: Erich Mielkes Frühstücksplan
Andrea Pichls „Wertewirtschaft“ im Hamburger Bahnhof erzählt vom Waren- und Geldtransfer zwischen Ost- und Westdeutschland während der deutschen Teilung. Die kritische Intervention ist auch ein Kommentar zu Beuys
Von Brigitte Werneburg
„Frühstück, 2 Eier, 4 1/2 Minuten köcheln, vorher anpicken“ steht in leicht verrutschter Schreibmaschinenschrift über dem Plan, der Kaffee, Milch, Marmelade, Brot und Butter auf dem Frühstückstisch von Erich Mielke genau verortet. Andrea Pichl hat ihn in der Stasi-Zentrale in Lichtenberg gefunden, fotografiert und abgezeichnet. Man könnte die kleine schwarz-weiße Bleistiftzeichnung als das große symbolische Bild von Andrea Pichls kritischer Intervention im Hamburger Bahnhof betrachten, bringt sie doch die Verhältnisse in der DDR hinsichtlich Konsum, Lebensstil und politischer Führung auf den Punkt.
Schließlich gehorchte der Konsum in der DDR nicht dem Markt und seinen Bedürfnissen, sondern dem Politbüro. Der Warenfetisch entsprang dem Mangel an Angebot und Qualität, nicht dem Marketing, also der wettbewerbsbedingten Verführungskraft der Produkte. In der DDR bedurfte es keiner besonderen Verpackung, um Seife oder Reis zu verkaufen, was Joseph Beuys 1980 dazu veranlasste, im Museum der Schönen Künste in Gent aus der DDR geschmuggelte „Wirtschaftswerte“, konkret Lebensmittel, in polemischer Absicht den prächtigen Ölgemälden der flämischen Meister gegenüberzustellen.
Den Waren- und Geldtransfer zwischen Ost- und Westdeutschland – und eine damit verbundenen Konsumkritik – greift auch Andrea Pichl in ihrer „Wertewirtschaft“ auf, ihren „Korrekturen“ der „Wirtschaftswerte“ von Joseph Beuys, gewissermaßen dem Hausherrn in der Kleihueshalle, in der sie ausstellt.
Bei den vier monochromen, tiefschwarzen Bungalow-Skulpturen, die sie hinter Beuys’ „Straßenbahnhaltestelle. A monument to the future“ (1976) in den Raum gestellt hat, handelt es sich um maßstabsgetreue Typen kleiner Fertighäuser aus den Katalogen der Genex Geschenkdienst GmbH. Adressat waren Westdeutsche, die dort Gartenhäuschen und andere begehrenswerte Güter für ihre Freund:innen und Verwandten im Osten kaufen und so wertvolle Devisen ins Land bringen sollten.
Die Schwarzbauten der in der DDR geborenen Künstlerin sind nicht nur kritische Erinnerung an den Genex-Geschenkdienst, sondern dienen auch als Ausstellungsräume. In einem thematisiert Andrea Pichl die Geschichte dieses Bautyps, ausgehend von den im Zweiten Weltkrieg entwickelten Behelfsheimen für die ausgebombte Bevölkerung, insbesondere dem vom Bauhäusler Ernst Neufert entwickelten „Kriegseinheitstyp“ von 1943, bis hin zum Systembau in der DDR und der weiteren, auch internationalen Verwendung von Plattenbauten, etwa in Dublin. Deren Verfall beziehungsweise die entsprechenden Provisorien und dekorativen Verschönerungen samt der Kommentierung durch Graffiti dokumentiert sie in einem anderen Bungalow über die Doppelprojektion mit Fotos aus ihrem Archiv.
Die bezaubernden Buntstiftzeichnungen im dritten Pavillon schließlich entzaubern das zuletzt gerne positiv gewürdigte Interior Design der DDR. In Serie gezeichnet und in Serie auch als Tapete an die Wände geklebt, offenbart sich nicht unbedingt schlechter Geschmack, sondern – im Stillstand der Muster und Modelle, in den ewigen fünfziger Jahren samt zunehmendem intellektuellen Qualitätsverlust in den siebziger und achtziger Jahren – eine Ästhetik der Anpassung und des Gehorsams. Wobei die Stasi, wer sonst, natürlich da und dort ausbrach und wie ein von Pichl gefundenes Foto zeigt, ihren Mitarbeitern Yoga-Kurse anbot – obwohl Yoga als esoterischer westlicher Unsinn verfemt war.
Die formale Eleganz und kluge Ästhetik von Pichls beeindruckender kritischer Intervention kommt exemplarisch in dem riesigen Vorhang zum Ausdruck, der den Raum so durchzieht, dass links und rechts je zwei Bungalows zu stehen kommen. Aus vielen brav gemusterten Stoffen zusammengesetzt, kommt er auf die stolze Größe von rund 100 Quadratmetern. Seine Monumentalität straft dann aber die dünne, lappige Stoffqualität Lügen. Kein Eiserner Vorhang mehr, nirgends.
Andrea Pichl: „Wertewirtschaft“, Hamburger Bahnhof, bis 4. Mai 2025
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