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Politischer Burn-out

Torsten Pötzsch war fast 15 Jahre lang Oberbürgermeisterin der Lausitz und hat versucht, sich nicht von Rechten einschüchtern zu lassen. Jetzt kann er nicht mehr. Die Geschichte eines Abgangs

Torsten Pötzsch auf dem Gelände einer alten Glasfabrik in Weißwasser, jetzt ein Sozio­kulturelles Zentrum. Die AfD im Stadtrat erwirkte eine Kürzung der Fördermittel

Aus Weißwasser/Oberlausitz Thomas Gerlach (Text) und Pawel Sosnowski (Foto)

Am Martinstag hat Torsten Pötzsch begriffen, dass seine Amtszeit abgelaufen ist. Fünf Tage zuvor hatte er sein Bürgermeisterbüro im Rathaus von Weißwasser geräumt. An jenem Nachmittag lief Pötzsch über den Markt, sah im Ratssaal Licht brennen und wusste, dass sich dort der Haupt- und Sozialausschuss versammelt. „Jetzt würdest du da oben sitzen“, sei es ihm durch den Kopf geschossen, wie er erzählt. Wie oft hat er dort gesessen? Hundertmal? Zweihundertmal? „Ist echt schwierig, loszulassen“, murmelt er. Das alte Leben ist vorbei. Pötzsch ist 53 Jahre alt. Eine halbe Stunde nachdem er an dem erleuchteten Ratssaal vorbei ist, findet er sich in seinem neuen Leben wieder: Da mischt er sich mit Tochter und Sohn in den Martinsumzug der Stadt.

Völlig überraschend hatte Pötzsch, seit 2010 Oberbürgermeister der 15.000-Einwohner-Stadt Weißwasser in Ostsachsen, im Juni die Kandidatur für seine dritte Amtszeit zurückgezogen. Zuvor hatten ihn Freunde bekniet weiterzumachen. Und falls er doch hinschmeißen sollte, hatten sie ihn davor gewarnt, die wahren Beweggründe offenzulegen.

An einem Morgen im Juni aber schickt Torsten Pötzsch eine E-Mail in die Welt, in der er seinen Verzicht bekannt gibt und persönlich wird. Kurz darauf fragt ihn ein Journalist in einer SMS, ob er gerade „Fake News“ aufgesessen sei. Nein, klärt Pötzsch auf, alles richtig, alles wahr. Auch dass ihn seine Lebensgefährtin mit den beiden Kindern von heute auf morgen verlassen habe und ihm den Rückhalt aufkündigte. Den aber brauche er für sein Amt, und auch, um die Anfeindungen auszuhalten, den ganzen Müll in den digitalen und analogen Postkästen, die Angriffe von rechts – alles, was Pötzsch in 14 Jahren Amtszeit ertragen hatte. Die Krücken, an denen er damals gehen muss, sind nur ein äußeres Zeichen dafür, dass der Bürgermeister innerlich zerbrochen ist.

Im August stand nach alter Planung der Wahlkampf um das Bürgermeisteramt an. Aber in seinem neuen Leben muss sich Pötzsch mit dem Sorgerecht für seine Kinder herumschlagen, und sich mit seiner nunmehr ehemaligen Lebensgefährtin auf Unterhaltszahlungen einigen. Außerdem erwartet ihn eine Bandscheiben-OP.

Als der Herbst in den Winter übergeht und der Nebel alles in einen trüben Schleier taucht, steht Torsten Pötzsch, eingemummelt in eine Holzfällerjacke, vor dem Bahnhof von Weißwasser. Die Krücken sind weg. Er scheint festen Halt gefunden zu haben, nicht nur physisch. Wie er so dasteht mit seiner Lockenpracht wirkt er wie ein Naturbursche aus den umliegenden Wäldern. Doch als er zu reden beginnt, spricht der Kommunalpolitiker.

Pötzsch redet über das alte Bahnhofsgebäude, das er vor Jahren ersteigern ließ. Es wird umgebaut. Lärm von Bohrhämmern dringt nach außen. Der Bau ist eingerüstet. Die Touristen-Info, der Ticketverkauf und die Stadtbibliothek sollen dort hinein. Die Stadt soll ein ansprechendes Entree bekommen. Plötzlich ruft es hell: „Guten Morgen!“ Im Vorbeigehen grüßt ein Mann. „Ach, hallo!“, gibt Pötzsch zurück und ist angetan. Man kennt ihn in Weißwasser. „Das wird einem fehlen“, sagt er. „Aber wer weiß, wie lange das noch anhält“, schiebt er nach. Das klingt distanzierter. „Ist ein komisches Gefühl jetzt“, sagt er noch und redet schon weiter über die älteste Glashütte der Stadt von 1873, die als Ruine in Sichtweite steht und damals nach einer anfänglichen Pleite von erfahrenen Glasmachern aus Schlesien profitabel gemacht wurde.

So profitabel, dass binnen 30 Jahren zehn weitere Glashütten in Betrieb gehen und aus dem Dorf im Niemandsland an der Neiße einen der größten Glasstandorte weltweit machen. Die Grundstoffe – Sand, Holz, Ton und Braunkohle – sind im Überfluss vorhanden. Die unzähligen Schornsteine künden vom Aufschwung. Glas aus Weißwasser erobert die Welt – als Vasen, Lampen, Weinkelche, Einweckgläser, Gärballons, aber auch als Glühbirnen, Elektronen- und Bildröhren. Zur Erinnerung erhebt sich vor dem Bahnhof der Glasmacherbrunnen, der vier Glasbläser konzentriert bei der Arbeit zeigt. Hinter dem Bahnhofsgelände ragt die Ruine der legendären Glashütte auf. Die neuen Pläne für das alte Gelände hat Torsten Pötzsch als Oberbürgermeister eingetütet. Sie erzählen viel von der Art, wie der Seiteneinsteiger Kommunalpolitik betreibt.

Hinter die Ruine wird die Bafa, eine Bundesbehörde, derzeit noch verteilt über die Stadt, in einen Neubau ziehen. Die Bafa, das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle aus dem hessischen Eschborn, hat 2020 eine Außenstelle in Weißwasser eröffnet. Mit insgesamt 5.000 Behördenarbeitsplätzen will der Bund den Strukturwandel in den Kohlerevieren unterstützen. 300 von ihnen arbeiten schon in Weißwasser.

Es ist ein Coup, den Pötzsch und seine Freunde von der Wählervereinigung Klartext und mit Unterstützung von Abgeordneten eingefädelt haben. Es war die Zeit, als die PKW-Maut, das Lieblingsprojekt von CSU-Verkehrsminister Andreas Scheuer, die Nachrichten beherrschte. Irgendwo muss doch die Maut dann auch abgerechnet werden, fragte sich einer aus Pötzschs Umkreis. Warum nicht in Weißwasser?

Aus der Frage wurde eine Idee, aus der Idee ein Antrag. Nach dem Antrag kamen Besuche, dann folgte die Entscheidung. Und dann beerdigt der Europäische Gerichtshof sang- und klanglos die Maut. Der Traum von der Bundesbehörde in Weißwasser schien vorbei. Inzwischen aber setzt die Bafa von hier aus unter anderem Förderprogramme für effiziente Gebäude und für Elektromobilität um, Nachhaltigkeitsprojekte. Auf ihrer Homepage macht sie Werbung für Weißwasser mit seinem Zoo, dem Glasmuseum und der Waldeisenbahn.

Hinter der Industrieruine wird sich in fünf Jahren der neue Bafa-Bau erheben. Und wenn man schon über die Zukunft redet, dann will Pötzsch auch von den Karbon-Yachten erzählen. Ein deutscher Unternehmer ist dabei, seine Ideenschmiede von Dubai nach Weißwasser zu verlegen. Dubai? „Ja, klar“, sagt Pötzsch trocken. „Er hat derzeit ein altes Autohaus angemietet, will aber hier nebenan Boote aus Karbon bauen, die nur ein Drittel so schwer sind wie andere Bootsrümpfe. Passt doch prima zur Nachhaltigkeit. „Das ist das, was wir wollen.“

Den Umbrüchen zum Trotz

Der Bootsbauer, erklärt Pötzsch, ist ein Ururenkel der ersten Glasfabrikanten aus Schlesien. Ein Familientreffen der Nachkommen führte ihn 2008 erstmals nach Weißwasser. Die Ruine der Glashütte soll erhalten bleiben, erklärt Pötzsch, soll begehbar und beleuchtet werden, sodass man die Kulisse auch vom ICE aus erblicken könnte, der irgendwann von Berlin ins polnische Breslau rauschen soll. Die zwei Jahrhunderte Industriekultur sollen von einer Stadt künden, die sich, aller Umbrüche zum Trotz, nicht aufgegeben hat. So schließt sich der Kreis.

Nichts ist für immer. Vieles in Weißwasser kündet davon, nicht nur das Glas, auch die Braunkohle. Im nahen Boxberg ging 1979 das damals größte Braunkohlekraftwerk Europas ans Netz, gleich nebenan klafft der Tagebau. Weißwasser schwoll bis zum Ende der DDR auf 38.000 Einwohner an. Heute sind es weniger als die Hälfte, rund 15.000. Ganze Neubauviertel wurden abgerissen. Wo früher Stadt war, wachsen heute Kiefern. Ein Shopping-Center, einst mitten im Wohngebiet, steht nun im Wald – ein Sinnbild für den Strukturbruch.

Dieser permanente Umbau kann Menschen, selbst wenn sie Gestaltungswillen haben, irgendwann aus der Bahn werfen. Gilt das auch für Torsten Pötzsch? Was war das eigentlich in diesem Jahr? Es war eine große Ehre, als er im Januar nach Washington eingeladen wurde zur United States Conference of Mayors, der 92. Konferenz der US-Bürgermeister, einer Institution der US-Kommunalpolitik. Pötzsch, der Optimist, berichtete zum Thema Demokratie und Kommune aus der Perspektive von Weißwasser.

Pötzschs Werdegang dürfte den Amerikanern gefallen haben: Da wird 2010 der Geschäftsführer der örtlichen Wohnungsgesellschaft, der auch als DJ auftritt und als Eventmanager erfolgreich war, mit 39 Jahren Oberbürgermeister in seiner Heimatstadt. Ein paar Jahre zuvor hat er mit Freunden Klartext gegründet. Ihr Credo: Einmischen, gestalten, auch kämpfen – für ein lebenswertes Weißwasser. Pötzsch, so viel ist sicher, ist ein politischer Selfmademan.

Bereits im Dezember 2023 hatte Pötzsch angekündigt, am 1. September 2024 erneut als Oberbürgermeister anzutreten. Schließlich wolle er seine Ideen und Projekte fortsetzen, die er angeschoben hat, etwa den Bahnhof und die Industriebrache Glashütte. Und jetzt steht er da mit den Händen in der Jackentasche, erzählt, unverkennbar mit Wehmut in der Stimme, von seinen Projekten, die nun andere vollenden und für die sie sich vielleicht auch feiern lassen.

Pötzschs Nachfolgerin ist eine 44 Jahre alte Wirtschaftsgeografin, die vor zwei Jahren nach Weißwasser kam, in die SPD eintrat und eine steile kommunalpolitische Karriere hinlegte. Die Kandidatin von Pötzschs Wählervereinigung Klartext, Kämmerin im Rathaus, unterlag ihr ebenso wie der Bewerber der AfD, ein Musiklehrer. Recherchen des MDR legen nahe, dass der Lehrer ein Reichsbürger und Parteigänger des „Königreichs Deutschland“ ist und stützen dies mit einer Initiativbewerbung des Mannes beim „Königreich Deutschland“. Anhänger dieses Fantasiekönigs mit Namen Peter Fitzek haben sich 2022 in einem Schloss nahe Weißwasser eingenistet.

Wenn man Torsten Pötzsch reden hört, kann man schnell vergessen, dass sich die Oberlausitz nicht unbedingt als Ort für offene und liberale Kommunalpolitik hervorgetan hat. Wie etwa in Pötzsch’erstem Wahlkampf 2010, als ihn ein unbekannter Malermeister auf der Webseite der Regionalzeitung denunzierte, dass er als Geschäftsführer der Wohnungsgesellschaft bei Vergabe von Aufträgen Freunde bevorzugen würde. Pötzsch ließ das nicht auf sich sitzen und erstattete Anzeige, der Name des Meisters aus dem Dörfchen Gablenz vor den Toren Weißwassers: Tino Chrupalla, seit September 2021 gemeinsam mit Alice Weidel AfD-Vorsitzender.

14 Jahre, Dutzende Dienstaufsichtsbeschwerden und zwei Amtszeiten später ist Pötzsch so etwas wie ein Seismograf für politische Verschiebungen, die sich im Aufstieg des Gablenzer Malermeisters und seiner AfD manifestieren. Und dann sind da auch noch andere Sachen: Im Stadtrat von Weißwasser tuschelt man über eine Bestechung von Mitarbeitern. Gerüchte kursieren über angebliche Affären des Oberbürgermeisters. Es blieb ja nicht unbemerkt, dass Pötzsch ganze Nächte im Rathausbüro verbrachte.

Man muss ein dickes Fell haben in der Politik. Oder in die Offensive gehen. Oder beides. 2019 hat sich Pötzsch auf den Marktplatz gestellt und die „Gerüchteküche“ eröffnet, ein neues Gesprächsformat. Jeder, der will, kann ihn fragen, auch zu den Rathausnächten. In einer jener vielen Nächte, erzählt Pötzsch dort, habe er mit einer Mitarbeiterin die Bewerbungsunterlagen für ein Astroforschungszentrum zusammengestellt, das als Strukturwandelprojekt in die Lausitz kommen wird. Die Großinvestition geht dann aber nach Görlitz.

Am Rande einer „Gerüchteküche“ erwähnte Pötzsch gegenüber einem Journalisten, dass sich an seinem Bus neulich Radmuttern gelöst hätten. Dass bereits zwei fehlten, sei erst in der Werkstatt aufgefallen. Er habe der Sache keine allzu große Bedeutung beigemessen, sagt Pötzsch. Zuvor habe er einen NPD-Treff in einer alten Gaststätte am Rande der Stadt schließen lassen. Ihm war es gelungen, das Gebäude für die Stadt zu kaufen. Danach bestellt der Oberbürgermeister Bagger. Nach dem Abriss verzogen sich die Nazis. Ja, es habe Drohungen gegeben, erzählt Pötzsch.

Eine Zeitung berichtet darüber, die Geschichte mit den Radmuttern erreicht daraufhin höchste zivilgesellschaftliche Kreise. Torsten Pötzsch, der unerschrockene Bürgermeister, der gegen Hass und Spaltung antritt. Sehnt sich die Politik nicht nach solchen Vorbildern? Wenig später wird Pötzsch mit dem Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung geehrt, einer privaten Initiative, die auf Ex-Kanzler Helmut Schmidt zurückgeht. Demokratie lebe vom Gemeinsinn und der Kultur des Einan­derzu­hörens, „Torsten Pötzsch lebt genau das vor“, lobt der Laudator, der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, den Oberbürgermeister bei der Verleihung im Juni 2020.

In Weißwasser selbst melden sich auch andere Stimmen. Zweifel werden gesät an der Geschichte mit den Radmuttern. Frühere Rathausmitarbeiter, die im Streit mit dem Oberbürgermeister gegangen sind, treten als Kronzeugen auf, bekräftigen, dass es Pötzsch selbst sei, der dem Gemeinsinn im Wege stehe. So harmonisch, wie es Schäuble ausmalte, dürfte es in Weißwasser unter Torsten Pötzsch nie gewesen sein, auch nicht im Rathaus.

Wie auch? Man kann als Bürgermeister Ideen haben – aber der Stadtrat muss diesen Ideen zustimmen: bei Stellenbesetzungen, beim Haushalt, bei Bebauungsplänen. Der Stadtrat ist das Abbild der politischen Stimmung in der Stadt, nicht der Oberbürgermeister. Und die Stimmung verschiebt sich nach rechts.

Im Oktober hat Silvio Witt, der parteilose Oberbürgermeister in Neubrandenburg, seinen Rücktritt angekündigt. Letzter Anstoß war das Verbot des Stadtrats, weiterhin die Regenbogenfahne am Bahnhof zu hissen. Witt, mit einem Mann verheiratet, wird, enttäuscht von dem Beschluss, im Mai sein Amt aufgeben.

„Wenn so ein starker Mensch wie Torsten Pötzsch hinschmeißt, dann zieht das nach unten“, sagt Thomas Zenker, Oberbürgermeister von Zittau, am Telefon. Pötzsch war nicht nur wie Zenker Seiteneinsteiger in die Kommunalpolitik, beide waren Oberbürgermeister im Landkreis Görlitz. Beide sitzen in derselben Kreistagsfraktion. Pötzsch hatte wohl noch größere Kämpfe auszufechten als andere Bürgermeister, sucht Zenker nach Erklärungen – das fehlende Geld, der Kampf für Personal. Und dann der zermürbende Wettlauf um die Millionen aus dem Strukturwandelfonds der Europäischen Union – in einer Phase, in der sich etablierte Parteien aus dem ländlichen Raum zurückziehen, die SPD mehr als die CDU. Was dann bleibt, sind die blauen Gespenster.

Pötzsch schließt einen Nazi-Treff am Stadtrand. Kurz darauf lösen sich an seinem Auto die Radmuttern

Und bei den Kommunalwahlen vom 9. Juni 2024 ist die AfD erheblich stärker geworden, auch in Weißwasser. Klartext, zwar immer noch zweitstärkste Kraft, wurde gerupft. Alte Gegenspieler eroberten neue Mandate und mit sieben Sitzen triumphierte die AfD, die inzwischen mit den anderen Parteien durchaus auch mal gemeinsame Sache macht. Es wirkt, als wollten sie Pötzsch nachträglich einen Hieb versetzen.

Pötzsch lenkt sein Auto zu den Orten, wo er sich uneingeschränkt entspannen kann, die neue Eis-Arena etwa. Weißwasser, die Kleinstadt, hat einen Eishockey-Profiklub mit langer Tradition und großer Ausstrahlung, der derzeit in der 2. Bundesliga spielt. Richtig zu Hause ist Pötzsch aber auf dem Telux-Gelände unweit vom Markt, ein soziokulturelles Zentrum auf dem weitläufigen Areal der alten Glasfabrik Telux mit ihren Ziegelbauten. Kaum angekommen, winkt Pötzsch durch das Fenster einer Designwerkstatt, die sich auf Lasergravuren spezialisiert hat.

Etwas weiter hinten surrt ein 3D-Drucker, Schulklassen haben Tanzkurse und in der Hafenstube, einer Mischung aus Café, Bar und Kneipe, ist Gedränge, denn eine Gewerkschaftsgruppe hat Mittagspause. Das ist das Weißwasser, vom dem Pötzsch träumt: offen, kreativ, traditionsbewusst. Wie es für ihn beruflich weitergeht, lässt Pötzsch offen. Hier aber wird er sich auf jeden Fall weiterhin engagieren.

Doch einen Tag vor der Eröffnung des Zentrums hat die AfD-Fraktion im Stadtrat den Antrag gestellt, die Zuschüsse für Vereine der Wohlfahrt und der Jugendhilfe um 30 Prozent zu kürzen, rückwirkend für ganz 2024. Das hat auch das Zentrum getroffen. Die knappe Mehrheit für den AfD-Antrag haben zwei Stadträte erst möglich gemacht, die Pötzsch als Rathausmitarbeiter geschasst hatte, einer davon mit SPD-Parteibuch. Nun hat sich das finanzielle Risiko für das Soziokulturelle Zentrum Telux erheblich erhöht. Solche Zentren sind für Tino Chrupalla nichts als linksgrüne Biotope, die er trocken legen will. Bei einem Wahlkampfauftritt in Weißwasser hat der AfD-Chef das nochmals betont.

Torsten Pötzsch weiß an jenem Tag im November noch nicht, dass das Jahr mit dieser Niederlage ausklingen wird. Er steuert seinen Bus auf das Gelände einer anderen Glasfabrik. Zwar liefert sie nur noch die Zutaten an andere Glashersteller, aber immerhin. Etwas abseits, hinter Werkshallen und Förderbändern, sucht Pötzsch in einer großen Halde etwas Bestimmtes. Die filigranen, bauchigen Glaskolben, die zu Hunderten unversehrt herumliegen, beachtet er nicht. Dann endlich hebt er etwas in die Höhe. Es ist ein faustgroßer Klumpen erstarrtes Glas, der leuchtet wie Eis. „Damit habe ich als Kind gespielt.“

Wer in der Glasmacherstadt geboren ist, weiß, Glas ist nicht bloß fragil. Es kann auch unglaublich fest sein.

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