Vom Wahnsinn in uns allen

Sich nackt machen: Die argentinische Performancekünstlerin Marina Otero beendet mit dem Stück „Kill Me“ ihre ergreifende Trilogie über Alltag und Psyche

Szene aus „Kill me“, was hier in erster Linie den Suizid meint Foto: Sofia Alazraki

Von Sophia Zessnik

Fünf Gestalten schreiten auf die von Spots beleuchtete Bühne, im Gleichklang und zu Mireille Mathieus „Une femme amoureuse“. Ihre Silhouetten sind schemenhaft, deutlich erkennbar ist nur ein Flügel am linken Bühnenrand. Erst auf Höhe des Tasteninstruments, auf dem später eine von ihnen spielen wird, treten sie aus den Schatten, die sie gerade noch schützten. Nackt, nur mit weißen Stiefeletten, Knieschonern und rotblonden Perücken bekleidet, schreiten die fünf Frauen den Bühnenraum ab. Ihre Hände stecken in schwarzen Handschuhen, die Rechte, ans Herz geführt, hält einen Gegenstand.

„Ich denke viel über Suizid nach“, sagt eine von ihnen später, nachdem sich die nackten Körper bereits eine Weile auf der Bühne verausgabt, getanzt und gekämpft, mit ihren Pistolen – den Gegenständen in ihren Händen – um sich und aufeinander geschossen haben. Es ist die argentinische Performancekünstlerin Marina Otero, die nun auf dem Boden liegt, erschossen von ihren Alter Egos und doch noch nicht tot, weil all das Teil ihrer neuesten Performance ist.

„Kill Me“ ist der letzte Part einer Trilogie, die nach „Fuck Me“ und „Love Me“ nun zu einem Ende kommt und gleichzeitig nur eines von vielen Projekten ist, die Otero unter „Recordar para vivir“ (zu Dt.: sich erinnern, zu leben) als Aufgabe auf Lebenszeit sieht. „Das Projekt läuft, bis ich sterbe“, sagt Otero im Gespräch mit der taz.

Dass sie manchmal daran denke, dieses Sterben selbst in die Hand zu nehmen, sei nicht per se ungewöhnlich, davon ist Otero überzeugt. Viele Menschen würden diese Leere kennen, die in Momenten der Einsamkeit über einen hereinbreche und einem das Leben sinnlos erscheinen ließe. „Ich lebte dafür, aufzustehen, mit dem Auto zur Arbeit zu fahren, die Miete zu bezahlen, mit meinem Partner zu Mittag zu essen, zu streiten, mich zu versöhnen, wieder aufzustehen, wieder mit dem Auto zu fahren, ins Bett zu gehen, wieder einzuschlafen und wieder von vorne zu beginnen“, sagt Otero auf der Bühne und bringt damit die repetitive Banalität des Alltags auf den Punkt.

1984 in Buenos Aires geboren, war Otero dort jahrelang Teil der freien Theater- und Tanzszene. Von ihrer künstlerischen Arbeit leben konnte sie im stets von wirtschaftlichen Krisen gebeutelten Argentinien nicht, hielt sich stattdessen mit Workshops und Tanzunterricht über Wasser. „Ich bin eurozentrisch aufgewacht und wollte einen Kredit aufnehmen“, sagt sie auf der Bühne, kritisiert damit einen neoliberalen Lebensstil, der längst auch das Leben in Lateinamerika bestimmt, in Argentinien vom aktuellen Präsidenten und selbsternannten Hyperkapitalisten Javier Milei auf die Spitze getrieben wird.

Im Gespräch räumt Otero ein, dass sie, bevor sie 2022 nach Madrid zog, um endlich von ihrer Kunst leben zu können, eine gewisse Ignoranz gegenüber Europa empfand, wo alles besser zu funktionieren, die Menschen glücklicher zu sein schienen. Dass dem nicht so ist, hier auch Unzufriedenheit und Armut herrschen, beides ansteige und immer mehr Menschen auch psychisch erkrankten, sei ausschlaggebend für die Performance „Kill Me“ gewesen.

An deren Anfang stand Oteros eigene psychiatrische Diagnose – eine sogenannte Borderline-Persönlichkeitsstörung. 2019 erschütterte ein Bandscheibenvorfall Oteros Karriere, in den ersten beiden Parts ihrer Trilogie tanzte sie deshalb nicht selbst, arbeitete mit Videomaterial von den Proben und dirigierte Tänzer*innen, die ihre Parts übernahmen. Wenn der Körper, mit dem man arbeitet, nicht mehr funktioniert, ist das beängstigend, weiß Otero inzwischen und achtet seitdem penibel auf ihre physische Gesundheit. Dass auch die Psyche erkranken und einen arbeitsunfähig zurücklassen kann, schwingt dafür in „Kill Me“ mit, wo Oteros Körper neben dem anderer (unter anderem Ana Cotoré, Josefina Gorostiza, Myriam Henne-Adda und Natalia Lopéz Godoy) wieder selbst performt.

Sie fühle sich „sehr exponiert“, wenn sie öffentlich über ihre Diagnose spreche, sagt Otero. Nicht verwunderlich, schließlich gelten psychische Erkrankungen nach wie vor als Stigma. Dem wollte sie künstlerisch etwas entgegensetzen; tanzend, singend, schreiend. Die Nacktheit, die Performances wie „Andrea“ und „Fuck Me“ bestimmten, hat in „Kill Me“ keine sexuelle Konnotation mehr. Nackt habe sie sich durch ihre Diagnose gefühlt, deren Fremdetikettierung ihr aber auch den Mut zu einer extremen Offenheit bescherte.

„Kill Me“ wurde bereits in Spanien und Frankreich uraufgeführt und dort mit Standing Ovations belohnt

Eine Mischung aus Fiktion und Realität ist das Ergebnis von „Kill me“, das bereits in Spanien und Frankreich uraufgeführt und dort mit Standing Ovations belohnt wurde. Anfang Oktober kommt das Stück an zwei Tagen auch in Berlin am Hebbel am Ufer (HAU) auf die Bühne.

Neben die fünf Tänzerinnen, die zunächst als Klone von Oteros Alter Ego Sarah Connor dienen – nicht der deutschen Sängerin nachempfunden, sondern einer Figur aus der „Teminator“-Filmreihe –, gesellt sich mittendrin der argentinische Schauspieler Tomás Pozzi. Als eine Art trauriger Clown inszeniert, verkörpert er den polnisch-russischen Balletttänzer Vaslav Nijinsky oder viel mehr dessen durch eine Schizophrenie ausgelösten Wahnsinn.

Irgendwann fallen auch die letzten Hüllen auf der Bühne, setzen die Darstellenden ihre Perücken ab, erzählen mit Worten, Gesang, aber vor allem mit ihren Körpern von dem Wahnsinn, der sich in uns allen verbirgt. Ihr Ziel sei es gewesen, diesen Wahnsinn aufzudecken, damit sich die Menschen damit identifizieren können, sagt Otero. „Denn wer habe keine schwierigen Zeiten, schlafe schlecht, nehme Medikamente oder kompensiere auf andere Art, um mit dem Leben zurechtzukommen?“

Marina Otero: „Kill Me“. Es ist am 3. und 4. Oktober im Berliner Hebbel am Ufer (HAU) zu sehen