: Who the fuck is Alice?
Alice Weidel ist lesbisch und Chefin der rechtsextremen und queerfeindlichen AfD.Nicht nur bei der Parteibasis ist die Volkswirtin überaus beliebt. Wie passt das zusammen?
![](https://taz.de/private/picture/6065658/516/1371180.jpg)
Von Gareth Joswig
Beim Parteitag am zweiten Januarwochenende im sächsischen Riesa brachte Alice Weidel mal wieder ihren Signature-Move zur Aufführung: den dramatischen Abgang. Am Sonntagvormittag stand die frisch gekürte Kanzlerkandidatin ohne Koalitionsoptionen plötzlich auf und verließ im Stechschritt die Parteitagsbühne. Ihr Abgang war schnell, Weidel wirkte wütend – binnen Sekunden war sie hinter den Kulissen der Mehrzweckhalle verschwunden.
Weidels Ärger erregt haben dürfte vor allem die Thüringer Landtagsabgeordnete Wiebke Muhsal, eine enge Vertraute des völkisch-nationalistischen Chefs der Thüringer AfD, Björn Höcke. Muhsal hatte in der Programmdebatte zum Familienbegriff der AfD einen Satz gesagt, den die in lesbischer Partnerschaft lebende Weidel auch selbst in Bezug auf ihre Familie schon gebraucht hatte. Jetzt äffte ihn Muhsal im abfälligen Tonfall nach: „Familie ist da, wo Kinder sind“, sagte sie sarkastisch, „diese gesellschaftsverwahrlosenden Sätze kommen mir echt zu den Ohren raus! Kinder kommen nicht irgendwo her, sondern Familie ist da, wo ein Mann und eine Frau gemeinsam Kinder bekommen!“
Der Parteitag von Riesa quittierte den queerfeindlichen Klartext mit lautem Jubel, Johlen und Applaus. Kurz darauf änderten die 600 Delegierten mit einstimmiger Mehrheit das Wahlprogramm. Familien bestehen aus „Vater, Mutter und Kindern“ steht nun darin. Die Programmkommission der AfD hatte zuvor im Entwurf erstmals ohne festgelegte Definition gearbeitet und somit auch die Parteichefin Weidel und ihre Regenbogenfamilie mit zwei Kindern eingeschlossen. Nach dem Beschluss rannte Weidel düpiert aus der Halle. Später am Tag machte sie in einem TV-Interview geltend, dass der veränderte Satz ja nur das Leitbild der AfD beschreibe und sie das Programm in dieser Form schon lange vertrete. Aber sie wiederholte auch noch mal den an der Parteibasis offenbar verhassten Satz: „Für mich ist Familie dort, wo Kinder sind.“
Es sind seltene Momente, in denen die kognitiven Dissonanzen der Alice Weidel in ihrer vermeintlich widersprüchlichen Doppelrolle als Mutter einer Regenbogenfamilie und Chefin einer extrem rechten Partei sichtbar werden. Die 46-jährige Volkswirtin lebt seit 2009 in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung mit der in Sri Lanka geborenen Sarah Bossard – einer Schweizer Filmemacherin, die auch die leibliche Mutter ihrer beiden Söhne ist. Gleichzeitig ist Weidel das Gesicht der AfD, die den Diskurs in Deutschland von rechts außen bestimmt und mittlerweile nach fortwährender Radikalisierung bei 20 Prozent in den Umfragen zur Bundestagswahl steht, was sich auch in rassistischer und queerfeindlicher Gewalt niederschlägt.
Im Wahlkampf blendet Weidel das aus. Und im Unterschied zu früheren Wahlkämpfen kehrt Weidel ihre Partnerschaft selbstbewusst nach außen: Im November vorigen Jahres machte sie ihrer anwesenden Frau bei einem öffentlichen Auftritt in der Schweiz eine Liebeserklärung („Sarah, ich liebe dich!“) – und zuletzt nahm sie Bossard sogar zu einem Wahlkampfauftritt in Halle an der Saale mit, wo diese allerdings zwischen all den „Ab-schie-ben!“-Rufen doch etwas versteinert wirkte und nach Weidels Rede eher verhalten applaudierte. Wohl auch angesichts 4.000 aufgepeitschter AfD-Anhänger, die Bier trinkend „Alice, ich will ein Kind von dir“, „Raus mit den Viechern!“ oder die abgewandelte SA-Losung „Alice für Deutschland“ riefen – während Weidel auf der Bühne „Remigration“ forderte.
Noch mehr Dissonanz findet sich, wenn man Bossards Instagram-Feed ansieht. Dort zeigt sie eine Lebensrealität, die so gar nicht zur AfD-Parteibasis passt: weltoffene Raveclubs, Róisín-Murphy-Konzert, KaDeWe-Austernbar und Besuche der Züricher Streetparade mit Strasssteinen im Gesicht. Das Einzige, was an die AfD erinnert, sind Selfies mit Weidel. Wie passt das alles zusammen? Und wie hat Weidel es als lesbische Frau an die Spitze einer offen queerfeindlichen und rassistischen Partei geschafft?
Weidel selbst will darüber trotz vielfacher Anfragen nicht mit der taz reden. In Teilen aber kann Patrick Wielowiejski von der Berliner Humboldt-Universität Antworten geben. Der Kulturanthropologe hat sich im Rahmen seiner ethnologischen Forschung mit Homosexuellen in der AfD auseinandergesetzt. Er begleitete über einen Zeitraum von zwei Jahren regelmäßig verschiedene Homosexuelle in der Partei bei Tagungen, Demos, Neujahrsempfängen und Kneipenabenden, befragte sie zu ihrer Biografie und Motivation.
Wielowiejski sagt, entscheidend für ein Engagement in der AfD seien bei den von ihm Befragten am Ende nicht offenkundig die in der Rechten anschlussfähigen antimuslimischen Erzählungen gewesen – also dass muslimische und migrantische Männer eine besondere Gefahr für Homosexuelle darstellen würden. „Die ausschlaggebende Motivation für aktives Wirken in der AfD war vielmehr eine biografisch rechte Sozialisation“, sagt Wielowiejski, „die eigene sexuelle Orientierung kam einfach obendrauf.“
Allerdings entstünde in der AfD für Homosexuelle ein Spannungsfeld, wie man es auch aus konservativen politischen Bewegungen kenne: „Viele wollen mit ihrem Engagement in der AfD als respektable Homosexuelle einfach von der Mehrheitsgesellschaft angenommen werden und Zugang zu bürgerlichen Institutionen bekommen – die Homosexualität stehe dabei politisch nicht im Vordergrund, sondern ist vor allem Privatsache“, so Wielowiejski. Dabei helfe eine mögliche Inszenierung von Heteronormativität, also ein möglichst monogames Leben als verheiratetes Paar.
Das ließe sich auch gut bei Weidel beobachten. Diese habe sich klar von anonymen Samenspenden abgegrenzt und benenne zudem ein klares gemeinsames Feindbild, wenn sie im ARD-Sommerinterview sage: „Ich bin nicht queer, sondern ich bin mit einer Frau verheiratet, die ich seit 20 Jahren kenne“, und ansonsten im Kulturkampf auch gegen queere Identitäten und „Genderwahnsinn“ hetze.
„Wenn woke Queerness der Feind ist, können sich Lesben und Schwule auf Seiten der Normalen stellen“, so Wielowiejskis Befund. „Homosexualität in der AfD funktioniert nur unter der Bedingung, dass Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität als Grundpfeiler der rechten Ideologie nicht in Frage gestellt werden.“
Mit Blick auf die Biografie von Weidel hat der Wissenschaftler in vielem recht. Jedenfalls scheint Weidel bereits früh in ihrem Elternhaus politisiert worden zu sein. Aufgewachsen ist Weidel in der ostwestfälischen Kleinstadt Harsewinkel, als Tochter der Hausfrau Margitta Weidel und des selbstständigen Handelsvertreters Gerhard Weidel, der als Kind aus Oberschlesien vertrieben wurde.
Ihr Elternhaus sei hochpolitisch gewesen, berichtete Weidel 2018 in einem Interview in der rechten Schweizer Zeitung Weltwoche und kokettierte damit, dass sie bereits zur Schulzeit mit dem väterlichen Mercedes am Gymnasium vorfuhr, um sich mit den Alt-68er-Lehrern in Sozialkunde und Ethik anzulegen. Auch berichtete Weidel, dass sie bereits in ihrer Kindheit und Jugend die Türken, Armenier, Russen, Kasachen und Afghanen aus den Sozialbauten gestört hätten. Vor allem bei Muslimen funktioniere die Integration nicht, behauptete sie. Zu ihren späteren Tiraden im Bundestag von „Messermännern“ und „Kopftuchmädchen“ stehe sie – das sei „die echte Alice Weidel“, sagte sie in dem Weltwoche-Interview über ihre rassistischen Ausfälle.
Aber auch 2017 konnte man schon längst ahnen, woher der Wind im Elternhaus politisch wehte. Weidel pries damals geschichtsrevisionistisch in den sozialen Medien den vermeintlichen „Schuldkult“ an und schrieb von „Gräueltaten an der deutschen Bevölkerung nach dem zweiten Weltkrieg“ und dem „Hungerwinter 1948“, den ihr Vater als Kind erlebt habe.
Auch ist mittlerweile gut belegt, dass Alice Weidel bereits vor ihrem Parteieintritt politisch sehr radikal war. Das zeigt eine geleakte E-Mail aus dem Jahr 2013, in der sie vor einem damaligen Bekannten ungefiltert ihr Weltbild ausbreitete. Sie schrieb davon, dass Deutschland „von kulturfremden Voelkern wie Arabern, Sinti und Roma etc ueberschwemmt“ [sic] werde. Ziel sei „die systematische Zerstoerung der buergerlichen Gesellschaft“. „Diese Schweine sind nichts anderes als Marionetten der Siegermaechte des 2. WK und haben die Aufgabe, das dt Volk klein zu halten“, so Weidel wörtlich. Weitere extrem rechte Buzzwörter wie „Überfremdung“, Deutschlands mangelnde „Souveränität“ kamen hinzu, sowie Angriffe auf das angeblich korrumpierte Bundesverfassungsgericht. Kurz nach der E-Mail trat Weidel in die AfD ein.
Für die Partei und auch Weidel ist das bislang eine Erfolgsgeschichte. Weidel wirkt angesichts des AfD-Höhenflugs so fest im Sattel wie noch nie, auch international vernetzt sie sich weiter. Vorige Woche schaltete sich der Tech-Oligarch Elon Musk erneut in den AfD-Wahlkampf ein, und kommende Woche will Weidel den ungarischen Autokraten Viktor Orbán treffen.
Weidel funktioniert als Aushängeschild mit Wutbürger-Rhetorik für viele Zielgruppen: Mit bürgerlichem Perlenketten-Hosenanzug-Habitus bietet sie als promovierte Volkswirtin und marktradikale Bankerin mit Goldman-Sachs-Vergangenheit eine Projektionsfläche für libertäre Reiche. Gleichzeitig verfangen ihre dystopischen Untergangsszenarien und rassistischen Erzählungen bei Abstiegsbedrohten. Völkische Kreise bedient sie mit Begriffen wie „Remigration“ und ihrem Geschichtsrevisionismus. Und wenn der Tech-Oligarch Elon Musk nicht gerade einen deutschen Gruß entrichtet, kann er erklären, dass die AfD nicht rechtsextrem sein könne, weil Weidel mit ihrer Partnerin aus Sri Lanka ja nicht gerade wie Hitler wirke.
Für den Kulturanthropologen Wielowiejski bleibt am Ende dennoch offen, wie nachhaltig die Integration von Homosexuellen in der AfD wirklich ist. Die Partei habe seiner Einschätzung nach durchaus ein strategisches Verhältnis zu homosexuellen Mitgliedern und damit auch zu Weidel, sagt er. Aus Sicht vor allem völkischer Kreise seien sie vor allem nützliche Idioten zur Verharmlosung – solange sie diese noch brauchten.
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