: ScholzhofftaufeinComeback
Noch-Kanzler Olaf Scholz ist kein Visionär. Im Wahlkampf wirkt er gewohnt spröde. Kann er den Tabubruch von Friedrich Merz für sich nutzen?
Von Anna Lehmann undStefan Reinecke
Mit Fußball hat es der Gast sonst nicht so. Umso mehr freut sich der Präsident des 1. FFC Turbine Potsdam, dass Olaf Scholz an diesem eisigen 3. Januar ins Potsdamer Stadion am Luftschiffhafen zum Training gekommen ist. „Gefühlt stehen wir Seite an Seite, also ein bisschen im Keller“, sagt Präsident Karsten Ritter-Lang. Turbine Potsdam liegt abgeschlagen auf dem letzten Tabellenplatz in der Oberliga der Frauen. Früher waren die Kickerinnen aus Potsdam mal ein Spitzenteam. „Das hat ja Symbolcharakter“, sagt Ritter-Lang fröhlich.
Olaf Scholz ist an diesem ersten Freitag im neuen Jahr in seinem Wahlkreis Potsdam unterwegs. Das politische Berlin ist noch in der Weihnachtspause, Scholz’ Wahlkreistour ist sein Aufwärmtraining für den Bundestagswahlkampf. Nur wenn die SPD am 23. Februar auf Platz eins landet, bleibt Scholz Politiker. Gewinnt Scholz, ist Friedrich Merz weg; gewinnt Merz, geht Scholz in Rente.
Der Beinahe-Rentner, die Hände in den Manteltaschen vergraben, kneift nach der Begrüßung die Augen zusammen und verzieht die Mundwinkel. Es könnte ein Lächeln sein. Es sind noch 51 Tage bis zur Wahl. Die SPD liegt Anfang Januar in Umfragen weit hinter der CDU/CSU, im Kanzlerranking wetteifert Scholz mit Alice Weidel um Platz vier.
Die Fußballerinnen, die im Halbkreis vor ihm stehen, trappeln mit den Füßen auf dem gefrorenen Rasen, um sich warm zu halten. „Und ist die Spielfreude da?“, fragt Scholz in die Runde. „Wollen Sie gewinnen?“ Die Frauen nicken. „Klar! Und bei Ihnen?“ – „Auch beides“, sagt Scholz und nimmt die Hände aus den Taschen. Kämpfen und gewinnen wollen, das motiviere ihn.
Wie 2021. Vor drei Jahren stand die SPD zwei Monate vor der Bundestagswahl auch bei nur 16 Prozent. Dann lachte Unionskanzlerkandidat Armin Laschet am falschen Ort zur falschen Zeit. Die SPD gewann die Wahl. Jetzt paktiert Unionskandidat Friedrich Merz mit der falschen Partei. Ist das die Wende im Wahlkampf?
Die Vorzeichen für eine Wiederholung des Wunders von 2021 sind schlechter. Die SPD kommt abgekämpft aus der Ampelkoalition. Scholz’ Image als unauffälliger, aber effektiver Macher ist ramponiert. Das Ende der Regierung hat ihn getroffen. Danach hat die SPD gezögert, ihn wieder zum Spitzenkandidaten zu machen. Manche hätten den populäreren Verteidigungsminister Boris Pistorius vorgezogen. All das hat Scholz Kraft gekostet, heißt es aus seinem Umfeld. Er, der stählern Selbstbewusste, hat nach dem Ampel-Aus an sich gezweifelt.
Der gewiefte Machtpolitiker hat untypische Fehler gemacht. Bei der Frage, wann gewählt werden soll, hätte sich Scholz mit der Opposition auf einen gemeinsamen Termin einigen können. Doch er hat sich über- und den Gegner unterschätzt. Das Ergebnis: Er wirkte wie jemand, der aus Eigennutz einen späten Termin wollte – und scheiterte. Den 23. Februar handelten SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich und Merz aus. Noch ein Kratzer in der Politur des Machers.
Im Januar scheint Scholz vor allem gegen sein eigenes Bild in der Öffentlichkeit anzukämpfen – dröge, unnahbar, arrogant. Er absolviert einen Wahlkampfauftritt nach dem andern – Bielefeld, Lünen, Münster, Chemnitz, Halle, Wolfsburg, Lübeck, Schwalbach, Frankfurt, Erfurt – doch diese Auftritte sind wie Schattenboxen. Sein Hauptgegner Friedrich Merz bleibt weitgehend unsichtbar. Bis zum 23. Januar. Da wirft Merz die bisherige Wahlkampfstrategie der Union über den Haufen, stellt seine Pläne zur Begrenzung der Migration vor, mit Grenzschließungen und Einreiseverboten für fast alle Asylbewerber, und kündigt an: „Kompromisse sind zu diesem Thema nicht mehr möglich.“ Ihm sei gleichgültig, wer diesen Weg mitgehe. Einen Tag zuvor hatte ein psychisch kranker Mann aus Afghanistan in Aschaffenburg auf bestialische Weise eine Kitagruppe angegriffen.
Merz will eine Wende in der Flüchtlingspolitik und setzt SPD und Grüne unter Druck. Doch eingeladen fühlt sich vor allem die AfD. Am 29. Januar verhelfen die Rechtsextremen dem Unionsantrag zur Mehrheit. Die AfD-Fraktion feiert, die Unionsabgeordneten sind wie eingefroren.
Scholz nennt Merz im Bundestag zuvor einen Zocker. Er beschimpft ihn als Populisten, als einen, der europäisches Recht breche, einen, dem man die Führung eines Landes nicht anvertrauen könne. Dass Scholz nicht viel von Merz hält, war schon immer klar. Selten hat er seine Verachtung für seinen Herausforderer so deutlich gezeigt.
Scholz hält sich sowieso für den am besten geeigneten Kanzler. Besonnen und rational. Seine Maxime: Immer das Heft des Handelns in der Hand behalten. „Scholz will immer kontrollieren“, sagt Gesine Schwan, Politikwissenschaftlerin und Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission. „Er kann nicht sagen: ‚Lasst es mal laufen.‘ Sein Verständnis von Verantwortung ist, auf Nummer sicher zu gehen und genau zu kalkulieren, wie wir es machen.“
Schwan, die Scholz lange kennt, meint das nicht nur positiv. Also habe Scholz auch jede Diskussion in der SPD über den richtigen Kurs erstickt. „Er wollte keine diskutierende Partei, das war ihm zu viel Risiko. Er hat wenig Vertrauen in das Verantwortungsbewusstsein anderer Sozialdemokraten.“ Doch zu diskutieren sei eine Menge, gerade nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, mit dem Erstarken der AfD. Wie buchstabiert man Solidarität, Freiheit, Gerechtigkeit aus in einer Welt, in der die Trumps, Putins und Xis den Ton angeben? Für wen macht man Politik?
Die SPD hat den Mindestlohn auf 12 Euro erhöht. Doch das reicht wegen der Inflation kaum zum Leben. Das Bürgergeld, das die Hartz-IV-Wunde heilen sollte, ist auch in der eigenen Wählerklientel umstritten. Und bei der Migration, dem Wahlkampfthema derzeit, ist die SPD-Klientel ebenfalls gespalten.
Sonntag, 19. Januar. Schwalbach, eine Trabantenstadt nahe Frankfurt, 60er-Jahre-Betonbauten. Das Bürgerhaus ist klein und bis auf den letzten Platz gefüllt. Beim Bürgergespräch mit dem Kanzler kritisiert eine Frau, dass es bei Migrationspolitik nur Verschärfungen gibt. Andere bemängeln, dass Migranten schlecht Deutsch sprechen und sich zu wenig integrieren. Scholz verteidigt die härtere Asylpolitik. Unter seiner Führung hat die SPD unter Murren zahlreiche Verschärfungen mitgetragen: Bezahlkarten für Asylbewerber, verlängerter Ausreisegewahrsam, raschere Abschiebungen. Alles an der Grenze des Rechtskonformen. Scholz mahnt, an, dass die Ausländerbehörden effektiver arbeiten müssen und die Bundesländer nicht Jahre brauchen, um Asylanträge zu bearbeiten. Die Botschaft lautet: Wir kümmern uns. Migration, das Megathema, das den Westen durchschüttelt, schrumpft bei Scholz zu einem Problem effektiver Verwaltung.
Scholz ist kein Visionär. Sondern der Mann, der im Maschinenraum alle Stellschrauben kennt. Er hat immer das Machbare im Blick, das man vernünftig und in Zimmerlautstärke formuliert. Einen Klempner der Macht nannte Merz ihn. Das trifft es. Scholz’ Problem ist: All die Berechenbarkeit, die Planbarkeit, das Kleinteilige seiner Politik hat das Vertrauen der Menschen in ihn nicht erhöht. Im Gegenteil. Viele seiner Pläne scheiterten. Die Umwidmung von 60 Milliarden Euro Coronaschulden in den Klimafonds kassierte das Bundesverfassungsgericht. Die grüne Transformation, die, wie Scholz kühn prophezeite, jährliche Wachstumsraten von 5 Prozent bescheren werde, stockt. Die Wirtschaft schrumpft seit zwei Jahren. Die Aussichten für 2025 sind mies. Kann der Kanzler diese Krisen wenigstens erklären? Zeigen, dass er trotz der Rückschläge der Richtige ist?
Wolfsburg, 17. Januar. Die erste SPD-Großveranstaltung. Der Ort ist wohl gewählt. Bei VW, dem Leuchtturm der Mitbestimmung, kriselt es. VW ist Symbol für die bundesdeutsche Industrie – und jetzt auch für massive Abstiegsängste. Scholz’ Auftritt soll zeigen, dass in der Krise auf die SPD Verlass ist.
Gesine Schwan, SPD-Grundwertekommission
Die Halle ist fast voll, 1.500 Leute, nicht nur GenossInnen. Drei GymnasiastInnen wollen den Kanzler mal live mitbekommen und hören, was er gegen die Malaise in Wolfsburg tun will. Die spüren sie. Das Schulessen ist nicht mehr umsonst, sagen sie, weil VW weniger Geld für die Schule spendet. Und: In Wolfsburg ist alles VW, sagen sie achselzuckend. „Mehr für Dich. Besser für Deutschland“ lautet der Slogan über der Bühne. In Wolfsburg wäre „Nicht weniger für Dich“ auch schon eine gute Nachricht.
Scholz schlendert betont locker auf die Bühne und sagt: „Hallo Wolfsburg.“ Pause. „Ich fange so normalerweise keine Rede an.“ Verlegen befingert er das Mikrofon. Bemüht sich Fahrt aufzunehmen. Wolfsburg sei wegen VW, Krise, Industrie derzeit etwas Besonderes. Scholz redet eine knappe Stunde. Kein Wort mehr über Wolfsburg, keine Aufmunterung, kein Versprechen. Die Wahlkampfrede ist ein halber Vortrag über Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Er reiht Fakten aneinander, ohne emotionalen Wärmestrom. Als er den Made-in-Deutschland-Bonus erwähnt, eine von der SPD geplante Steuerprämie für Investitionen, applaudieren einige. „Erst klatschen, wenn ich es erklärt habe“, sagt der Kanzler.
Nüchtern, gelegentlich oberlehrerhaft. Catchy geht anders. Man kann Scholz viel vorwerfen. Dass er seinem Publikum nach dem Mund redet, gehört nicht dazu. Er ist der Gegenpol zum dampfenden Gefühlspopulismus von Markus Söder und zu Friedrich Merz’ schneidiger Macherattitüde.
Die schärfste Kritik-Formel, die Olaf Scholz in den Hallen und Bürgerhäusern der Republik im Januar verwendet, lautet: „Das ist nicht in Ordnung.“ Die faktische Abschaffung des Asylrechts, die die Union betreibt, „nicht in Ordnung“, dass die Union Reichen Milliarden ohne Gegenfinanzierung schenken will: „nicht in Ordnung“. Die Union umwölkt er meist als „der politische Mitbewerber“. Den Namen Merz erwähnt er nicht.
Braucht man vier Wochen vor der Wahl in fast aussichtsloser Lage vor dem zugeneigten, freundlichen Publikum in Wolfsburg und Frankfurt, Halle und Schwalbach, nicht mehr Schwung, Verve, Risikobereitschaft? Mehr „Wir gegen die“?
Scholz redet oft leise. Er hält das Mikro etwas zu weit nach vorn. Leise zu reden ist keine Machtgeste so wie bei Scholz’ Amtsvorgänger Helmut Schmidt, der mit Kunstpausen, Schweigen arbeitete, um zu zeigen, wer das Sagen hat und das Tempo diktiert. Scholz’ leise Ansprache wirkt zurückhaltend. Eigentlich ist er schüchtern. Er mag keinen Smalltalk. Selbst auf SPD-Festen wirft er sich selten ins Getümmel und redet lieber mit Leuten, die er kennt.
Scholz hat durchaus profunde Stärken. Er verkörpert Souveränität, Vorsicht, Maß und Mitte. „Er setzt auf Argumente“, sagt Schwan. „Und er hat auch gute. Das Problem ist nur: Sie kommen nicht an.“ Dem Kanzler sei es bisher nicht gelungen, die kommunikative Mauer zwischen sich und dem Wahlvolk zu durchbrechen. Er wirkt auf viele kalt, fern, technokratisch.
Dabei versucht Scholz fast alles, um das zu ändern. Er macht tausende Selfies. Er besucht tapfer online Ratesendungen und lässt sich in der „heute-show „veralbern. In Köln hält er als Hamburger beim Neujahrsempfang der Handelskammer eine kurze Büttenrede. „Manche sagen, wir sind dröge. Doch das ist’ne glatte Löge.“ Er tritt bei der hessischen Online-Talkshow „Bembel und Gebabbel „auf, wo er durch ein Spalier von leicht bekleideten Frauen mit SPD-Fähnchen gehen muss. Dazu plärrt es aus den Lautsprechern: „Das ist die großen bunte Olaf Show.“
Scholz will das Publikum erreichen, dass nie Tagesschau guckt. Er versucht locker zu erscheinen. Doch das sind Auswärtsspiele für ihn. Bei einem Auftritt vor SPD-Klientel in Frankfurt fragt ein Genosse, ob Olaf, obwohl Norddeutscher, nicht mal einen Witz erzählen wolle. Das findet Genosse Olaf nur bedingt lustig. „Heute nicht“, sagt er.
Dabei kann er im kleinen Kreis ganz anders sein. „Der Kanzler ist oft witzig und gut gelaunt“, sagt sein Sprecher Steffen Hebestreit. Er sei ein „wirklich guter Chef“ – rücksichtsvoll und verlässlich. Hebestreit nimmt „Olaf“ sogar vor Journalisten auf den Arm. „Bloß nicht zu emotional“, witzelt er vor Hintergrundgesprächen schon mal. Und Olaf grinst. Übertriebenes Machtbewusstsein, gesteigerten Geltungsdrang oder Mackerattitüden kann man Scholz nicht vorwerfen.
Dass Politiker süchtig nach Macht sein sollen, gilt als eine Art Generalschlüssel, um zu erklären, wie sie ticken. Für Scholz trifft diese Diagnose nur bedingt zu. Ihn treibt eher ein Pflichtethos, so wie es bei seinem Vorbild Helmut Schmidt der Fall war. Scholz ist längst nicht so barsch und herablassend wie Schmidt. Aber wie Schmidt versteht Scholz Politik als Geschäft, in dem Visionen eher stören. Wie sein Vorbild ist Scholz ein Ideologe des Pragmatismus. Und natürlich ist er immer schlauer als die anderen, auch wenn die das natürlich erst später begreifen werden.
Mittwoch, 22 Januar. Scholz fliegt, zwei Tage nach Trumps Amtseinführung, nach Paris. Das soll zeigen, dass Europa sich nicht von Trump spalten lässt. Scholz redet im Flugzeug eine Stunde lang mit den mitreisenden Journalisten. Ein Hintergrundgespräch, aus dem nicht zitiert werden darf. Doch Scholz gibt ein paar Sätze frei. Das ist ungewöhnlich. Aber so wichtig ist ihm seine Botschaft: Die Kritik an den unseriösen Plänen seiner politischen Mitbewerber für zusätzliche Militärhilfen an die Ukraine. Grüne, FDP und Union fordern zusätzliche drei Milliarden Euro für die Ukraine. Scholz weist sie in scharfen Worten zurecht. Wirft ihnen vor, die Öffentlichkeit zu belügen. Es gebe 2025 ein Haushaltsloch von 25 Milliarden Euro.
Man müsse schon sagen, woher das Geld kommen soll. Das, so der Kanzler, der selten Ich sagt, „empfinde ich als Skandal.“ Und: „Einfach zu behaupten, das würde trotz der Finanzlücke schon irgendwie gehen, hat das Niveau von Sprücheklopfern.“ Sprücheklopfer sollen die anderen sein. Nur er rechnet seriös.
Seine Kernbotschaft, die er leise, aber stetig wiederholt, lautet: Nur mit der SPD wird Ukraine-Unterstützung und Verteidigung nicht zu Lasten von Renten und Sozialem gehen. Kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Scholz erklärt das immer wieder. Wenn er es erklärt, regnet es Zahlen: 12,5 Milliarden, 3 Milliarden, 25 Milliarden. Haushaltspolitik ist kompliziert. Dabei hat die SPD noch nie eine Wahl mit Finanzpolitik gewonnen.
Als der Kanzler nach Paris fliegt, tötet ein psychisch kranker Flüchtling aus Afghanistan in Aschaffenburg ein zweijähriges marrokanisches Kind und einen 41-jährigen. Es braut sich ein Stimmungsorkan zusammen, der die Wahlkampfstrategie der SPD vom Tisch zu fegen droht. Im Dezember hatte ein SPD-Stratege prophezeit: „Wir haben eine Chance, wenn der Wahlkampf um Soziales geht. Wenn es um Migration geht, verlieren wir.“ Es gibt eine aktuelle Zahl, die SPD-Wahlstrategen Kopfzerbrechen machen muss. Die SPD-Klientel hat Sympathien für Merz‘ Grenzen-dicht-Parole. 52 Prozent der SPD-Anhänger sind dafür, 37 dagegen. Die eigene Anhängerschaft ist gespalten.
Doch geht es nun nicht nur um Migration, sondern auch um die Sprengung der Brandmauer gegen rechts. Denn genau das hat Merz getan: Die Union setzt einen knallharten Asylantrag, auf den die AfD das politische Copyright anmeldet, mit AfD-Stimmen durch. Damit geht der Union-Kandidat im Wahlkampf „all in“, ein Begriff aus dem Poker. „All in“ geht nur, wer im Spielverlauf kaum noch Chancen hat. Dabei liegt die Union in Umfragen weit in Führung. Doch Merz sprengt den Anti-AfD-Konsens der politischen Mitte in die Luft. Die Wahlkampf-Dramaturgie wird neu geschrieben.
Dienstagabend, 28 Januar. Scholz steht auf einer kleinen Bühne im Festsaal Kreuzberg in Berlin. Er wirkt selbstsicherer. Er redet flüssiger, und reagiert spontan auf Zwischenrufe. Für Merz‘ Tabubruch gebe es „keine Entschuldigung“, sagt er. Und: Es dürfe „keine schwarz-blaue Mehrheit im Bundestag geben“. Abteilung Attacke. Tosender Beifall. Dass Merz ohne Not der AfD die Tür geöffnet hat, wirkt auf Scholz wie eine Sauerstoffzufuhr. Er hat nun endlich den Gegner vor sich, auf den er sich gefreut hat: erratisch, unzuverlässig, affektgesteuert. Im Wahlkampf, im Bundestag, im Interview bei „Maischberger“ wirkt Scholz wie ausgewechselt. Das Hölzerne, Steife, Buchhalterhafte scheint wie weggeblasen.
Die SPD hat dem Moment entgegen gefiebert, in dem Merz, der sich wochenlang keine Blöße gab, endlich im Ring auftaucht. Nicht nur Scholz kommt in Schwung. Es liegt Spannung in der Luft, es geht nun um Grundsätzliches.
Plötzlich ist die Chance greifbar, dass Scholz, trotz Ampelcrash, wieder in seiner Lieblingsrolle wahrgenommen wird – als der verantwortliche Staatsmann, den nichts aus der Ruhe bringt. Denn Merz‘ Zickzack-Kurs in Sachen AfD, das Sprunghafte, Unberechenbare, müsste auf frühere Merkel-WählerInnen doch abschreckend wirken. Die Ex-Kanzlerin rüffelt Merz öffentlich, weil er mit der AfD gemeinsame Sache gemacht hat. Ist das ein Kipppunkt wie 2021, als die Union in internem Streit versank – und der blasse Scholz vielen als das kleinere Übel erschien?
Die Wahl entscheiden „weder Meinungsmacher noch Umfrageinstitute“, sagt Scholz stoisch. Er scheint wieder an seine Chance zu glauben. Scholz, der Mann des Comebacks, der auftaucht, wenn ihn alle abgeschrieben haben.
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