Reyhan Şahin über Deutschrap: „Ich habe feministische Pionierarbeit geleistet“
Reyhan Şahin wurde als Rapperin Lady Bitch Ray berühmt. Derzeit arbeitet die Linguistin an ihrer Habilitation und kritisiert Macho-Professoren.

taz: Frau Şahin, wie sind Sie Pionierin im progressiven Deutschrap geworden?
Reyhan Şahin: 1994 habe ich mit Musik angefangen, 2006 wurde ich damit über Nacht berühmt – und zwar nicht nur mit meiner Musik, sondern auch durch meine künstlerischen Auftritte mit politisch-feministischen Inhalten. Ich bin die erste Rapperin Deutschlands gewesen, die den Begriff „Bitch“ positiv umgedeutet und mit sexpositiver Absicht in den Deutschrap eingeführt hat. Damals kannte ich Aktivismus oder politische Konzeptkunst nicht. Ich habe es einfach aus meiner Identität heraus gemacht. Mir waren zwar die politischen, feministischen, antirassistischen Absichten wichtig, aber ich konnte es nicht benennen. Auch Provokation hat bei meiner Ausdrucksform eine Rolle gespielt. Aber die Reaktionen haben mir gezeigt: Das hat nicht nur irritiert, sondern richtig Hass ausgelöst. Totale Polarisierung.
taz: Inwiefern haben Ihre Identität und Herkunft eine Rolle gespielt?
Şahin: Ich komme aus einem alevitisch-muslimischen Elternhaus und bin Arbeiterkind. Als ich als Lady Bitch Ray berühmt wurde, wurde das mehr thematisiert als meine Musik. Mir wurde auch meine Kompetenz abgesprochen. Es wurde immer gefragt: „Wie kann denn so eine Porno-Rapperin eine Doktorarbeit schreiben?“ Damals wusste ich nicht, was Intersektionalität, also der gesamte Bereich der Mehrfach-Diskriminierung und Überkreuzung von Diskriminierungsformen, bedeutet. Aber genau das wurde in der Rezeption von Lady Bitch Ray deutlich.
1980 in Bremen geboren, dort Studium und Promotion, Forschungen zu Rassismus, Rechtspopulismus Gender und Religion – nach, aber auch schon während ihrer Karriere als Rapperin „Lady Bitch Ray“ und seit 2018 im Rahmen einer Habilitation an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
taz: Was bedeutet Ihnen Rap?
Şahin: Rap war für mich nicht nur eine sprachliche, sondern eine ganzheitliche Ausdrucksform. Ich spreche auch gern vom Rap als Gesamtkunstwerk. Es ist eine Möglichkeit, sich nicht nur sprachlich, sondern auch visuell auszudrücken. Visuell vom Erscheinungsbild über den Ausdruck durch Kleidung bis zur ganzen Performance, Habitus, Gestus und politischen Content. Das ist das Besondere an Rap.
taz: Sie sind 2008 ausgestiegen. Wie empfinden Sie Ihre Rolle als Lady Bitch Ray rückblickend?
Şahin: Ich empfand das ziemlich einengend und stigmatisierend. Ich fühlte mich missverstanden, obwohl es bereits Schwarz-amerikanische Frauen in der Rap-Bewegung gab, die sexualisierten und sexpositiven Rap gemacht haben. Auch wenn diese Sachen für mich eindeutig waren, hat die deutsche Gesellschaft das nicht kapiert. Es mag im Nachhinein absurd klingen, aber es ging so weit, dass ich 2008 mit meiner Kunst aufhören musste, weil sowohl meine Karriere an der Uni als auch meine Existenz gefährdet waren. Ich habe mich sehr ausgegrenzt, noch mehr marginalisiert gefühlt. Ich kam mir vor wie ein Alien.
taz: Hatten Sie den Eindruck, dass Sie dem gesellschaftlichen Diskurs voraus waren?
Şahin: Das mag arrogant klingen, aber mir wurde schon oft gesagt, dass ich meiner Zeit voraus war. Bis heute muss ich selbst auf mein Alleinstellungsmerkmal und die feministische Pionierarbeit, die ich für Rap geleistet habe, hinweisen. Sogar das würde man mir sonst absprechen – wie so oft bei marginalisierten Frauen of Color, die aus benachteiligten Verhältnissen kommen.
taz: Wie schätzen Sie den Fortschritt feministischer Diskurse ein?
Şahin: Zu Beginn meiner Karriere fühlte ich mich ziemlich alleine. Es gab allenfalls einige wenige Queerfeministinnen, aber die kamen nur in akademischen Nischen vor. Später, als die #MeToo-Bewegung kam und Feminismus „in“ wurde, habe ich mich einerseits gefreut. Andererseits denke ich, das kam alles zu spät. Zumal sexualisierte Gewalt gegen Frauen zwar sichtbarer wurde, aber nicht weniger.
taz: Sind diese progressiven Themen heute im Deutschrap angekommen?
Şahin: Die Rap-Szene spiegelt den Status quo der Gesellschaft wider. Gesellschaftlich und medial sind diese Themen zwar präsenter, aber es gibt in der Rap-Szene anti-progressive, anti-feministische, rassistische und chauvinistisch geprägte Haltungen. Queerfeministische oder antirassistische Bewegungen sind heutzutage zwar medial sehr verbreitet, aber auch kommerzialisiert. Auch im Deutschrap haben sich feministische Inhalte kommerzialisiert und wurden von einigen Männern vereinnahmt. Das ist immer das Problem bei der Anerkennung sozialer Bewegungen, die von unten kommen. Es gibt immer eine Parallelentwicklung und eine Gefahr, dass die Inhalte verblassen.
taz: Ist Rap überhaupt die richtige Ausdrucksform für gesellschaftspolitische Diskurse?
Şahin: Ich finde ja, weil die Entstehung des Rap Anfang der 1970er in den USA, in New York, in der Bronx, von Schwarzen Menschen und Hispanics neben dem kreativen und künstlerischen auch einen politischen Anspruch hatte. Es ist eine Bewegung, die zum Beispiel die Lebensbedingungen der Schwarzen Menschen in den USA in den Ghettos sichtbar gemacht hat. Deshalb sollte für mich Rap immer einen progressiven, antirassistischen, queerfeministischen Anspruch haben. Im Kern ist Rap genau das richtige Ventil, um gesellschaftspolitische Missstände anzuprangern.
taz: Sie arbeiten seit 2012 vor allem als Autorin und Forscherin. Ähneln Rap- und akademische Wissenschafts-Szene einander?
Şahin: Ja, ich arbeite gerade an meiner Habilitation zu den Zusammenhängen von Rechtspopulismus, Rassismus, Islam und Gender. Und wenn ich die elitäre, männlich dominierte und teilweise rassistische Wissenschaftsbranche mit Deutschrap vergleiche, ist Deutschrap ein Kindergeburtstag. Im Rap kann man sich ungefiltert ausdrücken. In der Wissenschaft wird man aussortiert, wenn man sich so direkt äußert. In meinem Buch „Yalla, Feminismus!“ vergleiche ich männliche Rapper, die sich mit Gangster-Gestus, fetten Karren und ihren „Bitches“ präsentieren, mit Professoren. Auch die zeigen sich oft breitbeinig mit ihren Smartphones und Laptops und behandeln Frauen genauso schlecht wie manche Rapper.
taz: Was muss sich in der Rap-Szene ändern?
Şahin: In den letzten 20 Jahren wurden im Deutschrap mehr Frauen, mehr Women of Color, mehr queere Personen oder marginalisierte Menschen sichtbar – eine positive Entwicklung. Deutschrap ist durch und durch migrantisiert und hat Antirassismus schon immer thematisiert. Trotzdem wünsche ich mir, dass Patriarchatskritik, realer Feminismus, Queerfeminismus, echte Rassismuskritik, Sexismus sowie sexualisierte Gewalt nicht mehr patriachalisch vereinnahmt werden.
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