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Wenn Gebrechlichkeit den Wohlstand bedroht

Die Pflege ist kein Gewinnerthema. Dass sie immer teurer wird, ist unbestritten. Die Finanzierungsvorschläge der Parteien werfen Gerechtigkeitsfragen auf

Teure Betreuung: Hightech in der Tagespflege der Caritas-Sozialstation Erlenbach am Main Foto: Murat Tueremis/laif

Von Barbara Dribbusch

Die FDP macht es sich einfach. Pflege? Das fahren wir am besten klein, ganz klein. Das Thema Pflege füllt nicht mal eine halbe Seite im Entwurf des Wahlprogramms der FDP. Eine „kapitalgedeckte Komponente“ zur gesetzlichen Pflegeversicherung schlagen die Freien Demokraten vor. Mehr „Anreize“ für private Pflegevorsorge will die Partei setzen, ohne genauer zu werden. Tja.

Das Thema Pflege möglichst klein zu fahren ist eine Art Selbstschutz für jede Partei. Denn die Pflege ist ein toxisches Thema. Die Gesellschaft altert, Pflege ist eine der teuersten Dienstleistungen überhaupt, die Eigenanteile steigen, die Pflegeversicherung hat im vergangenen Jahr ein Defizit von 1,5 Mil­liar­den Euro angehäuft. Die Beiträge der gesetzlichen Pflegekassen sind erst jetzt wieder auf 3,6 Prozent für Eltern und 4,2 Prozent für Kinderlose gestiegen. Einen weiteren Anstieg prophezeien Experten. Wer soll die Pflege bezahlen?

Die SPD verspricht in ihrem Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2025, die sogenannten Eigenanteile bei einem Aufenthalt im Pflegeheim auf maximal 1.000 Euro im Monat zu begrenzen, das wäre dann der „Pflegedeckel“. Das ist ein konkretes, teures Versprechen, denn die Eigenanteile bei einem Heimaufenthalt machen derzeit im ersten Jahr des Aufenthalts rund 2.800 Euro pro Monat für die Be­woh­ne­r:in­nen aus, so Zahlen des Verbandes der Ersatzkassen. Dieser Eigenanteil muss aus dem eigenen Einkommen oder Vermögen finanziert werden, den Rest zahlt die gesetzliche oder die private Pflege-Pflichtversicherung.

Andere Parteien wie das BSW und die Linke wollen eine „Pflegevollversicherung“ einführen. Dann würden keine oder nur wenig Eigenanteile beim Heimaufenthalt fällig.

Die Union macht sicherheitshalber kaum neue Vorschläge, sondern möchte lediglich einen „Finanzierungsmix“, „bestehend aus der gesetzlichen Pflegeversicherung, der betrieblichen Mitfinanzierung, Steuermitteln“ sowie einer eigenen privaten Vorsorge durch eine „bezahlbare Pflegezusatzversicherung“ einführen.

Wie man die Pflege künftig finanzieren könnte, wird unterschiedlich beantwortet. Die SPD schlägt vor, das bisherige „Nebeneinander“ von gesetzlicher und privater Pflegeversicherung zu beenden und ein „gemeinsames, solidarisches Pflegesystem“ zu schaffen, so wie es in den nie umgesetzten alten SPD-Plänen zu einer „Bürgerversicherung“ schon vor 20 Jahren stand. Die SPD will die private Pflegeversicherung in einem ersten Schritt „in den Risikostrukturausgleich zwischen allen Pflegekassen einbeziehen“. Einen solchen Finanzausgleich fordern auch die Grünen in ihrem Wahlprogramm.

„Risikostrukturausgleich“ würde bedeuten, dass die privaten Pflegekassen, die in der Regel über jüngere und gesündere Mitglieder verfügen, an die gesetzlichen Pflegekassen mit den kränkeren und älteren Mitgliedern einen gewissen Finanzausgleich zahlen müssten. Die Finanzsituation der gesetzlichen Pflegekassen würde sich damit verbessern, die der privaten Kassen käme mehr unter Druck.

Ein erst kürzlich vorgestelltes Gutachten des Gesundheitsökonomen Heinz Rothgang für eine Pflegebürgervollversicherung verwies auf die großen Unterschiede in Gesundheitszustand und Einkommen zwischen Privat- und gesetzlich Versicherten. Aus „Gerechtigkeitsüberlegungen“ bestehe hier „dringender Reformbedarf“, so Rothgang.

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Selten sind die Ärmsten so diffamiert worden, selten war der Wohlstand so ungleich verteilt. Die taz begibt sich auf die Suche nach dem sozialen Gewissen des Landes. Alle Texte zum Thema finden Sie hier:

Im Konzept der Bürgerversicherung war früher immer auch vorgesehen, alle Einnahmen, auch die Einnahmen aus Kapitaleinkünften, mit Beiträgen zur Kranken- und Pflegekasse zu belegen. In den Wahlprogrammen der Linken und der Grünen findet sich dieser Vorschlag auch jetzt wieder. Als der grüne Kanzlerkandidat Robert Habeck dies aber im Interview vorschlug, erntete er einen Shitstorm. Ganz so ungewöhnlich ist der Gedanke übrigens nicht: Bereits heute müssen Selbstständige, die freiwillig in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung sind, auf alle ihre Einkünfte, auch die Kapitaleinkünfte aus der Steuererklärung, Krankenkassenbeiträge zahlen.

Die Linke fordert kurzerhand in ihrem Wahlprogramm, dass die Beitragsbemessungsgrenze wegfällt. Damit müssten Hoch­ver­die­ne­r:in­nen auf ihre gesamten Einkommen den prozentualen Pflegebeitrag entrichten und nicht nur bis zur bisherigen Bemessungsgrenze der gesetzlichen Versicherung. Diese Maßnahme hätte einen sehr starken Umverteilungseffekt. Das wäre aber nur dann der Fall, wenn das System der Privatversicherung, die die Beiträge ja nach Pflegerisiko und nicht nach dem Einkommen bemisst, aufgelöst und mit der gesetzlichen Kasse zusammengelegt würde.

Der Finanzbedarf in der Pflege wird weiter zunehmen. Die Wirtschaft protestiert aber gegen den Anstieg der Lohnnebenkosten durch immer weiter steigende Beiträge

Ex­per­t:in­nen sind sich einig, dass der Finanzbedarf in der Pflege zunimmt. Die Wirtschaft protestiert aber gegen den Anstieg der Lohnnebenkosten durch immer weiter steigende Beiträge. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat nun ein Gutachten im Auftrag der privaten Krankenkassen erstellt, nach dem gut 70 Prozent der Rentnerhaushalte mit einem pflegebedürftigen Haushaltsmitglied fünf Jahre der stationären Pflegekosten aus eigenem Einkommen und Vermögen bezahlen könnten, wobei eine selbstgenutzte Immobilie dabei womöglich beliehen werden müsste.

Eine Deckelung der Eigenanteile im Pflegefall würde also bedeuten, Vermögen und Erbschaften nicht nur der sehr Reichen, sondern auch der Mittelschichtmilieus zu schützen durch eine Versicherung, in die alle einzahlen müssten, zu diesem Schluss kommt die IW-Studie. Aber ist dieser Schutz wirklich fair? Und wenn ja, bis zu welcher Vermögenslage? Eine solche Frage wird derzeit nicht offen diskutiert.

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