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Streit über Studie zu Pestizidvergiftungen

Eine Fachzeitschrift zieht nach Protest der Chemieindustrie ein Paper wegen angeblich falsch interpretierter Daten zurück. Ein unabhängiger Wissenschaftler und die Autoren kritisieren das

Mit rotem Tuch um Mund und Nase will sich ein ugandischer Bauer beim Spritzen schützen Foto: Isaac Kasamani

Von Jost Maurin

Nach Kritik der Chemieindustrie hat eine Fachzeitschrift eine Studie zurückgezogen, derzufolge es jährlich weltweit 385 Millionen unbeabsichtigte Vergiftungen durch Pestizide gibt. Das Magazin BMC Public Health aus dem Wissenschaftsverlag Springer Nature teilte mit, es habe „kein Vertrauen mehr in die vorgelegten Ergebnisse und Schlussfolgerungen“. Doch die Gründe bleiben auch auf Nachfrage bei der Redaktion vage. Ein nicht an der Sache beteiligter Wissenschaftler kritisiert die Zurückziehung und schließt Druck der Industrie auf die Zeitschrift nicht aus.

Laut der im Dezember 2020 erschienenen Studie sterben pro Jahr 11.000 Menschen beispielsweise durch Arbeitsunfälle mit Pestiziden, Suizide etwa wurden nicht mitgezählt. Die Untersuchung lenkte Aufmerksamkeit darauf, dass vor allem im Globalen Süden Landarbeiter Gesundheitsschäden durch Ackergifte erleiden. Manche Betroffene können nicht die Sicherheitsbestimmungen lesen, ihre Arbeitgeber schicken sie entgegen den Regeln kurz nach dem Spritzen auf die Äcker, Bauern in den Tropen tragen zuweilen keine Schutzanzüge, weil die Hitze sonst unerträglich würde. Zudem sind in Entwicklungsländern viele Pestizide zugelassen, die in der EU aus Gesundheitsgründen verboten sind – aber dennoch etwa aus Deutschland dorthin exportiert werden.

Doch die letzten globalen Zahlen zu unbeabsichtigten Vergiftungen durch Pestizide sind schon mehr als 30 Jahre alt. Deshalb werteten der Bio-Mathematiker Wolfgang Bödeker sowie drei andere Wissenschaftler im Auftrag des Umweltverbands Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN) neuere Angaben aus 157 Studien und einer Datenbank der Weltgesundheitsorganisation aus. Ihr Forschungsansatz hatte aber eine Schwierigkeit: Die Forscher wollten das jährliche Ausmaß berechnen. Manche Studien geben Vergiftungen der Befragten jedoch nicht für ein Jahr, sondern für längere Zeiträume an. Wenn also ein Landarbeiter in einer Erhebung die Frage bejahte, ob er jemals eine Pestizidvergiftung erlitten habe, könnte das bedeuten, dass dies einmal im Leben, einmal im Jahr oder mehrfach im Jahr passiert ist. Dennoch zählten die Autoren dies als einmal pro Jahr mit. Das legten sie auch in ihrem Paper offen. Ohne solche Studien wäre es noch schwieriger gewesen, genügend Daten aus 141 Ländern zu finden. Die unabhängigen Gutachter, die das Manuskript im Rahmen der Peer Review vor Veröffentlichung für die Redaktion analysiert hatten, kamen zu dem Schluss, dass die vorgelegten Belege die Schlussfolgerungen der Autoren stützen.

Aber inzwischen sieht die Redaktion von BMC Public Health das anders. Sie rechtfertigte die Zurückziehung im Oktober auf ihrer Website unter anderem damit, „dass die Annahme einer jährlichen Exposition für Länder, in denen der Zeitrahmen nicht angegeben ist, unzuverlässig ist“. Eine Expertenbewertung habe diese Bedenken bestätigt. Sie seien von einem nicht genannten Leser sowie einem in der Zeitschrift bereits im Oktober 2021 veröffentlichten Leserbrief vorgebracht worden. Zwei der Verfasser dieses Briefes arbeiten nach eigenen Angaben für den Pestizidhersteller Bayer, ein weiterer für den Branchenverband CropLife.

Die Studienautoren verteidigen ihre Daten. „Wir nehmen solche Untersuchungen trotzdem rein, weil wir aus Studien wissen, dass Pestizidvergiftungen mehrfach vorkommen in einer Saison, in einem Jahr“, erläuterte Bödeker der taz. Zwar könnten dadurch die Zahlen überschätzt werden, doch andersherum würde das Weglassen der Fälle „mit Sicherheit“ eine Unterschätzung verursachen, so der Forscher. Letzteres hält er für problematischer, weil es um die Gesundheit von Menschen gehe, die geschützt werden müsse.

Doch selbst wenn man die angeblich falsch interpretierten Untersuchungen weglässt, würde die Zahl der Vergiftungen dem Mathematiker zufolge kaum sinken: Im Konkreten sei die Interpretation von Angaben aus fünf Ländern angegriffen worden. Würde man die fraglichen Studien weglassen, so würde sich am Gesamtergebnis der Länder aber kaum etwas ändern, in zweien wäre die Zahl der jährlichen Pestizidvergiftungen sogar höher gewesen, rechnet Bödeker vor. Und hätte man die zwei Länder weggelassen, für die es nur diese Zahlen gab, hätte das den globalen Schätzwert lediglich um 0,6 Prozent verändert.

Aus diesen Gründen bezeichnen die Autoren die Zurückziehung ihres Artikels als „inakzeptabel“. Da die Kritik nicht schlüssig sei, habe die Redaktion ihre eigenen Regeln gebrochen, indem sie sich von dem Text distanziert hat. Das Magazin hätte lieber neutral bleiben und den Raum für eine öffentliche, wissenschaftliche Debatte über die Einwände bieten sollen, fordern die Studienautoren.

BMC Public Health hält sich nach eigenen Angaben bei Zurückziehungen an die Regeln des Komitees für Veröffentlichungsethik (Cope). Für diese Organisation sind „Retractions“ von Studien nach etwa simplen Korrekturen die schärfste Maßnahme. Die Hürden sind hoch: Voraussetzung seien „eindeutige Beweise dafür, dass die Ergebnisse unzuverlässig sind, entweder aufgrund eines schwerwiegenden Fehlers (zum Beispiel eines Rechenfehlers oder eines experimentellen Fehlers)“. Schwerwiegende Rechenfehler wirft die Redaktion den Autoren aber nicht vor.

Carsten Brühl, Ökotoxikologe an der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau, kritisiert die Zurückziehung des Artikels denn auch als „fragwürdig“. Die Methode der Studie sei „valide“, aber „natürlich sind das alles Hochrechnungen“. Die Autoren hätten sehr deutlich geschrieben, dass die Datenlage schwierig sei. „Man kann die Studie angreifen, aber warum man sie ohne ausführliche und transparente Begründung zurückzieht, verstehe ich nicht“, sagt der Professor, der auch das Bundesagrar­ministerium zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln berät.

Im Fachmagazin Nature etwa gebe es ebenfalls Artikel, die scharf kritisiert werden, aber sie würden nicht zurückgezogen. Vielleicht hätten Bödeker und Kollegen ein Worst-case-Szenario berechnet, meint Brühl. „Der normale Vorgang wäre, dass jemand anders die Daten der Autoren analysiert und dann in einem weiteren Artikel als Antwort andere Zahlen publiziert. Das haben die Kritiker aber nicht getan.“

Weil der Ökotoxikologe die Zurückziehung als intransparent und schlecht begründet ansieht, kann er sich nach eigenen Worten auch vorstellen, dass dahinter „eine Einflussnahme“ der Chemieindustrie stecke. „Die Wissenschaftler kommen extrem unter Druck.“ Sie müssten viel Zeit für ihre Verteidigung opfern und könnten kaum noch forschen. „Das ist die perfide Strategie, die dahinter steckt.“

Sicher ist: Die Verfasser des Leserbriefs, auf den sich das Fachmagazin beruft, arbeiten in der Pestizidbranche. Und diese feiert nun die Zurückziehung der Studie. Auch ihr Industrieverband Agrar schmähte die Untersuchung als ein „Schauermärchen ohne Substanz“. Die Lobbyorganisation suggerierte in einer Pressemitteilung, die Studie sei auch deshalb zurückgezogen worden, weil die Autoren schon einen Kontakt mit einer potenziell gefährlichen Substanz als Vergiftungsfall gezählt hätten. Davon steht aber sowohl in der öffentlichen Begründung des Magazins als auch in der Studie selbst kein Wort. Offen ließ der Verband, wie viele Millionen unbeabsichtigte Vergiftungen durch Pestizide es seiner Meinung nach pro Jahr wirklich gibt und ob es keinen Handlungsdruck für die Politik gäbe, wenn es beispielsweise „nur“ 200 Millionen wären.

Nach dem Komitee für Veröffentlichungsethik ist das Zurückziehen von Studien nach etwa simplen Korrekturen die schärfste Maßnahme

Peter Clausing, Co-Autor der Studie, findet zudem den Zeitpunkt „merkwürdig“: Die Zeitschrift zog den Artikel vier Jahre nach Erscheinen ausgerechnet dann zurück, als ein Bundestagsausschuss eine Expertenanhörung zu einem Exportverbot für Pestizide vorbereitete, die in der EU wegen Gesundheitsrisiken untersagt sind. In Unterlagen für die Anhörung wurde auch die Studie zitiert.

Natalie Pafitis, Chefredakteurin von BMC Public Health, wollte in einer Stellungnahme für die taz „aus Gründen der Vertraulichkeit“ nicht näher auf die Vorwürfe der Autoren eingehen. Zur Frage, ob ein Kontakt zur Redaktion Anlass für die Zurückziehung nach so langer Zeit war, und wer das war, antwortete die Zeitschrift: „Es gibt eine Reihe von Gründen, warum diese Prozesse gelegentlich länger als erwartet dauern können.“ Ein Bayer-Sprecher teilte der taz mit, nicht der Konzern habe in der Sache Kontakt mit BMC Public Health gehabt, sondern Crop­Life. Der Verband aber ließ bis Redaktionsschluss die Frage der taz unbeantwortet, ob es außer dem Brief weitere Kontakte zwischen CropLife und der Redaktion bezüglich der Studie gegeben hatte. Sowohl das Fachmagazin als auch CropLife dementierten diese Vermutung also nicht.

Misstrauen nährt auch die Tatsache, dass die Zeitschrift den Brief des anonymen Lesers nicht veröffentlicht hat, auf den sich die Redaktion beruft. Das Schreiben der Chemiebranchen-Mitarbeiter dagegen und die Antwort der Autoren darauf wurden publiziert. Ersteres streift die mutmaßliche Mehrfachzählung von Vergiftungen allerdings nur am Rande – nämlich in nur einem Satz.

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