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Außen ruhig, innerlich aufgewühlt: Die Stimmung in der alawitisch geprägten Hafenstadt Tartus ist angespannt Foto: Serena Bilanceri

Lage der Alawiten in SyrienEine Stadt im Zwielicht

Im syrischen Küstenort Tartus leben viele Ala­wi­t*in­nen. Auch Ex-Diktator Assad ist Alawit. Jetzt fürchten viele von ihnen Rache. Ein Besuch.

E s ist ruhig, so ruhig wie die Oberfläche des Meeres, das am Horizont hinter der Promenade schimmert. Warm wie die Sonne, die noch im Dezember bei Tageslicht die Haut umschmeichelt. Doch kleine Risse, winzige Kräuselungen, werden schnell sichtbar.

In der Küstenstadt Tartus, knapp eine halbe Million Einwohner*innen, die meisten von ihnen Ala­wi­t*innen, ist die Promenade fast menschenleer. In den Cafés und Restaurants, die mit ihren glänzenden Neonschildern die Flaniermeile säumen, bleiben die meisten Tische unbesetzt. Die privaten Generatoren, die ­gegen die allgegenwärtige Dunkelheit des Himmels ankämpfen und die Lokale mit grellem Licht füllen, rotieren quasi umsonst.

Ungewöhnlich sei das, sagen die Einheimischen in dem Touristenort. Selbst in der Nebensaison. Doch nicht so ungewöhnlich, wenn man die Ereignisse der letzten Tage bedenkt. Bis vor wenigen Wochen regierte in Syrien Baschar al-Assad, und zwar mit eiserner Faust: außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen von Dissident*innen, Massenhinrichtungen und Folter werden ihm vorgeworfen. Assad gehört der Minderheit der Ala­wi­t*in­nen an, ebenso wie viele Militärangehörige und die regimetreuen Milizen, die für ihre Brutalität berüchtigt waren.

Jetzt regiert in Syrien eine Übergangsregierung, die fast ausschließlich aus Funktionären aus Idlib besteht, der Hochburg der islamistischen Rebellengruppe HTS im Nordwesten des Landes. Bereits auf der Autobahn M 1 nach Tartus treffen Reisende am einzigen übriggebliebenen Checkpoint auf einen bärtigen Mann in Tarnfleck mit Kalaschnikow in der Hand, der in den Bus steigt und die Ausweise kontrolliert. Freundlich ist er. „Ich mache es ganz kurz, nur die Männer“, sagt er lächelnd. Eine Anspielung auf die endlosen Kontrollen der Assad-Ära. Was er wohl meint: Wir sind anders. Dann winkt er den Bus durch.

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Freundlicher Typ mit Kalashnikow

„Als ich in Damaskus war, habe ich die Stadt zunächst nicht wiedererkannt. Ich dachte, sie feiern die HTS, die uns nicht repräsentiert. Aber jetzt, hier in Tartus, erkenne ich alles wieder. Es ist meine Stadt“, sagt ein junger Mitreisender, der zum ersten Mal nach dem Machtwechsel in seine Heimatstadt zurückkehrt. Doch etwas ist anders in der kleinen Küstenstadt im Westen des Landes.

Die berüchtigten Checkpoints, mit denen die Stadt gesäumt gewesen sei, wie die Einheimischen erzählen, sind weg. Stattdessen sitzen bärtige Kämpfer in Camouflage und mit Sturmgewehr in Jeeps an der Hauptstraße. Eine Gruppe steht auf einem Felsen vor dem Meer, in der brackigen Luft, einer nimmt das Gewehr in Anschlag, macht Anstalten, auf die ruhige Oberfläche zu schießen oder vielleicht auf die Schiffe in der Entfernung, dann legt er die Waffe wieder beiseite.

Von der vorsichtigen, teils unbeschwerten, euphorischen Leichtigkeit, die in diesen Tagen in Damaskus herrscht, ist hier in Tartus kaum etwas zu spüren. Die Stadt ist für ihren Hafen bekannt. Hier hat die russische Marine seit 1971 einen Stützpunkt. Nach 2015 hat Russland dazu beigetragen, dass Assad mit an der Macht blieb.

Nun zieht die ehemalige Schutzmacht ihre Kriegsschiffe ab, eine Auswertung von Satellitenbildern durch die BBC zeigt es, Insider bestätigen den Abzug. Militärisches Personal ist allerdings noch an der Basis stationiert – laut informierten Quellen soll es auch durchaus Kontakt zwischen ihnen und den neuen Machthabern geben, und offenbar ohne bisherige Zwischenfälle. Wie lange noch sie dort bleiben werden, ist unklar.

Misstrauen gegen Alawiten

Viele Ala­wi­t*in­nen sind besorgt. Nicht zuletzt, weil Israel Assads Militärbasen im ganzen Land bombardiert. Manch einer fürchtet sich nun vor einer israelischen Invasion. Und vor der willkürlichen Rache im eigenen Land.

Ala­wi­t*in­nen sind eine religiöse Minderheit, die vorwiegend in Syrien lebt, mit kleineren Gruppen in der Türkei und dem Libanon. In Syrien machen sie etwa zehn Prozent der Bevölkerung aus. Ihr Glaube hat sich aus dem schiitischen Zweig des Islam entwickelt, doch die Beziehung zu anderen muslimischen Gruppen, vor allem den Sunnit*innen, war in der Vergangenheit teils angespannt. Andere muslimische Gruppen betrachten sie oft als „Ungläubige“. Das Geheimnis um ihre Rituale trug zum Misstrauen bei. Alkohol etwa ist bei ihnen erlaubt, Weihnachten sowie das zoroastrische neue Jahr werden zelebriert.

Im Jahr 1971 riss der Alawit Hafis al-Assad, Baschars Vater, die Macht an sich. Damit übernahm also eine Minderheit quasi die Kontrolle über die sunnitische Mehrheit. Ala­wi­t*in­nen bekamen leichter als andere Gruppen staatliche Stellen und stellten die Mehrheit im Militär. Massaker wie in Hama 1982, bei dem syrische Streitkräfte zwischen 10.000 und 40.000 Ein­woh­ne­r*in­nen töteten, schürten Ressentiments gegen die Gruppe.

Die jetzigen Macht­ha­be­r*in­nen sind sunnitischen Glaubens, HTS hat ihre Herkunft in einer Terrorgruppe, die al-Qaida nahestand – wenn auch ihr Anführer, Ahmed al-Scharaa, sich in den letzten Jahren vom Dschihadismus distanziert hat und nun den Schutz aller Minderheiten propagiert.

Che Guevara ohne Chancen

„Woran erkennt man einen Alawiten auf der Straße? Er sieht traurig aus“, witzelt ein junger Mann auf den Straßen der Stadt. Sun­nit*in­nen hingegen würden jetzt mit der Sonne um die Wette strahlen. Der junge Mann, wir werden ihn Ali nennen, stammt aus einer alawitischen Familie. Sein Vater war unter Hafis und dann Baschar al-Assad beim Militär, Luftwaffe. Der Sohn arbeitet jetzt für eine islamische Rebellengruppe, die mit der HTS sympathisiert. „Aber nicht als Soldat“, betont er mehrfach. Wo genau sie in der Region leben, sollen wir im Text lieber nicht verraten.

Ali sitzt jetzt im Halbdunkel auf einem Sofa aus rotem Samt im Wohnzimmer, das Gesicht durch den grellen Bildschirm seines Smartphones grünlich beleuchtet. Nur zwei Stunden Strom pro Tag gibt es derzeit in der Region. Er trägt einen akkurat gestutzten Bart. „Ich wünsche, ich wäre Sunnit“, sagt er provokativ. „Denn das Regime nutzte die Ala­wi­t*in­nen zum Kämpfen aus. Sie haben viele Sy­re­r*in­nen getötet.“

Die Zivilschutzorganisation Weißhelme zeigt Flagge in der Hafenstadt Tartus Foto: Serena Bilanceri

Ali trinkt einen Schluck ungesüßten Kaffee und zündet sich eine Zigarette an. Erleichtert sei er, dass Assad weg ist. Doch auch traurig, dass jetzt „Hardliner“ an der Macht seien. Ali sagt, er sei erschrocken und fühle zugleich ein Gefühl von Macht: „Sie denken, ich sei einer von ihnen.“

Seit Jahren in einer kommunistischen Organisation, hat Ali seine Kom­mi­li­to­n*in­nen in Sednaya und den anderen Gefängnissen Assads verschwinden sehen. Der Durst nach Rache an Assad sei stark gewesen. Er zieht den Pullover hoch und zeigt ein Che-Guevara-Tattoo, dann geht er in sein Zimmer und holt einen Sweater mit der Aufschrift „Anarchie“ aus dem Schrank. Ein eingerahmtes Bild von Che Guevara steht auf einem Regal, auf dem Bett daneben lag bis eben ein Maschinengewehr. Das seines Vaters aus der Militärzeit. „Er wollte es mir geben, aber ich lehnte ab“, sagt Ali. Er will nicht kämpfen. Lieber getötet werden als töten.

Angst vor der Scharia

Doch kommunistisches Gedankengut, Pazifismus, Trennung von Religion und Staat entsprechen nicht gerade der Ideologie der jetzigen Machthaber – selbst, wenn sie sich nun moderat geben. „Vielleicht hätte ich lieber neutral bleiben sollen“, sagt Ali nachdenklich. „Sie überzeugen die Menschen, dass sie moderat sind, aber ich denke nicht, dass es stimmt“, führt er fort. „Aber vielleicht irre ich mich.“

Ali sieht mal nervös aus, ein wenig hektisch, dann wieder fröhlich, fast übermütig und kurz darauf wieder todernst. Alle, die ihn gefragt haben, habe er beruhigt: Alles werde gut sein, die Neuen seien Brüder. Doch es scheint, als sei er selbst nicht ganz überzeugt davon.

Er fürchte sich vor einer Regierung, die islamisch geprägt sein könnte, sagt Ali, und in der Minderheiten keinen Platz haben. Er habe Angst vor einem Scharia-Gesetz. Vor einer Lage wie in Afghanistan, in dem sich die Machthaber zunächst gemäßigt zeigten, um dann wieder radikal-islamistische Politik zu betreiben. Vor einer weiteren Diktatur, nur unter anderer Flagge. Manche bei den Rebellen hätten noch alte „Al-Qaida-Ideen“.

Sie überzeugen die Menschen, dass sie moderat sind, aber ich denke nicht, dass es stimmt. Aber vielleicht irre ich mich

Ali, Alawit und Kommunist

Ob Alis Sorgen gerechtfertigt sind, ist derzeit schwer zu sagen. Noch herrscht Ruhe an der Oberfläche. Bisher geben sich die neuen Machthaber äußerst konstruktiv: Bereits wenige Tage nach der Machtübernahme der HTS stand die neue Übergangsregierung fest, die bis März regieren soll. Die Minister sind größtenteils männliche Sunniten. HTS-Chef Ahmed al-Scharaa hatte am Sonntag in einem Interview mit dem Fernsehsender al-Arabiya zudem Wahlen in Aussicht gestellt und angekündigt, die HTS in einem „nationalen Dialog“ auflösen zu wollen: Drei Jahre brauche man, um eine Verfassung zu erarbeiten, ein weiteres Jahr, um Wahlen zu organisieren.

Treffpunkt für Interellektuelle

Doch es gab auch bereits beunruhigende Nachrichten: Drei alawitische Richter sind in der Nähe der östlich von Tartus gelegenen Stadt Hama durch unbekannte Bewaffnete getötet worden. Das sorgte für Empörung unter der alawitischen Bevölkerung, obwohl noch unklar ist, aus welchen Gründen die Täter gehandelt haben. Ein Vorfall mit Alawiten, die offenbar aus einem Bus gezerrt und geschlagen wurden, war ebenfalls in den Medien. Die Täter sollen nicht dem HTS angehören.

Ali ist nicht der einzige Alawit, der sich nun Sorgen macht. „Als ich von Assads Sturz erfahren habe, am Sonntagmorgen, habe ich zunächst eine Flasche Wein geöffnet und getrunken“, erzählt Maysa al-Khalil und lacht. Dann habe sie ihrem achtjährigen Sohn in einfachen Worten erklärt, was Assad getan hatte und was gerade passiert. Er habe nur gefragt, ob sie nun aufhören können, „Lang lebe Assad“ in der Schule aufzusagen.

Maysa al-Khalil, 45 Jahre alt, leitet zusammen mit Ehemann Fadi Suleiman ein Café im Zentrum von Tartus. Al-Khalil, lockige, schwarze Haare und ein karierter Wollschal auf den Schultern gegen die Kälte, sitzt vor einem Glas Mate in ihrem Café. Neben ihr sitzt Suleiman, daneben Freunde des Paares. Alle wollen jetzt reden. Einige sind Intellektuelle, andere politische Aktivist*innen.

Auf diesen Augenblick haben sie lange gewartet. Ein Traum war es, sagt Suleiman. In dem Café verneinen sie vehement, unter Assad freier gewesen zu sein als andere Ethnien. Nein, nein!, rufen sie alle im Einklang. „Wir hatten kein Recht auf Meinungsäußerung, noch weniger als andere.“

Nur Schach, keine Revolution

Man könnte denken, die Gemeinschaft nehme die Opferrolle ein, um sich zu schützen. Doch frühere Berichte zeigen, dass Dissens durch die Ala­wi­t*in­nen kaum toleriert wurde. „Ich war 38 Jahre lang gegen das Regime“, sagt der 57-jährige Suleiman, schlichte Brille, grauer Bart und glattes Haupt, mit einem freundlichen Lächeln. „Ich wusste sehr wohl, was in den Gefängnissen passierte.“

Sieben Menschen, darunter eine Frau, hätten vor Jahren mal im Café über Politik geredet und freitags an Protesten gegen Assad in Hama teilgenommen, erzählt er. Die Polizei sei gekommen und habe sie verhaftet. Alle seien gefoltert worden, hätten sie ihm später berichtet, unter anderem mit Elektroschocks.

Maysa al-Khalil und Fadi Suleiman betreiben ein Künstlercafé. Ihr Leben sei unter Assad nicht freier gewesen als das anderer, sagen sie Foto: Serena Bilanceri

Das Café, so wünschen es sich die Betreiber, soll ein freier Raum sein. Jede Identität, jedes Gender erlaubt, eine „Zivilisierungsgemeinschaft“. Die Einrichtung besteht fast ausschließlich aus Holz. Handgemacht, sagt Suleiman. Bücher füllen die Regale, Kunstbilder hängen an der Wand, Handschriften zieren die Fenster. Nur Schach ist als Brettspiel erlaubt, nur Jazz, Flamenco und klassische Musik werden gespielt. Keine Revolutionslieder, sicher ist sicher.

Jeden Tag komme jemand vom Geheimdienst vorbei. Die HTS formiert den Sicherheitsdienst gerade neu, die Spitzen wurden bereits durch treue eigene Gefolgsleute ausgetauscht. Der neue Geheimdienstchef, Anas Chattab, arbeitete laut Medienberichten im Irak für den IS und steht auf der Terrorliste der USA. Doch jetzt haben sie keine Angst mehr. Nach mehr als 30 Jahren Diktatur, was kann noch schlimmer werden?

Frauenrechte in Gefahr

Al-Khalil sagt, sie mache sich Sorgen wegen der künftigen Frauenpolitik. Das einzige weibliche Mitglied in der Übergangsregierung, Aysha al-Dibs, hat bereits verlauten lassen, Frauen sollten nicht „die Prioritäten ihrer natürlichen, gottgegebenen Natur überschreiten“ und sich ihrer „erzieherischen Rolle in der Familie“ bewusst sein.

Bislang, sagt Al-Khalil, sei zwar nichts Schlimmes passiert. Aber wenn, dann „werden wir eine neue Revolution organisieren“, gibt sie sich zuversichtlich. Draußen fährt ein Pickup mit Gasflaschen am Café vorbei, die Gäste stehen auf und rennen auf die Straße. „Sorry, aber es gibt kaum Gas“, murmelt ein Mann. Ein weiterer Riss in dem ruhigen Bild der kleinen Küstenstadt.

In einem Wohngebäude im Zentrum der Stadt geht Asmaa, die in Wahrheit anders heißt, still und in der Dunkelheit die Treppen hinauf. Nur das Licht der Handylampe wirft seinen Strahl auf die vernachlässigten Mauern, den staubigen Boden.

In der schlichten, doch liebevoll eingerichteten Wohnung zieht die Kälte durch die undichten Fenster, der Kühlschrank steht gefüllt in der Küche – doch eher als Dekoration denn als Kühlgerät. Der Strom, um ihn am Laufen zu halten, fehlt den größten Teil des Tages. Gas gibt es gar nicht. Auf dem Küchentisch steht ein kleiner Vierfuß aus Eisen, in der Mitte ein paar Holzplatten mit einem Loch für ein Feuer: eine Art Campingherd, den Asmaas Mann zum Kochen gebaut hat. Es liegt ein Geruch von verbranntem Holz in der Luft.

Arm waren auch die Alawiten

Asmaa, perfekt geschminkt und mit einem sanften Lächeln sagt, es sei eine Angst vor dem Ungewissen. Assad hatte sich schließlich Jahre lang als Beschützer der Minderheiten inszeniert. „Die HTS gibt Statements ab, aber das, was wir sehen, ist anders. Die Regierung besteht nur aus einer Gruppe, alle anderen sind marginalisiert. Führt dies zu einer islamischen Regierung?“

Asmaa gehört eigentlich der oberen Mittelschicht an. Sie arbeitet in einer Bank, der Ehemann hatte eine staatliche Stelle. Doch ein guter Lohn in Syrien bedeutet nur etwa 25 US-Dollar im Monat, viele stocken durch Nebenjobs auf, um sich über Wasser zu halten. Oder sie leben von dem Geld, das nach Europa und in die Golfstaaten emigrierte Verwandte nach Hause schicken.

Auch unter den Ala­wi­t*in­nen leben viele unter der Armutsschwelle. Traditionell arbeiteten sie als Landwirt*innen, Schäfer*innen. Nur einige hätten von Assads Regime profitiert, erzählen sie. Verlässliche Statistiken sind schwer zu finden, doch ein Blick in die Stadt, in der schicke Hotels neben maroden Wohnhäusern und aufgetürmten Müllsäcken existieren, ergibt ebenfalls ein Bild.

Wir gingen nicht zur Armee, um Menschen zu töten. Wir taten es, um uns und unsere Familien zu verteidigen

Alis Vater diente unter Assad

Diese Armut, finden manche Alawit*innen, sei kein Zufall. Sie diente dem Regime, trieb die Männer in die Armee. Das findet auch der 26-jährige G. T. Der junge, schlaksige Mann in Sweater und Sportjacke war vier Jahre bei Assads Militär. Zuletzt, als das Regime fiel, in Deir ez-Zor im Osten des Landes. „Ich schäme mich ein wenig. Aber ich hatte Träume. Ich wollte Musik machen. Und Ausstattung ist teuer für uns.“

Vom Haschdealer zum Soldaten

Aus einer Familie stammend, die seine kreative Seite stets unterstützte und Wert auf Bildung legte, erzählt T. in makellosem Englisch von Kämpfen mit seinen Eltern, die über seine Berufswahl besorgt waren, die wollten, dass er Ingenieur werde und dann ins Ausland gehe. Dass er sich an der Uni immatrikuliert habe, nur um den Militärdienst zu umgehen. Doch dann fällt er durch die Prüfungen, der Wehrdienst droht. Zehn Monate lang versucht T. nicht aufzufallen, reist nicht, um nicht an den Checkpoints kontrolliert zu werden. Dann fing das mit den Drogen an.

T. erzählt lang und detailreich. Syrien ist als Captagon-Land berüchtigt, mit dem Schmuggel der Aufputschdroge soll sich das Regime finanziert haben. „Ich mochte es nie. Aber ich begann mit Haschisch. Es nahm mich aus dieser Scheißrealität raus, in der ich lebte.“ Haschisch war günstig, T. wittert seine Chance, damit Geld zu verdienen. Und wird mit 20 Jahren zum Dealer. „Ich war meinem Traum so nah“, sagt er. Hunderttausend syrische Pfund pro Woche, umgerechnet etwa 7 US-Dollar, verdiente er. Doch dann wird er erwischt, jemand hat ihn verpetzt. Er wird verhört, mit Plastikrohren geschlagen.

T. nimmt einen Zug von seiner Zigarette. „Ich war dumm“, sagt er jetzt. Dann bringt ihn die Polizei zur Militärbasis in Deir ez-Zor. Sechs Monate lang muss er sich einem harten Training unterziehen, wird nackt mit kaltem Wasser übergossen, gedemütigt. „Sie wollen dich brechen.“ Dann wird er auf der Basis stationiert. Ein Glück. Denn jetzt wird T. gut behandelt.

„Ich hatte bessere Bedingungen als zu Hause. Ich habe mein Leben aufgebaut. Es war das Beste, was mir je passieren konnte.“ Es gibt Strom rund um die Uhr, T. schmuggelt einen Laptop rein. Außerhalb seiner Wachdienste arbeitet er an seiner Musik und testet über Proxy-Server, die seine Identität verschleiern, für US-amerikanische Unternehmen Webseiten auf Kundenfreundlichkeit. Er verdient gutes Geld, mehrere hundert Dollar pro Monat, lebt „sein bestes Leben“. Doch dann fällt Assad.

Bedrängt in der Wüste

„In unseren Köpfen war das Wort „Rebell“ mit Menschen verbunden, die dir die Kehle durchschneiden“, erinnert er sich. Wenige Stunden bevor das Assad-Regime zusammenbricht, am 8. Dezember, telefoniert T. mit seiner Freundin in Homs: „Homs ist gefallen“, sagt sie. Die Soldaten in Deir ez-Zor beginnen einzupacken, machen sich für die Flucht bereit. Sie suchen nach Wagen, einige Generäle sind bereits geflohen. „Panik brach aus“, erinnert sich T. Menschen springen auf Lkws, um zu fliehen, alle sind dicht zusammengepfercht. Doch bald muss der Konvoi umkehren, die Straße ist gesperrt, sie werden eingeholt – von den Rebellen.

Die Soldaten geben Gas, aber die Straße mitten in der Wüste ist eng. Die Wagen schwanken auf der Straße, Soldaten fallen aus den überfüllten Pickups. Die Rebellen schießen in die Luft, holen die Wagen ein, befehlen anzuhalten. „Alle hatten Angst. Sie stoppten fünf, sechs Wagen, und wir fuhren zurück nach Deir ez-Zor.“ T. sagt, einige Soldaten seien im Chaos überfahren worden. Manche würden heute noch vermisst. „Es war das erste Mal, dass ich so was in meinem ganzen Leben sehe.“ In der Wüstenstadt bleibt T. neun Tage. Dann, endlich, kehrt er auf Umwegen über den Norden des Landes nach Hause zurück.

Seit zwei Tagen ist T. nun wieder hier in Tartus. Noch hat er seine Erlebnisse nicht ganz verarbeitet. T. zeigt ein Bild vom 8. Dezember von Soldaten in einem offenen Pickup, die trockene Fertignudeln aus der Packung essen. Er gestikuliert viel beim Erzählen. Jetzt will er als Rapper arbeiten, als Musikproduzent. Doch keine einzige Zeile hat er geschrieben, seit er zurück ist. „Ich muss es noch begreifen. Aber ich bin hoffnungsvoll.“

Vor dem Regierungsgebäude in Tartus stehen jeden Tag dutzende Männer wie er Schlange, teilweise älter, ärmer. Sie waren Soldaten und wollen jetzt ihre Waffen abgeben, einen Ausweis für Zivilisten bekommen. Die Übergangsregierung hat dies angeboten, eine Versöhnungs- und Kontrollgeste.

Vater-und-Sohn-Gespräche

Ali ist inzwischen von seiner Schicht nach Hause zurückgekehrt. Sein Vater schaut gerade fern, in den Nachrichten laufen die Bilder aus dem Foltergefängnis Sednaya. Er verteidigt das Regime. „Schau auf Sednaya, was sie getan haben!“, sagt der Sohn. Der ältere Mann mit grauem Schnurrbart blickt mürrisch und schüttelt den Kopf.

Der Vater widerspricht dem Sohn: „Wir gingen nicht zur Armee, um Menschen zu töten. Wir taten es, um uns und unsere Familien zu verteidigen. Wir kämpften gegen Israel, nicht gegen das syrische Volk.“ Der Sohn erwidert: „Wir sind im Namen Alawit*innen, aber vor allem eines: Syrer*innen.“ Der Vater, mit einem Schmunzeln: „Mein Sohn ist Sunnit geworden.“

Er steht auf und holt ein Buch über die Geschichte des Militärs aus einem Regal, auf der Rückseite lächelt Hafis al-Assad. Der Vater betont, er sei mehrere Jahre vor dem Krieg in Rente gegangen. Damit habe er nichts zu tun gehabt. „Assad ist jetzt weg“, antwortet er auf die Frage, was er von ihm hielt. Das Buch verschwindet wieder schnell in die hinteren Reihe des Regals.

Vater und Sohn reden über die Sorge, dass Angehörige von im Kampf getöteten Soldaten ihre Renten und Jobs verlieren könnten, womöglich ohne eine Entschädigung zu erhalten. Sohn: „Hattest du Mitleid mit den Menschen in Idlib, als sie bombardiert wurden?“ Vater: „Hatten sie Mitleid mit uns? Meinen Cousin habe ich in Stücken zurückbekommen.“ Sohn: „Wer hat es getan?“ Vater: „Der IS.“ Sohn: „Die HTS-Rebellen haben nichts mit dem IS zu tun.“

Plötzlich ist der Strom weg, die Geräte hören auf zu surren. Die Debatte ist zu Ende. Vater: „Was hat sich jetzt mit der Revolution geändert? Wir haben immer noch keinen Strom, es gibt keine Medikamente.“ Und auf die Frage, ob dieses Gezänk bei jedem Familientreffen stattfinde, seufzt der ältere Mann: „Jedes Mal.“

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4 Kommentare

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  • "Das einzige weibliche Mitglied in der Übergangsregierung, Aysha al-Dibs, hat bereits verlauten lassen, Frauen sollten nicht „die Prioritäten ihrer natürlichen, gottgegebenen Natur überschreiten“ und sich ihrer „erzieherischen Rolle in der Familie“ bewusst sein."

    Höcke sagt ziemlich exakt dasselbe, und sogar nahezu wortgleich, und auch bei CDU/CSU wird es von Vielen zumindest gedacht. Auch vom wahrscheinlich nächsten Regierungsoberhaupt der BRD.

  • Wenn es stimmt, dass die Alawiten mit dem alten Assad-Regime identifiziert werden, muss man sich doch wundern, dass es bisher nicht zu heftigeren Gewaltexzessen gekommen ist. Aber wahrscheinlich ist die Wahrheit vielschichtiger, wer in der syrischen Bevölkerung Nutznießer oder Handlanger der Diktatur war, als dass man es nur einer einzigen Bevölkerungsgruppe zuschreiben kann.



    Ein Unrechtsstaat kann nicht alleine durch Repression und Gewalt überleben, es braucht auch zahlreiche Helfershelfer und Leute, die vom System profitieren. Das sollten wir Deutschen aus unserer eigenen Geschichte wissen.

    • @Abdurchdiemitte:

      Alawit*innen wurden in Syrien "volkstümlich" als Stützen des Regimes angesehen; die Wahrheit war natürlich, das sehen Sie schon ganz richtig, wesentlich differenzierter: Assads Regime war im Kern ein klassischer Mafiastaat bzw am Ende nur noch eine Narco-Guerilla wie Escobars "Privatfürstentum" in Medellin. Ausschlaggebend für einen Job bei Team Assad war nicht die religiöse/ethnische Zugehörigkeit, sondern die kriminelle Energie. Dass die bei vielen der historisch marginalisierten Alawiten höher war (weil sie gezwungen waren, für ein würdiges Leben auf die Schattenwirtschaft zurückzugreifen), ist kaum verwunderlich: In der Mandatszeit zwischen den Weltkriegen gab es einen (von Frankreich etablierten) Alawitenstaat. Aber die Großgrundbesitzer waren auch dort idR sunnitisch. Assads Regime war eine Spätfolge davon.

      Wir haben hier einen sehr vielsagenden Test, in welche Richtung sich das Land entwickelt: es wäre viel leichter für die neuen MachthaberInnen, die alawitische Minderheit als Sündenböcke abzustempeln, als mit rechtsstaatlichen Mitteln eine exakte Untersuchung individueller Schuld und Unschuld durchzuführen.

  • Strafrecht mag individuell sein, aber Politik ist immer pauschal. Also haben alle Alawiten Grund zur Furcht. Wenn sich jemand rächen will, wird er vermutlich nicht genau kontrollieren, ob jetzt der konkrete Alawit vor seiner Kalaschnikow zufällig nicht ein Unterstützer von Assads Terrorherrschaft war. Alles andere erfordert eine funktionierende Zivilgesellschaft, die es in Syrien bisher noch nie gegeben hat. Die einzige Hoffnung besteht darin, dass die Syrer vom andauernden Krieg und Bürgerkrieg inzwischen so erschöpft sind, dass sie nach anderen Wegen suchen. Der neue Machthaber klingt zumindest so. Das würde einen krassen Bruch mit seiner Al-Queida-Vergangenheit bedeuten.