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Das Recht in Trümmern

Russland und Trump glauben nicht mehr an die internationalen Organisationen. Tut es überhaupt noch jemand? In Nürnberg fand an historischem Ort ein Kongress über das Völkerrecht in dunklen Zeiten statt

Wird jemals über die russischen Kriegsverbrechen gerichtet werden? Die zerbrochene Scheibe eines Busses mit einem Zeichen des Roten Kreuzes, 10. April 2022 in Butscha Foto: Johanna-Maria Fritz/Ostkreuz

Von Yelizaveta Landenberger

Ungewissheit und das Gefühl, dass eine neue, schwierige Zeit anbricht, liegen in der Luft. Das ist der Hintergrund des zweitägigen Kongresses „Lebendige Menschlichkeit“ der Bundeszentrale für politische Bildung, der am 18. und 19. Februar im Saal 600 des Justizpalastes Nürnberg stattfand. Ex­per­t:in­nen diskutierten über Kriegsverbrechen, universelle Rechte und die Zukunft der Gerichtsbarkeit mit Schwerpunkt auf dem Krieg in der Ukraine, während die alte Weltordnung wegzubrechen scheint.

Der Saal 600 ist ein historischer Veranstaltungsort. Hier fanden nach dem Zweiten Weltkrieg die Nürnberger Prozesse statt, die ein Meilenstein für das Völkerrecht waren. Nach den Schrecken des Krieges und des Holocausts herrschte in der internationalen Gemeinschaft Einigkeit darüber, dass die Drahtzieher dieser schrecklichen Verbrechen unbedingt zur Rechenschaft gezogen werden müssen.

Und nun, acht Jahrzehnte später, möchte Trump mit Putin, gegen den der Internationale Strafgerichtshof vor zwei Jahren wegen Kriegsverbrechen einen Haftbefehl erlassen hat, wieder einen „Deal“ machen, redet ihm nach dem Mund und verbreitet fiese Lügen über die Ukraine. Das Recht des Stärkeren scheint statt der Gerechtigkeit, die internationale Institutionen des Völkerrechts weltweit garantieren sollen, wieder zu herrschen. Sind die Ideale der Menschlichkeit passé? Während der drei Jahre Großinvasion und elf Jahre Krieg in der Ukraine haben die russischen Truppen unzählige Kriegsverbrechen begangen – und begehen sie nach wie vor. Wann werden die Betroffenen Gerechtigkeit erfahren?

Patrick Desbois, katholischer Priester und Präsident der Organisation „Yahad – In Unum“, die sich der Erforschung von Genoziden widmet, berichtet in seiner Keynote-Rede von seiner Feldforschung zum Holocaust, zum Genozid an den Jesiden durch den IS, zum Krieg in der Ukraine. Genozid, folgert er, sei nicht an die Nationalität der Täter gebunden, es sei eine „menschliche Krankheit“. Man müsse den Opfern unbedingt helfen, die Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen, aber die Bilanz sei oft nicht zufriedenstellend. So seien bei über 30.000 beim Massaker von Babyn Jar in Kyjiw getöteten Jü­d:in­nen 2.000 Täter beteiligt gewesen, sagt Desbois, aber nur einige wenige Schlüsselfiguren für die Verbrechen tatsächlich verurteilt worden.

Angelika Nußberger, Professorin für Staatsrecht, Völkerrecht und Rechtsvergleichung an der Universität zu Köln und ehemalige Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, merkt an, nach dem Kalten Krieg habe es einen allgemeinen Konsens über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gegeben. Es habe selbst für autoritäre Staaten zum guten Ton gehört, sich an den Institutionen des Völkerrechts zu beteiligen. So urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte etwa, dass Russland im Zweiten Tschetschenienkrieg das Recht auf Leben verletzt habe. Russland erkannte das an und zahlte – „­Russia ­always pays“, habe man in Straßburg gesagt. Diese Zeiten seien vorbei, so Nußberger. Die Geschichte habe uns nicht den Gefallen getan, vorbei zu sein, so wie der Philosoph ­Francis Fukuyama es ihr attestierte, sie beschleunige sich vielmehr: „Kants ewiger Friede ist in weite Ferne gerückt.“

Brandaktuell wirken die Worte Hannah Arendts aus ihrer Lessingpreis-Rede, von denen der Titel des Kongresses inspiriert ist: „Man könnte wohl sagen, dass die lebendige Menschlichkeit eines Menschen in dem Maße abnimmt, in dem er auf das Denken verzichtet.“ Die Stützen der öffentlichen Ordnung liegen auch in diesen neuen finsteren Zeiten wieder in Trümmern. Die Diagnose, die immer wieder durch die Worte der Red­ne­r:in­nen des Kongresses durchschimmert, ist so trivial wie wichtig: An das Völkerrecht und die internationalen Institutionen muss geglaubt werden, ihre Entscheidungen müssen anerkannt werden, sonst verlieren sie ihre Wirksamkeit. Vollkommene Gerechtigkeit gab es freilich nie – aber doch zumindest den Wunsch, in Richtung dieses Ideals zu streben.

In der anschließenden Diskussion bemerkt Nußberger, dass autoritäre Ak­teu­r:in­nen Menschenrechte nicht einfach negieren, sondern ideologisch umkehren. Das zeige sich an Putins Reden, aber auch bei J. D. Vance. Dass Menschenrechte von allen verschieden verstanden und zum Kampfbegriff werden, halte sie für eine schockierende Entwicklung.

Der zweite Tag des Kongresses fand ebenfalls in einem historischen Gebäude statt, im Alten Rathaus von Nürnberg. Der ukrainische Menschenrechtler, Journalist und ehemalige Kriegsgefangene Maksym Butkevych berichtete während des ersten von vielen anregenden Panels an diesem Tag von seinen Erfahrungen: „Die Genfer Konvention fand bei uns keine Anwendung.“ Er wies darauf hin, dass ukrainische Kriegsgefangene immer wieder hingerichtet werden, die Verbrechen von den russischen Soldaten selbst mit Videos dokumentiert werden. Seine Zeit in Kriegsgefangenschaft sei wie „zwei Jahre und vier Monate der Menschenrechts-Feldforschung“ gewesen. In der Haft habe er auch die verheerende Wirkung der Propaganda verstanden, der Fernseher in seiner Zelle lief rund um die Uhr. Er wünschte sich, dass insbesondere die Propagandisten, ohne die dieser Krieg nicht möglich wäre, bestraft werden.

Das wird nicht einfach in einer Zeit, in der selbst der US-Präsident russische Propaganda verbreitet.

Magda Koole, Richterin am Berufungsgericht in Den Haag, ist Realistin: „Gerechtigkeit kommt oft spät, und Gerechtigkeit hat auch ihre Grenzen.“ Sie benannte die vier Möglichkeiten, die Ukrai­ne­r:in­nen haben, um Gerechtigkeit zu erfahren. Erstens das Justizsystem der Ukraine. Zweitens der Internationale Strafgerichtshof, der den Haftbefehl gegen Putin erlassen hat – was von großem symbolischen Wert sei. Drittens das System der universellen Gerichtsbarkeit, wenn unbeteiligte Länder wie Deutschland über die Verbrechen richten. Und viertens die Einrichtung eines Tribunals.

Menschenrechte werden zum Kampfbegriff. Das ist schockierend

Dass auch zusätzliche „zivilgesellschaftliche“ Strategien existieren, davon berichtete der Schriftsteller und Journalist Stanislaw Assjejew, der nach Beginn der russischen Aggression im Osten der Ukraine 2014 in Donezk blieb und das Geschehen dokumentierte. Er landete im berüchtigten Foltergefängnis Isoljazija, in einem ehemaligen Kunstzentrum. Seine Erfahrungen verarbeitete er zunächst literarisch. Jetzt zahlt der von ihm gegründete Justice Initiative Fund Belohnungen für Hinweise über russische Kriegsverbrecher aus, darunter über diejenigen, die ihn persönlich folterten. Vorbild sei für ihn die Strategie Israels, das nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit Nationalsozialisten jagte – wenngleich es gegenwärtig keine Möglichkeiten gebe, die Verbrecher in die Ukraine zu bringen. Aber ihr Tod an der Front sei für ihn „auch eine Form der Gerechtigkeit“.

Die in Wien lebende Publizistin Maynat Kurbanova berichtete von den Schrecken der Tschetschenienkriege, die sie selbst erleben musste. Schon damals zerbombte die russische Armee Krankenhäuser, unzählige Zi­vi­list:in­nen starben, aber keiner habe den Tsche­tschen:in­nen zugehört.

Den Epilog zur Veranstaltung hielt Omri Boehm, Professor für Philosophie an der New School for Social ­Research in New York. Es gelte, die Logik des totalen Krieges zu verhindern. Jeder Mensch verdiene Schutz – auch Palästinenser:innen. Doch die aktuellen Ereignisse in Israel und in der Ukraine ließen Zweifel aufkommen, „ob wir das Ideal des ewigen Friedens ernst nehmen“.

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