Der Kampf auf den Straßen

Einen Tag vor dem Jahrestag des 7. Oktober demonstrieren Menschen in deutschen Großstädten für ihre Sichtweisen auf den Nahostkonflikt. Nicht immer, ohne unterkomplex zu bleiben

Aus Berlin Frederik Eikmanns

Es gehört schon was dazu, am 6. Oktober zuerst von israelischem „Siedlerkolonialismus“ zu sprechen und dann in ein Mikrofon zu brüllen: „Wir feiern die Gegenwehr.“ Doch Menschen, die sich am Kottbusser Tor in Berlin versammelt haben, jubeln dem Mann auf dem Lautsprecherwagen begeistert zu – auch wenn den meisten klar sein dürfte, dass mit „Gegenwehr“ der Hamas-Terror gemeint ist, der sich heute jährt.

Unter dem Motto „Gegen Genozid in Gaza“ demonstrierten am Sonntag etwa 1.200 Personen gegen Israels Vorgehen in Gaza und im Libanon – freilich ohne dabei die Komplexität der Lage zu berücksichtigen. „Leave Iran Alone“ war auf einem Plakat zu lesen, auf Deutsch: „Lasst den Iran in Ruhe“. Als hätte das islamistische Regime in Teheran nicht erst vor wenigen Tagen Hunderte ballistische Raketen auf Israel abgefeuert.

So war die Demonstration in Berlin ziemlich genau das, wovor viele Po­li­ti­ke­r*in­nen wenige Stunden zuvor noch gewarnt hatten. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) etwa hatte in seinem Podcast am Sonntag gesagt: „Antisemitismus und blinden Israel-Hass werden wir niemals hinnehmen.“ Zwar verstehe er es durchaus, wenn Menschen ihre Betroffenheit über die Lage in Gaza oder dem Libanon ausdrücken wollten. Klar sei aber: „Den Jüdinnen und Juden hier in Deutschland gilt die volle Solidarität unseres Staates – und die Solidarität aller Anständigen in diesem Land.“

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock schrieb in einem Gastbeitrag in der Bild am Sonntag an „unsere israelischen Freundinnen und Freunde“, mit der Botschaft: „Wir stehen an Eurer Seite. Eure Sicherheit ist Teil unserer Staatsräson.“ Selbstverständlich habe Israel das Recht, sich gegen die Angriffe der Islamisten von Hamas und Hisbollah zur Wehr zu setzen. Zur Situation in Deutschland schrieb Baerbock: „Es beschämt mich, dass seitdem Jüdinnen und Juden sich auch bei uns unsicherer fühlen, antisemitische Angriffe in unserem Land zugenommen haben, dass Männer Angst haben, mit Kippa über die Straße zu gehen, und Kinder, in der U-Bahn Hebräisch zu sprechen.“ Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sagte am Sonntag: „Der Hass, der in einem von vielen nicht mehr für möglich gehaltenen Ausmaß in den letzten Monaten Jüdinnen und Juden entgegengeschlagen ist, beschämt mich zutiefst.“

Am Sonntag fanden aber auch Veranstaltungen statt, die explizit der Opfer des 7. Oktober gedachten. Bei der Aktion „Run for their Lifes“ in München, die auf die Geiseln in der Gewalt der Hamas aufmerksam macht, sagte der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster: „So wie sich Israel und seine Menschen gegen diesen Terror zur Wehr setzen, hat unser aller Bewunderung verdient.“ Gleichzeitig betonte Schuster aber auch: „Juden und Palästinenser sind nicht nur Nachbarn im Nahen Osten, sie sind es auch in deutschen Städten.“ Es gelte: „Zu einem Zusammenleben gibt es keine Alternative.“ An die Mehrheitsgesellschaft gewandt sagte Schuster: „Wir brauchen sichtbare und nachhaltige Zivilcourage!“

Und auch in Berlin blieb die einseitige Kritik an Israel nicht unwidersprochen. In Mitte demonstrierten Hunderte unter dem Motto „Gemeinsam gegen das Verbrechen der Hamas an Israelis und Palästinensern“. Ilei, der dort mitdemonstrierte, sagte der taz: „Die israelischen Geiseln müssen endlich freikommen.“ Zum Krieg in Gaza sagt er: „Es gab keinen anderen Weg für das israelische Militär“. Er demonstriere aber für die Rechte aller Menschen im Nahen Osten. „Unter den islamistischen Regimes leidet die Bevölkerung in Gaza, Libanon und Iran selbst am meisten.“