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Eine Stadt in neuem Licht

Unter dem Motto „C the Unseen“ wird das sächsische Chemnitz als Kultur­hauptstadt mit Feierlichkeiten einge­weiht. Ob das ausreicht, um ihr Nazi-Image loszuwerden? Ein Spaziergang

Hier finden nicht nur rechtsextreme Demonstrationen statt. Im Stadtzentrum vor dem Karl-Marx-Monument wird Chemnitz zur Kulturhauptstadt gekürt

Aus Chemnitz Lara Voelter (Text)und Jannis Schubert (Foto)

Drei Jugendliche drehen ihre Langeweile in Filterpapier. Sie lümmeln vor einer Installation, die dazu anspornen soll, positive Erlebnisse in der Stadt auf Fotos festzuhalten, indem man sich davor fotografiert. Da sind nämlich die Buchstaben „I“ und „C“, als zwei Meter hohe, transparente Plastiken geformt, zwischen ihnen ein Herz, also: Ich liebe Chemnitz. Im Dunkeln leuchtet die Installation, das Herz aus Neonröhren rot, gelb die Buchstaben, in deren Inneren Hunderte Lämpchen glühen.

Ein Jugendlicher tritt seine Kippe vor dem Herz aus. In Chemnitz scheinen nicht allzu viele Menschen Lust auf ein fröhliches Foto zu haben. Denn der Platz vor dem Herzen ist meist leer. Vielleicht aber wird dieses Jahr ja alles anders. Zwei Millionen Menschen sollen dieses Jahr nach Chemnitz strömen. Chemnitz soll nämlich als Kulturhauptstadt 2025 leuchten, weit über sich selbst hinaus. So zumindest hofft es die Jury, die im Auftrag von Europäischem Parlament, Rat und Kommission den Titel vergeben hat. So hoffen es viele Bürger der Stadt.

Chemnitz, zu DDR-Zeiten Karl-Marx-Stadt, hat viele Beinamen, die jeweils für eine Facette seiner Geschichte stehen: Stadt der Moderne. Stadt der Macher. Stadt der Potenziale. Namen, die im Kontext der Kulturhauptstadt häufig fallen. Aber auch: die Abgehalfterte, die Vergreiste, die Verliererstadt der Wiedervereinigung. Die Nazistadt.

Vor allem der letzte Beiname ist an Chemnitz haftengeblieben. „Nazistadt“, so nannten sie vor allem diejenigen, die sie von außen beschrieben. Sogar im britischen Guardian wurde nach den rechtsextremen Krawallen im Spätsommer 2018 darüber berichtet. Damals töteten ein Syrer und mutmaßlich ein Iraker einen Deutsch-Kubaner am Rande eines Stadtfests. In den Tagen darauf reisten Neonazis aus ganz Deutschland nach Chemnitz und attackierten Migrant:innen. Es waren aber auch mehr als 65.000 Menschen zu einem Soli-Konzert gegen Ausländerhass anwesend, viele aus der Stadt selbst. Doch das Stigma bleibt kleben: Chemnitz, die Nazihochburg. Deshalb soll nun der Titel als Kulturhauptstadt der Versuch sein, von einem anderen Chemnitz zu erzählen. Einer Stadt, die aufgeschlossen, bunt und experimentierfreudig ist. Und nicht nur braun.

Mitte August 2024 findet das Weinfest auf dem Neumarkt statt. Drei Wochen lang ist viel los in der Stadt. Eine Frau hat sich mit zwei Freundinnen an einen Tisch gesetzt und schenkt Riesling nach. Dieses Kulturhauptstadtding findet sie schwierig: „Uns Chemnitzern fehlt die Identität, wie sollen wir dann eine nach außen tragen?“ Außerdem wüssten viele gar nicht, was Chemnitz als Kulturhauptstadt ausmache.

Ja, pflichtet Kai Winkler bei, Vorsitzender des Kulturbündnisses „Hand in Hand“, das stimme, vieles laufe zu langsam, zu bürokratisch, die Kommunikation habe gehinkt. Aber „mit den Menschen in Chemnitz geht sehr, sehr viel anzustellen. Ich bin immer wieder erstaunt, was wir auf die Beine stellen können.“ Für Martin Kohlmann, dem Vorsitzenden der rechtsradikalen Kleinstpartei Freie Sachsen, sei das alles „verschwendetes Geld“, schreibt er auf Nachfrage in einer E-Mail. Und auch Touristen brauche Chemnitz nicht. Im Stadtrat hatte seine Partei im März den Antrag gestellt, alles abzublasen. Doch vergeblich.

Mandy Knospe und Lars Faßmann, sie Designerin und Künstlerin und er Unternehmer, versuchen seit 2007, Chemnitz mit Kultur zu beleben. Mehrere Häuser hat Faßmann gekauft, einige vor dem Abriss bewahrt, manche an Kreative vermietet. „Hinter das, was in der ambitionierten Kulturhauptstadtbewerbung versprochen wurde, kann man ein großes Fragezeichen setzen“, sagt Faßmann. Statt Projekte unkompliziert umzusetzen, sei eine umständliche Kontrollstruktur entstanden. Als Eigenleistung bringe die Stadt vor allem Infrastrukturprojekte ein, die ohnehin bereits geplant waren. Alte Fahrzeughallen zum Beispiel werden zu „Kreativhöfen“ umfunktioniert. Faßmann fehlt es aber an neuen, über das Kulturjahr hinaus wirkenden Ideen. Die Stadt traue ihren Bürgern nichts zu, so ist sein Eindruck.

Seine Partnerin Mandy Knospe nickt zustimmend. An der Bewerbung um den Titel als Kulturhauptstadt hat sie mitgewirkt und sagt, vieles werde nun nicht wie geplant umgesetzt. Auch fehle es an nachhaltigen Projekten. Die eigens gegründete gemeinnützige Kulturhauptstadt gGmbH soll sich 2026 wieder weitestgehend auflösen. Gesammeltes Wissen, Kontakte und Kooperationen gingen dann verloren. Es sei völlig ungewiss, wie die neu geschaffenen Orte nach der Zeit als Kulturhauptstadt genutzt werden sollen, sagt Knospe.

Durch die Gründung der gGmbH ist eine vollständige Parallelstruktur entstanden, die sowohl inhaltlich als auch bei der Beantragung von Fördergeldern direkt mit den Kulturschaffenden und Vereinen der Stadt konkurriert. Projekte von freien Trägern würden in geringerem Umfang als vorgesehen gefördert. Knospe sagt: „Leider werden nachhaltige Projekte, die nicht auf den ersten Blick schöne Bilder und große Öffentlichkeit versprechen, um das Image der Stadt zu kitten, klein gehalten.“ Sie nennt als Beispiele ein Frauenzentrum, das wegen Sparmaßnahmen der Stadt schließen müsse, einen Kulturclub, ein kleines Off-Theater: Das alles sind Orte, „die hier kontinuierlich an einer lebenswerten Stadt arbeiten“. Stefan Schmidtke, der Geschäftsführer der Kulturhauptstadt gGmbH, betont, dass es ein zentraler Grundsatz und ein Ziel der Bewerbung war, bestehende Projekte weiterzuentwickeln. Zwanzig Prozent der Projekte seien bewusst als einmalig stattfindende Ereignisse angelegt. In ihrer Bewerbung habe die Stadt nicht nur auf Infrastrukturprojekte gesetzt, sondern auch auf die Beteiligung, die Projekte und Ideen der Einwohner.

Chemnitz bewarb sich mit dem Motto „C the Unseen“ als Kulturhauptstadt, ein Wortspiel, das so was wie „Chemnitz die Unsichtbare“ oder „Schau auf das Ungesehene“ bedeutet. Damit setzte sich die Stadt gegen die Mitbewerber Dresden, Gera, Hannover, Hildesheim, Magdeburg, Nürnberg und Zittau durch. Chemnitz habe den Titel verdient, weil es offensiv mit den rechtsextremen Ausschreitungen von 2018 umgegangen sei, weil es sich weltoffen und zugleich bodenständig positioniert habe, sagen Menschen aus der Kulturszene. Alle, die die Kulturhauptstadt vermarkten, schwärmen von einer „Aufbruchstimmung“ in Chemnitz. Es sei bereits, sagt Schmidtke, eine „höhere touristische Aufmerksamkeit und eine andere Wahrnehmung der Stadt spürbar“. Im September, wenige Wochen vor der Landtagswahl in Sachsen, dröhnen Techno-Beats durch die Innenstadt. Polizeiautos stehen auf den Gehwegen. Es ist Montag, Zeit für die Montagsdemo. Rund 100 Menschen haben sich neben dem Karl-Marx-Monument versammelt, dem Wahrzeichen der Stadt. Einige schwenken Flaggen, man sieht die deutsche und die russische Flagge, Friedenstauben und den AfD-Swoosh. Seit der Coronapandemie veranstaltet die Initiative „Chemnitz steht auf“ jeden Montag Kundgebungen. Dort versammeln sich Putin-Anhänger, Unzufriedene und Verschwörungsgläubige. Auch Rechtsextreme von Pro Chemnitz und den Freien Sachsen beteiligen sich an den Veranstaltungen. Ein Mann schwenkt die Flagge der Freien Sachsen hin und her und grölt in ein Mikro: „Die Ampel muss weg, denn sie steht auf Rot. Die Ampel muss weg, denn sie bringt uns in Not. Die Ampel muss weg, denn sie ist kriminell.“ Um ihn hat sich ein Halbkreis gebildet, Glatzen und Grauhaarige mit Freie-Sachsen-Caps nicken im Takt. In der Menschenmenge wird ein Hitlergruß ungeschickt angedeutet, begleitet von einem gehauchten „Heil“ und Kichern. Ein Jugendlicher trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck: „Abschiebehelfer“. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, vor dem Stadtpark, stehen drei Männer, die offensichtlich einen Migrationshintergrund haben. Sie werfen einen kurzen Blick auf den Protestzug, trinken ein Softgetränk aus einer Dose, sie lachen. Naziparolen verebben in Heiterkeit, so alltäglich sind sie anscheinend geworden. Eine Aufbruchstimmung ist hier nicht zu verspüren.

André Löscher wiederum ist Berater bei der gemeinnützigen Beratungsstelle Support. Er hilft Menschen, die rechte Gewalt erfahren. Erst an diesem Tag habe er einen Architekturstudenten aus Indien vor sich sitzen gehabt, der sagte: „Ich muss weg aus Chemnitz, aus Sachsen. Lese ich die Wahlplakate, bekomme ich Panik.“ Der Mann sei in einem Zug rassistisch genötigt worden und wolle jetzt weg aus Chemnitz.

Anfang des 20. Jahrhunderts war Chemnitz eine der reichsten Städte Deutschlands, das sächsische Manchester, heißt es. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Zentrum fast komplett zerbombt. In den 1990er Jahren gingen mit der DDR Hunderttausende Arbeitsplätze unter, pompöse Fabrikgebäude verkamen zu morbiden Schönheiten mit eingeschlagenen und verrammelten Türen und Fenstern, betreten verboten. Textilfabrik dicht. Dampfreinigung dicht. Drahtbürstenfabrik dicht. 50.000 seiner 300.000 Einwohner verlor Chemnitz nach dem Mauerfall. 251.000 Einwohner heute, drittgrößte Stadt in Sachsen. Man kauert, so die Selbstwahrnehmung, die oft anzutreffen ist, in der dritten Reihe hinter Leipzig und Dresden.

Kurzumfrage unter Jugendlichen in der Chemnitzer Innenstadt: Wie ist das Chemnitz-Flair? „Schrecklich. Was gibt’s hier denn?“, „Aufs Weinfest gehe ich bestimmt nicht, da sind doch alle Ü40“, „Ich frag mich, ob hier schon mal jemand Urlaub gemacht hat“. Sie wollen lieber nach Dresden oder Leipzig, Berlin oder Hamburg. Dorthin, wo sie nach 23 Uhr an Drinks nippen können, wo sie am Wochenende schnell in andere, größere Städte kommen. Ein Ende 20-Jähriger wiederum will bleiben. Er sagt: „Man kann schon eine geile Zeit hier haben.“ Man müsste nur wissen, wo. Er will bleiben, weil er den Zusammenhalt schätzt: „Auf die, die bleiben, kannst du dich verlassen“, sagt er.

Durchstreift man Chemnitz einige Tage lang, ohne die Stadt davor gekannt zu haben, beschleicht einen regelmäßig das Gefühl, Teil einer Filmkulisse zu sein, in der gerade nichts gedreht wird. Auf dem Theaterplatz? Leere. Auf dem Fußgängerboulevard Brühl? Nichts los. Aber auf dem Sonnenberg? Kaum jemand unterwegs. Graue Plattenbauten und Baustellen über ganze Straßen säumen die Stadt, an vielen Stellen kriecht Teergeruch in die Nase oder das Krachen einer Baggerschaufel auf Kies dringt in die Ohren.

Es gibt Straßen, wo viele Fenster Löcher haben, groß wie Köpfe, manchmal mit Zeitungspapier gestopft. Jahre des Leerstands haben den Putz von den Mauern gefressen. Graffiti zieren Häuserfassaden und Stromkästen. „No Nazis“ steht dort. Aber auch: „NS-Jetzt“. Passiert man die Jugendstilvillen des Kaßbergs, die Gründerzeitbauten des Sonnenbergs, die sanierten Altbauviertel von Chemnitz, wähnt man sich dagegen im Wohnungsparadies. Und hinter jeder fünften Scheibe fragt ein Schild: „Wohnung gesucht?“

Eine sanierte Drei-Zimmer-Wohnung, Altbau mit Balkon und Stellplatz kostet 450 Euro warm. Nimmt man den durchschnittlichen Mietpreis, ist Chemnitz die günstigste Großstadt Deutschlands. Nur etwas mehr als 6 Euro kostet dort der Quadratmeter.

Kulturhauptstadt 2025

Eine Stadt Am 18. Januar startet offiziell das europäische Kulturhauptstadtjahr 2025. Chemnitz hatte sich mit dem Motto „C the Unseen“ um den Titel beworben. Man wolle „bislang wenig gesehene Seiten einer ostdeutschen Stadt und Region, die von Wandel, Widerstandsfähigkeit und Neuerfindung geprägt sind“ zeigen, heißt es auf der Kulturhauptstadt-Website. Eine neunköpfige Expert*innenjury, ausgewählt vom Europäischen Parlament, dem EU-Rat und der Europäischen Kommission, berät gemeinsam mit Juror*in­nen, die die Bewerberländer entsenden. Chemnitz hatte im Oktober 2020 den Zuschlag bekommen, gemeinsam mit 38 Kommunen aus Mittelsachsen, dem Erzgebirge und Zwickau. Partnerstadt – es werden immer zwei Kulturhauptstädte gewählt – ist die slowenisch-italienische Grenzstadt Nova Gorica.

150 Projekte wird es mindestens geben in der gesamten Region, mit rund 1.000 Veranstaltungen. Diese Projekte profitieren von Kulturfördermitteln aus Land, Bund und EU. In der Chemnitzer Innenstadt gibt es am Samstagabend eine große Bühnenshow zur Eröffnung, danach einen Rave auf dem Neumarkt. Die Clubs in der Stadt machen ebenfalls Programm. Auch über 2025 ­hinaus soll etwas vom Kulturjahr bleiben.

Ein Mädchen und zwei Jungen hocken im Treppenaufgang eines Gründerzeithauses, seit Jahren unrenoviert. Sie rangeln um eine halbe Kinderarmlänge mehr Platz, tippen wild auf einem Tablet. Im zweiten Stock befeuchtet eine Frau mit einem Drucksprühgerät die türkisfarbene Tapete, nebenan sind die Reste schon fast abgerissen. Von der Decke baumeln nackte Glühbirnen, in der Wand klaffen Löcher, Drähte sprießen wie Unkraut heraus.

Gina sitzt im Garten, ihren Nachnamen möchte sie nicht in den Medien lesen. Sie trägt Jogginghose und Arbeitsschuhe. An diesem Wochenende steht der erste Einsatz auf dem Sonnenberg an. Mit seinen prächtigen Gründerzeitbauten gilt der Sonnenberg als das Herz von Chemnitz. Künstle­r:in­nen haben sich hier niedergelassen, viele Menschen aus Einwandererfamilien leben dort. Am Fuß des Berges, in der Mitte der Zietenstraße, aus dem zweiten Stock eines Altbaus tönt Chemnitz in seiner Ambivalenz. Klaviermusik schallt aus einem offenen Fenster, Gangster-Rap aus einem anderen. In der Luft hat sich ein Teppich aus Gerüchen ausgerollt: Curry, frisch gebackene Nussschnecken, Zigarettenrauch. Großstadtflair in Beschaulich, angedeutet berlinesk, die Straßen aber meist leer.

Gina ist 34 Jahre alt und hat sich einen Traum erfüllt. In Leipzig oder Dresden wäre er wohl nicht wahr geworden. Mit ihrem Partner und vier befreundeten Paaren hat sie ein Haus gekauft, 600 Quadratmeter auf fünf Etagen. In ein, zwei Jahren möchten sie einziehen, jede Familie in eine eigene Wohnung. Etwas mehr als 150.000 Euro haben sie bezahlt. Von Erspartem und mithilfe der Mitglieder ihrer Wohngenossenschaft. Für die Sanierung greifen sie auf Bankkredite und Fördergelder der Stadt zurück.Vier Jahre stand die ehemalige Mietskaserne leer, davor war sie ein Frauenhaus. Blumen auf Wänden gezeichnet sind Zeuginnen einer vergangenen Zeit.

„Die Wohnungsnot in Leipzig hat mich immer mehr belastet“, sagt Gina. Dort müsse sie um eine Wohnung kämpfen, um einen Schulplatz für ihren Sohn. „Ich fühle mich in der anonymen Großstadt oft fehl am Platz.“

Geplant ist, dass täglich mindestens zwei Leute im Haus arbeiten. An den Wochenenden wollen alle anpacken. Einige haben die Stundenzahl in ihren Jobs reduziert, um zügig voranzukommen. Gina sagt: „Ich liebe den Gedanken, mich mit einem Kaffee an einen Tisch zu setzen, an dem schon jemand sitzt.“ Sich unterstützen, bei den anderen klopfen dürfen, wenn man sich austauschen möchte. Das ist die Idee. In anderen Großstädten ist häufig viel Geld nötig, um seine Ideen zu verwirklichen. Hier vor allem braucht man eines: Mut.

Sopran, die höchste Stimmlage, durchdringt den Raum im Dachgeschoss eines Altbaus in Chemnitz-Siegmar. Sara Alagha singt die Zeilen eines Liedes auf Arabisch, übersetzt heißt es „Nur ein paar Fotos“, begleitet von einem Freund am Flügel. Ein syrischer Musiker hat es für sie geschrieben. Es handelt davon, seine Heimat zu verlassen. Die Augen hält Alagha geschlossen, sie hat die Fingerkuppen von Daumen und Zeigefinger aneinandergelegt und wiegt ihre Hände hin und her.

Der Titel als Kulturhauptstadt soll der Versuch sein, von einem anderen Chemnitz zu erzählen

Sie ist 35 Jahre alt, im September 2015 floh sie von Damaskus nach Chemnitz. Alagha landete mit Hunderten anderen in einer Notunterkunft für Geflüchtete. Der Anfang war hart, erzählt sie. Immer dieser Regen und die Kälte. Einmal hing am Gartentor ein Zettel vom Nachbarn, darauf ein Satz auf Arabisch. „Wenn du dich näherst, wirst du meine Pistole sehen.“

Zum Ende des Ramadans im April veranstaltete Sara Alagha, die in Damaskus ein Opernstudium begonnen hatte und in Weimar weiter Gesang studiert hat, ein Konzert mit einem jüdischen Musiker. Ein Mädchen im Rollstuhl, Juden, Araber, Christen, Frauen mit Kopftuch und ohne, alte und junge Menschen, alle hätten zusammen getanzt, erzählt sie. Mit einem warmen Gefühl im Bauch sei sie nach dem Auftritt ins Auto gestiegen.

Inzwischen hat sie auch die deutsche Staatsbürgerschaft, ihr Mann ist Deutscher, sollten sie einmal Kinder bekommen, werden sie zwar deutsch sein. „Aber in Chemnitz“, sagt Alagha, „werden unsere Kinder die mit der syrischen Mutter bleiben.“

Im Alltag bekomme sie immer wieder mit, wie selbst kleine Kinder schon rassistische Parolen äußerten. Ist sie mit ihrer Mutter, die ein Kopftuch trägt, in Chemnitz unterwegs, höre sie häufig, wie Menschen sich abfällig über ihre Mutter äußern. Alagha sagt: „Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich in Chemnitz glücklich bin, würde aber auch lügen, wenn ich sage, dass ich mich nicht wohlfühle.“ Einerseits. Andererseits. Chemnitz schillert trotzdem.

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