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: Im Land der Vielen

Foto: Fo­to:­ Livia Kappler

An meinem ersten Tag in Washington D. C. spaziere ich zum Weißen Haus, vor dem Touristen Selfie-Orgien feiern. Ich darf hier sein, weil ich ein Stipendium bekommen habe, das in Gedenken an den ehemaligen taz-Kollegen Daniel Haufler ausgeschrieben worden ist.

Vor dem Weißen Haus sitzt ein Schwarzer Mann unter einem Sonnenschirm, an dem er ein Plakat befestigt hat: Hört auf, euch zu hassen, weil ihr verschiedener Ansichten seid. Vor dem Zaun, der das Weiße Haus vom belebten Vorplatz trennt, protestieren an diesem Sonntag Frauen, die auf Transparenten fragen: Wie lange müssen Frauen noch auf Gleichheit warten, Herr Präsident?

Neben ihnen bringt sich eine Gruppe von Männern in weißen Gewändern in Stellung. Einer schreit eine Aufstellung durch ein Megafon, als wäre er ein Trainer und die kleine Demonstration ein Fußballspiel. Ich scheitere an ihrem Transparent und verstehe nicht, wofür oder wogegen sie protestieren. Die englische Übersetzung des Korans, die mir ein anderer anbietet, lehne ich freundlich ab.

Hinter dem Weißen Haus, am Washington Monument, hat sich eine Kundgebung von Verschwörungstheoretiker Robert F. Kennedy zusammengefunden, dem einstigen parteilosen Präsidentschaftskandidaten, der jetzt Donald Trump unterstützt. Die Wut eines der geladenen Redner, die mir schon von Weitem aus übersteuerten Lautsprechern entgegendröhnt, gilt dem politischen Establishment. Hier sitzen weiße Männer und Frauen auf Picknickdecken und Campingstühlen und hören sich gebannt die Geschichten über die eigene Unterdrückung an. Hier wehen Trump-Fahnen, hier hängt auch eine Russlandfahne und ein Hippie mit bunten Socken taumelt durch die Menge genauso wie ein Mann im Schafskostüm. Hier tragen Männer mit betroffenen Blicken T-Shirts, auf denen steht, dass man auf diejenigen hören solle, die zum Schweigen gebracht worden seien, oder dass Nachdenken Ungehorsam bedeute, oder irgendetwas mit mutigen und standhaften Bürgern.

Der 169 Meter hohe, von 50 US-Flaggen umzingelte Obelisk des Washington Monument wirkt bei dieser Veranstaltung wie das letzte Relikt aus einer Zeit, in der echte Männer noch echte Männer sein durften. Die sentimentalen Country-Lieder der geladenen Künstler verstärken die passiv-aggressive Nostalgie.

Ein paar Meter weiter unten an der Kreuzung verkauft ein Mann an einem Stand Trump-Merch, die bekannte rote Basecap mit dem Slogan vom großen Amerika und T-Shirts mit dem Attentatmotiv. Auf der anderen Seite der Straße steht das Nationale Museum für afroamerikanische Geschichte und Kultur mit seiner Fassade aus bronzefarbenem Gittergewebe. Hier hängt ein Boxermantel von Muhammad Ali und steht eine Statue der afroamerikanischen Sprinter Tommie Smith und John Carlos, die bei den Olympischen Spielen in Mexiko-Stadt 1968 ihre Fäuste zum Black-Power-Gruß erhoben hatten.

Vor dem Museum handelt ein anderer Mann mit Kappen und T-Shirts mit Motiven von Kamala Harris. Dahinter geht ein Umzug der örtlichen Latino-Communitys mit Musik und Tanzgruppen vorbei und reißt mich und andere weg von der miesen Stimmung am Obelisk.

An meinem letzten Tag besuche ich den Kapitol am Kongress der USA. Bevor ich in die beeindruckende Rotunde darf, bekomme ich in einem Kinosaal eine 15-minütige Zusammenfassung der US-Geschichte präsentiert, in der viel von Entdeckern und Helden die Rede ist, kaum von Sklaverei. Vom Wappenspruch der Vereinigten Staaten, der in diesem Film mit spektakulären Naturaufnahmen des Landes in Szene gesetzt wird, lass ich mich trotz kritischer Distanz beeindrucken: E pluribus unum – Aus vielen eins. Was für eine schöne Idee! Was für eine Utopie! Was für ein großartiges Projekt, für das es sich zu kämpfen lohnt!

Die sentimentalen Country-Lieder der geladenen Künstler verstärken die passiv-aggressive Nostalgie

Als ich später zuerst am teuren Biosupermarkt, von dessen Sortiment man in Prenzlauer Berg nur träumen kann, und dann an den Zelten der Obdachlosen auf einer Verkehrsinsel vorbeigehe, ist mir meine naive Faszination peinlich.