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Eine andere Geschichte des Elends

Der Erziehungswissenschaftler Daniel Burghardt analysiert eindringlich, warum das bloße Beharren auf Leiderfahrungen nicht zur Emanzipation führt

Von Martin Mettin

Kein Hunger mehr, keine Ungerechtigkeit, kein unnötiges Leid, stattdessen bessere Lebensbedingungen für alle: Seit dem 18. Jahrhundert motivierten diese Utopien progressive Politik, auch wenn über die Wege dorthin bisweilen heftig gestritten wurde. Doch angesichts des Elends der Gegenwart, das von den Verwerfungen der Pandemie über die Klimakrise bis hin zu den jüngsten Kriegen reicht, fehlt solche utopische Zuversicht.

Stattdessen verschaffen sich vermehrt diejenigen Gehör, die weniger an der Beendigung menschlicher Not interessiert sind als vielmehr an ihrer partikularen Leiderfahrung festhalten, weil sie sich davon Distinktionsgewinne und politische Legitimation versprechen. Diese ernüchternde Gegenwartsdiagnose ist der Ausgangspunkt des Innsbrucker Erziehungswissenschaftlers Daniel Burghardt, denn „die Position des Opfers verspricht Aufmerksamkeit und Authentizität“.

Allerdings führt das bloße Leiden weder moralisch noch politisch zwingend zu vernünftigen Positionen. Auf bemerkenswerte Weise liefert Burghardts Buch mit einem historisch gesättigten Begriff von Emanzipation ein Kriterium, zwischen sinnvollen und inhumanen Politisierungen des Leidens zu unterscheiden.

Durch seine essayistische Darstellung der jüngeren Geschichte – vom erschütterten Aufklärungsoptimismus nach dem Erdbeben von Lissabon über die proletarische Armut des 19. Jahrhunderts bis zu den sozialen und ökologischen Verwerfungen jüngeren Datums – erscheint das Leid unserer Gegenwart in neuem, beunruhigendem Licht.

Besonders deutlich wird das am Nahostkonflikt und den Ereignissen um den 7. Oktober 2023, die Burghardts Buch in Vor- und Nachwort rahmen. So verfalle etwa Judith Butlers Verteidigung terroristischer Gewalt und ihre pauschale Israel-Kritik in ein verheerend einseitiges Weltbild: „Ihr Kompass der Trauer steht neben einem postkolonialen Magneten, der die Sicht auf den globalen Antisemitismus verzerrt.“ Diese Stilisierung der vorgeblich schwächeren Position lenkt von einer unmenschlichen Politik des Elends ab. Hamas und Co instrumentalisieren das Leiden der Zivilbevölkerung, um ihren antizionistischen „Befreiungskampf“ zu rechtfertigen. Mit Emanzipation hat das nichts zu tun.

Daniel Burghardt: „Elend und Emanzipation“. Psychosozial Verlag, Gießen 2024, 146 Seiten, 19,90 Euro

Diese findet Burghardt vielmehr in der Marx’schen Ökonomiekritik, wonach sich mensch­gemachtes Unrecht grundsätzlich abschaffen ließe, weil es maßgeblich durch kapitalistisches Wirtschaften hervorgerufen wird. Allerdings haben sich die gesellschaftlichen Konflikte verschoben. So führt heute das Schulsystem zu neuen Formen sozialer Trennung: „Der Klassenkampf wird zu einem Klassenzimmerkampf.“ Während aktuelle Forschungen zum Klassismus besonders symbolische Diskriminierungen beanstanden, lässt sich aus Burghardts Analysen folgern, dass soziale Segregation erst aufhört, wenn die Gesellschaft auch ökonomisch gerechter wird.

Zwei Formen von Verdrängung erschweren jedoch laut Burghardt den Kampf für Gerechtigkeit. Zum einen werden die negativen Folgen wirtschaftlichen Wachstums an die Peripherie geschoben, was das Elend im Globalen Sünden mehrt. Zum anderen verinnerlichen und verdrängen die Menschen im Kapitalismus ihr gesellschaftliches Leiden. Anstatt für eine Humanisierung der Verhältnisse zu streiten, entwickeln sie sich zunehmend zu autoritären Rebellen.

Mit seinem hellsichtigen Buch erinnert Burghardt daran, dass die Überwindung des Elends mehr erfordert als nur Mitleid, nämlich tiefgreifende gesellschaftliche Transformationen. Zwar gelingt Einzelnen immer wieder die Emanzipation aus der Not, jedoch bleibt dies eine unfertige Befreiung, solange sie nicht als „kollektive Konstellation“ geschieht. Wo diese nicht absehbar ist, hilft nichts als Aufklärung darüber, was fehlt.

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