender, die meisten Zeitungen stehen unter der Kontrolle der herrschenden Serbischen Fortschrittspartei und werden aus der Staatskasse finanziert. Sie sind viel mehr Sprachrohre des Regimes, als Medien und schaffen eine parallele Realität. Synchronisiert ziehen sie Hetzkampagnen gegen Andersdenkende durch und sorgen dafür, dass der Personenkult des Staatspräsidenten aufrecht erhalten wird.
Es war der bisherige Höhepunkt der monatelangen Bürgerproteste, deren treibender Motor Studenten sind. Sie blockieren alle serbischen Universitäten, organisieren täglich im ganzen Land Proteste, ziehen zu Fuß durch ganz Serbien, hunderte Kilometer, um apathische Bürger aufzurütteln, die dem toxischen Einfluss der gleichgeschalteten Medien ausgesetzt sind.
Erinnerung an Anti-Milošević-Demos
Ihre Botschaft ist einfach: Wir wollen Rechtsstaat. Lachend, voller Elan und unermüdlich bestellen sie: Serbien sei eine durch und durch korrupte Autokratie, der Autokrat habe den Bürgern alle staatlichen Institutionen geraubt, damit sich die Clique, die die Macht usurpiert hat, bereichern könne. Und obwohl sie Polizei, Geheimdienste und Staatsanwaltschaft missbrauchen, sollen die Menschen keine Angst haben.
Und viele folgen ihnen. Es gibt mittlerweile kein Kaff in Serbien, in dem nicht gegen das Regime von Staatspräsident Aleksandar Vučić demonstriert wird.
Der Auslöser dieser Protestwelle war der Einsturz des Vordachs des gerade rekonstruierten Bahnhofs in Novi Sad am 1. November 2024, bei dem 15 Menschen starben. Vertreter des Regimes sprechen vom „Unglücksfall“, Kritiker vom „Mord“, denn die Schuld für die Tragödie sehen sie in dem korrupten Bauwesen.
Ältere und nicht so junge Serben verglichen die gewaltige Kundgebung am Samstag mit der Massendemonstration in Belgrad am 5. Oktober 2000, als wütende Menschen den damaligen Herrscher Serbiens Slobodan Milošević zum Rücktritt zwangen. Man sprach damals von „demokratischer Wende“. Und es gibt entscheidende Unterschiede, nicht nur, weil die Demo gestern bedeutend größer war.
EU: Hauptsache stabil
Damals stand der Westen hinter den serbischen Demonstranten, es waren proeuropäische Proteste. Heute unterstützen westliche Staaten den serbischen Autokraten und betrachten die Demonstranten, revoltierende serbische Studenten, eigentlich als ein Dorn im Auge der regionalen Stabilität.
Deshalb ist auch die EU, der europäische Integrationsprozess, denn Serbien hat formal den Status eines Beitrittskandidaten, überhaupt kein Thema bei den heutigen Demos. Junge Serben fühlen sich von der EU in Stich gelassen. Die EU ist mit sich selbst, Russland, dem Nahen Osten und Donald Trump beschäftigt. Was den Westbalkan angeht, also auch Serbien, ist man in Brüssel froh, wenn die Sicherheitslage stabil bleibt, bei demokratischen Schönheitsfehlern, wie zum Beispiel bei Wahlfälschung in der serbischen Scheindemokratie, drückt man da gern auch beide Augen zu.
Vor 25 Jahren fand ein Aufstand gegen das Regime statt, Demonstranten waren kampfbereit, entschlossen bis zum bitteren Ende zu gehen. Und heute? Der bekannte serbische Schauspieler Sergej Trifunović erklärte da so: „Das ist ein Fest, ein Fest der Menschen, die ein besseres Leben wollen. Mir persönlich gefällt das besser, denn das hier ist keine Revolution, es ist eine Evolution“.
Nach der „Revolution“ vor einem Vierteljahrhundert bekamen die Serben vielleicht einen Staat, doch sie bekamen keine Gesellschaft, sagt der Schauspieler. Und heute wohnten wir einer gesellschaftlichen Evolution bei, die letztendlich zu einer Revolution führen würde.
Auch Promis unter den Unterstützern
Oppositionelle politische Parteien haben bei dem aktuellen Volksaufruhr gar keine Bedeutung. Studenten halten dezidiert Distanz zu ihnen. Verzankt, unter enormen Druck des Regimes, waren Oppositionsparteien über ein Jahrzehnt nicht in der Lage, das autokratische Regime ernsthaft zu bedrohen.
Neben Professoren, Lehrern, Anwälten, Arbeitern, Künstlern stellten sich auch serbische Sportler hinter die Studenten, wie die legendären Basketballspieler Vlade Divac, Dejan Bodiroga und Aleksandar Djordjević, der jetziger Superstar Bogdan Bogdanović, Fußballer Nemanja Vudić, oder der beste Tennisspieler aller Zeiten Novak Djoković.
Aber all das ließ das serbische Staatsoberhaupt kalt. Samstagnacht wendete sich Vučić an das Volk, wie er das fast jeden Tag tut, manchmal auch mehrmals. Er verbreitete wie üblich Lügen über Auslandssöldner und finstere Machtzentren, die Serbien ruinieren wollten, lobte die Sicherheitskräfte, aber auch die Studenten, die für Ordnung sorgten.
Würde die Polizei ihm folgen?
Seine Botschaft: Ich lasse euch friedlich marschieren und demonstrieren so lange ihr wollt, ihr könnt Fakultäten, Grund- und Mittelschulen, Straßen, Brücken und Autobahnen blockieren, Anwaltskammern können gegen mich streiken, aber ich denke nicht daran zurückzutreten. Seine Wut kann er dabei kaum mehr unterdrücken, aber er weiß: Wenn er Sondereinheiten der Polizei den Befehl erteilt, gegen das Volk vorzugehen, wie sein weißrussischer Freund Alexander Lukaschenko, gibt es kein Zurück mehr.
Außerdem kann er sich nicht sicher sein, dass sie ihm gehorchen würden. Unmittelbar vor der großen Kundgebung in Belgrad sagte ein Oberst der Belgrader Polizei, der anonym bleiben wollte, dem Magazin Vreme, er würde seine Einheiten nicht auf die Demonstranten schicken, denn auch seine Kinder würden dabei sein.
Und diese „Kinder“ scheinen unermüdlich zu sein in ihrem Kampf für ein „besseres, demokratisches Serbien“, in dem alle gleich sind vor dem Gesetz.
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