: „Das System muss sich anpassen, nicht die Menschen“
Wenn Migration zum Problem gemacht werde, verändere sich auch etwas für Menschen mit Behinderungen, sagt UN-Berichterstatter Markus Schefer und kritisiert das Wahlprogramm der Union
Interview Franziska Schindler
taz: Herr Schefer, Sie sind Mitglied im UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Wie steht es um diese Rechte in Deutschland?
Markus Schefer: Man ist in Deutschland noch immer weitgehend dem Denken verhaftet, dass die Welt für Menschen mit Behinderung eine andere ist als für alle anderen. Dass Menschen mit und ohne Behinderung sich vielfach in komplett getrennten Lebensräumen befinden, sieht die Politik nicht als Problem. Den entscheidenden Punkt möchte man nicht so recht begreifen und ist damit in Europa in guter Gesellschaft.
taz: Was ist denn der entscheidende Punkt?
Schefer: Viele Menschen haben die Vorstellung, dass man eine Behinderung feststellen kann, indem man medizinisch nur genau genug hinschaut: Was kann ein Mensch und was kann er nicht? Aber die Frage ist eigentlich: Inwieweit kann ein Mensch mit Behinderung seine Menschenrechte so ausüben wie andere Leute auch? Kann ich beispielsweise mit einem Partner oder einer Partnerin in einer Wohnung wohnen, die ich selbst gewählt habe? Kann ich selbst über meinen Tagesablauf entscheiden? Menschen mit Behinderung haben die gleichen Rechte wie alle anderen. Das System muss sich anpassen, damit alle teilhaben können, nicht die Menschen. Die Konvention fordert von den Vertragsstaaten, ihre Perspektive grundsätzlich zu ändern.
taz: Und wie stehen die Chancen dafür?
Schefer: Regierung und Verwaltung sind am Ende auch nur ein Abbild der Gesellschaft. Und da ist die Stimmung momentan wenig menschenrechtsfreundlich. Das erleben wir nicht nur in Deutschland, sondern bei sämtlichen Prüfungen europäischer Staaten. Schweden und Dänemark etwa, die einst Vorreiter der Inklusion waren, haben wir bei den letzten Staatenprüfungen erstmals wegen regressiver Maßnahmen gerügt. Das ist in Deutschland noch nicht passiert, aber die gesellschaftlichen Entwicklungen bleiben offen.
taz: Was meinen Sie damit?
Schefer: Wenn Migration von vielen Menschen als Problem wahrgenommen wird, verändert sich auch etwas für Menschen mit Behinderungen. Rechtskonservative Parteien nehmen diese gesellschaftliche Stimmung auf. Die restriktive Politik, die dann umgesetzt wird, bezieht sich regelmäßig nicht allein auf Geflüchtete, sondern oft auch auf Menschen mit Behinderungen. In Schweden gibt es anstelle von individuellen Wohnmöglichkeiten inzwischen wieder mehr Institutionen. In Dänemark bekommen Menschen mit Behinderung weniger finanzielle Leistungen als in der Vergangenheit. Die Tendenz geht dahin, Menschen mit Behinderungen wieder in Parallelwelten abzuschieben.
taz: Inwiefern?
Schefer: Wir leben in einer Zeit, in der Deutschland eine große Priorität auf seine Wirtschaftspolitik wird richten müssen. Deutschland steht im europäischen Vergleich immer schlechter da. Die Wirtschaft wird also effizienter ausgestaltet werden müssen. Dann neue Regelungen einführen zu wollen, die den Arbeitsmarkt inklusiver machen? Das scheint mir nicht sehr realistisch.
taz: Der nächste Bundeskanzler ist mit hoher Wahrscheinlichkeit Friedrich Merz. In ihrem Wahlprogramm schreibt die Union, dass sie neben Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt Inklusionsbetriebe und Werkstätten stärken will, denn „sie bieten einen geschützten Raum, um sich im Arbeitsleben zu erproben“.
Schefer: Das ist ein bisschen widersprüchlich. Sollen die Inklusionsbetriebe gestärkt werden, damit das Separieren besser funktioniert? Das ist genau nicht die Idee der Inklusion. Klar, es muss auch spezialisierte Einheiten geben, die Menschen auf den Arbeitsmarkt vorbereiten. Aber hier klingt es eher nach: Die Leute sollen fit gemacht werden, damit sie auf dem Arbeitsmarkt, so wie er ist, bestehen können. Dabei sollte der Arbeitsmarkt sich an die Menschen anpassen, damit sie, so wie sie sind, daran teilhaben können.
taz: Zum Thema Bildung steht da: „Wir sorgen für individuelle Bildungsmöglichkeiten für Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen und sehen neben Inklusionsangeboten auch Förderschulen als Bestandteil der Bildungswelt.“
Schefer: Ja, eben, individuell! Es geht eben gerade nicht nur um individuelle Bildungsmöglichkeiten. Sondern die Konvention fordert, dass man einen institutionellen Ansatz verfolgt und die Schulen insgesamt so strukturiert, dass sie inklusiv sind. Aber dieser Passus sagt im Prinzip: Wir werden kein inklusives Bildungssystem errichten, aber es sollen möglichst viele Leute in die Regelschule. Das kann nicht funktionieren.
taz: 2023 haben Sie im Fachausschuss der Vereinten Nationen zur Behindertenrechtskonvention geprüft, wie Deutschland die Konvention umgesetzt hat. Und?
taz: In Deutschland herrscht die Überzeugung: Grundsätzlich machen wir es gut, aber wir müssen in kleinen Schritten vorangehen. Wenn man so denkt, kommt man nie zu der Erkenntnis, dass man es grundsätzlich nicht gut macht. Das ist ganz überwiegend kein schlechter Wille. Es geht eher darum, ob man das Ziel einer inklusiven Gesellschaft anerkennt – eine Frage der Haltung also. Die kenne ich aber auch von anderen wirtschaftlich hoch entwickelten Staaten, zum Beispiel Japan, der Schweiz, Singapur oder Österreich.
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